VON SAN JUAN DE LA PEÑA
I. Die Schale und der Stein
UM das Jahr 1180 wurde der europäischen Menschheit in Form von dichterischen
Bildern, die stark auf die Gemütskräfte wirken, eine Art Widerspiegelung
des Gralsgeschehens übergeben.3 Damals faßte Chrestien de Troyes die Geschichte von »Perceval«
in Reime, und Robert de Boron, wahrscheinlich ein Landadliger
aus Burgund, schrieb die Versdichtung »Le Roman de l'Estoire dou
Graal«. Während Chrestien vom Gral als einem goldgewirkten Gefäß
(li graaus ... de fin or esmeré estoit) erzählte, ohne seine Herkunft näher zu bestimmen, wußte Robert
als erster von der Geschichte des Grals und seiner Diener zu berichten:
Der Gral sei das Gefäß (el vaissel), mit dem Christus Jesus das Abendmahl begangen und das Sein Blut
am Kreuz auf Golgatha empfangen habe. Joseph von Arimathia habe
dieses Gefäß schließlich nach Europa »in die weiten Täler von
Avalon« (vers Occident es Vaus d'Avaron) bringen lassen, in den Südwesten Britanniens, wo eine Tafelrunde
gestiftet wurde, die sich dem Dienst am Gral weihte.4 Die früheste bekannte geschichtliche Erwähnung einer Schale mit
dem heiligen Blut des Erlösers findet sich in den Archiven des
Klosters S. Juan de la Peña. 1 Juan Briz Martínez, »Historia de la fundación y antigüedades de
San Juan de la Peña«, Zaragoza 1620 [Bayerische Staatsbibliothek
München, Sign.: 2 H.mon. 24m]. 3 So Rudolf Steiner am 25. 3. 1913 (GA 145). 4 Vgl. Robert de Boron, »Die Geschichte vom Heiligen Gral«, übers.
v. Konrad Sandkühler, 3. Aufl. Stuttgart 1979. 5 Zit. nach Juan Angel Oñate Ojeda, »El Santo Grial. El Santo Cáliz
de la Cena. Su historia, su culto, sus destinos«, Valencia 1952,
3. Aufl. 1990, S. 43. Vgl. André de Mandach, »Le Roman du Graal
originaire. I: Sur les traces du modèle commun «en code transpyrénéen»
de Chrétien de Troyes et Wolfram von Eschenbach«, Göppingen 1992,
S. 43. En un arca de marfil está el Cáliz en que Cristo Nuestro Senor
consagró su Sangre, el cual envió San Lorenzo a su patria Huesca Ein Jahr später, im November 1135, wird in einer Schenkungsurkunde,
die der frisch gekrönte König von Aragón, Ramiro II. »der Mönch«,
zugunsten des Klosters von S. Juan erließ, derselbe »Kelch aus
Edelstein« (ex lapide pretioso) ausdrücklich erwähnt.5 zur Vergrößerung anklicken
(»in einem Schrein aus Elfenbein befindet sich der Kelch, in welchem
Christus, unser Herr, Sein Blut geheiligt hat; der hl. Laurentius
übersandte ihn in seine Heimat, nach Huesca«).
Die Kelchschale
von San Juan
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Schenkung von Ramiro II. vom November 1135 |
Das Gefäß, das sich heute in der Capilla del Santo Cáliz der Kathedrale von Valencia befindet, besteht aus einer aus Achat
gearbeiteten Schale, eingefaßt in eine goldene, mit Perlen, Smaragden
und Rubinen verzierte Halterung, die auf einem Fuß aus Onyx ruht.
Der rötlich-golden schimmernde Achat des oberen und eigentlichen
Teil des Gefäßes, der Kelchschale, ist ein einziger, edel strukturierter
Stein orientalischer Herkunft. Die Untersuchungen, die der Archäologe
und Kunsthistoriker Antonio Beltrán Ende der 50er Jahre durchführte,
haben ergeben, daß der obere und eigentliche Teil des Kelches,
die Schale, wahrscheinlich zwischen dem 4. Jh. v. und dem 1. Jh.
n. Chr. irgendwo im Nahen Osten - in Ostägypten, Palästina oder
Syrien - hergestellt worden ist. Der Fuß sei ursprünglich ein
eigenes Gefäß ägyptischer Herkunft gewesen und sei im 10. oder
11. Jahrhundert mit der Schale verbunden worden. Die heutige Gestalt
des Gefäßes läßt sich erstmals im Jahr 1399 dokumentarisch belegen.6
Von Briz Martínez wurden die verschiedenen mittelalterlichen Überlieferungen im 17. Jahrhundert zusammengefaßt: Dieser Kelch habe auf Golgatha das vom Kreuz herabfließende Blut Jesu aufgenommen; er sei in der Folge aus Jerusalem nach Rom gelangt. Während der Christenverfolgungen unter Kaiser Valerian habe der Bischof von Rom, Sixtus II., das Gefäß im Jahr 257/58 seinem Diakon, dem hl. Laurentius anvertraut, der aus der Stadt Huesca in Aragón stammte. Papst Sixtus, ein gebürtiger Athener, unterhielt Kontakte mit Origenes und galt als einer der letzten Gnostiker; Raffael hat ihn auf seinem Gemälde der »Sixtinischen Madonna« verewigt. Laurentius wiederum fand zwar wenig später auf dem Rost den Märtyrertod, doch zuvor sei es ihm gelungen, den Kelch vor dem Zugriff der Römer in Sicherheit zu bringen und in seine iberische Heimat zu schaffen.7 Auf diese Weise blieb das Gefäß während der gesamten Herrschaft der Westgoten über die iberische Halbinsel in Huesca. |
6 Antonio Beltrán Martínez, »Estudio sobre el santo Cáliz de la
Catedral de Valencia«, Valencia 1960, 2. Aufl. 1984.
7 Hierüber schon bei Walter Johannes Stein, »Weltgeschichte im Lichte des Heiligen Gral. Das neunte Jahrhundert«, 3. Aufl. Stuttgart 1977, S. 416ff. |
(links) Das Tal von Borau. Aufbewahrungsort des Kelches vom 8.
bis 10. Jh. (Aragón) |
Als die Eroberung von Huesca durch die Araber im Jahr 716 unmittelbar
bevorstand, brachte der dortige Bischof das Gefäß aus der Stadt
in die entlegenen Pyrenäentäler von Hoch-Aragón in Sicherheit.
Mehr als drei Jahrhunderte lang hüteten die Mönche der westgotischen
Klöster von San Pedro de Sasave und Santa María de Siresa die
kostbare Reliquie, bis sie 1063 in die neue aragónische Königsresidenz
nach Jaca gelangte. Tatsächlich stößt man in der um 1060/70 entstandenen
Kathedrale von Jaca auf ein Kapitell, auf dem das Martyrium von
Sixtus II. dargestellt ist - ein im Mittelalter äußerst selten
anzutreffendes ikonographisches Motiv. Auf einer Seite des Kapitells
ist der Papst gemeinsam mit dem hl. Laurentius zu erkennen.8
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8 Barcelona, Archiv Corona de Aragón, Colecc. Martín el Humano, Pergam. 136; zit. nach Hans-Wilhelm Schäfer, »Kelch und Stein. Untersuchungen zum Werk Wolframs von Eschenbach«, Frankfurt/M.-Bern 1983, S. 117f. |
(links) Die Sierra de la Peña, in der das Kloster liegt (zur Vergrößerung anklicken / click to enlarge) |
Als sich Sancho, der Bischof von Jaca und Huesca, 1076 nach San
Juan de la Peña zurückzog, überführte er die Schale in das Höhlenkloster,
wo sie bis zum Jahr 1399 verwahrt wurde. Im selben Jahr erwarb
der König über Aragón und Katalonien, Martín »el Humano« (»der Menschliche«, 1399-1410), anläßlich seiner Thronbesteigung
das Gefäß; in der zu diesem Zweck ausgestellten Urkunde heißt
es, daß der König
»sehr wünschte und begehrte, in seiner Kapelle jenen steinernen Kelch zu haben, mit welchem unser Herr Jesus Christus in Seinem heiligen Abendmahl Sein allerkostbarstes Blut weihte.« König Martín ließ es zunächst in seinen Palast Aljafería nach Zaragoza und später in das Schloß von Barcelona bringen. Von dort gelangte es in den Königspalast von Valencia, um endlich 1437 in der »Kapelle des hl. Kelchs« der Kathedrale von Valencia den vorerst letzten Aufenthaltsort zu finden.9 Allerdings wäre es völlig verfehlt, diese Schale mit dem »Gral« identifizieren zu wollen, wie das manche moderne Autoren tun, - auch wenn sie tatsächlich aus dem Nahen Osten stammen sollte. Der »Gral« ist kein materieller Gegenstand. Doch es ist von symptomatischer Bedeutung, daß die Legenden einen Zusammenhang mit dem Gefäß, welches das Heilige Blut enthielt, unmißverständlich herzustellen suchen. So wird hinter der Geschichte des Kelchs das Wirken einer geistigen Strömung erahnbar, die mit den historischen Repräsentanten der Gralsströmung eng verbunden ist. Dies wird noch deutlicher werden, wenn man die übrigen mit S. Juan de la Peña verknüpften Motive betrachtet.
Seit dem frühen 8. Jahrhundert suchten Christen am Oberlauf des Río Aragón Zuflucht vor den Eroberungszügen der Araber. Die Hochebene von Jaca und die im Norden angrenzenden Pyrenäentäler wurden damals zur Wiege der Grafschaft Aragón (Aragonien), die binnen siebenhundet Jahre zu einem mächtigen Königreich heranwachsen sollte: Im 15. Jahrhundert erstreckte sich das Hoheitsgebiet der Könige von Aragón-Katalonien von Jaca über Barcelona und die Balearen bis nach Sizilien und Neapel. Doch das lag um 720 noch in ferner Zukunft. Damals herrschten über die lokale Bevölkerung, meist Kelto-Iberer und Basken, westgotische Adlige. Das Erbe des arianischen Westgotenreiches behauptete sich am Südhang der Pyrenäen am zähesten. Bis in das 11. Jahrhundert blieben die gotische Liturgie und der gotische Rechtskodex Liber Iudicum von 654 in Gebrauch - auch die Einbeziehung der südlichen Pyrenäenregion in das fränkische Markensystem konnte daran nichts ändern. Doch war die Bewahrung der lokalen Eigenständigkeit nicht gleichbedeutend mit kultureller Isolation. Die Pyrenäen hatten für den Austausch von Menschen und Einflüssen niemals ein Hindernis dargestellt - im Gegenteil war der Pyrenäenraum seit jeher ein bevorzugtes Durchzugsgebiet, ein wichtige Zwischenetappe auf den Kultur- und Handelswegen zwischen dem Vorderen Orient und den britischen Inseln. Archäologische Ausgrabungen legten Spuren von prähistorischen und antiken Kolonisten frei, die aus so weit entfernten Landstrichen wie Griechenland, dem Kaukasus, Syrien, Phönizien, Palästina, Nordafrika und Irland in die Pyrenäen gelangt waren. Beispielsweise trugen die auffallend gutaussehenden Bewohner des kleinen und entlegenen Tals von Bethmale im Couserans (Dépt. Ariège) bis in unsere Tage eine Tracht, die jener auf dem Peloponnes in frappierender Weise ähnelte. Die örtliche Überlieferung gibt für dieses Phänomen die Erklärung, daß in Urzeiten ein gewisser Soulan eine griechische Kolonie in Irland begründet habe; während des langen Wanderungszugs sei ein Teil der Kolonisten im Tal von Bethmale zurückgeblieben.10 Auch umgekehrt waren Kelten aus Irland in Nordspanien keine Seltenheit. Viele Mönche überquerten seit dem 6. Jahrhundert den Atlantik, um sich in Klöstern wie Bretoña in Galizien (572 trug der dortige Abt-Bischof den gaelischen Namen Mailoc), San Miguel de Eyré (St. Michael von Eire = Irland) in Lugo, Santiago del Temple de Bembrive in Pontevedra und San Salvador de Leyre (Hl. Erlöser von Eire) an der navarrenisch-aragónischen Grenze niederzulassen. Im 8. Jahrhundert n. Chr. hatten die regelmäßigen Überfälle der Mauren, die von ihren Garnisonen in Tudela, Zaragoza oder Huesca in die Pyrenäen vorstießen, dazu geführt, daß viele Christen nach Norden flüchteten; an vielen Stellen entvölkerte sich das südliche Vorland der Pyrenäen und diente in der Folge »den Hirschen, den Wildeseln und anderen wilden Tieren als Weideland«, wie es in einer katalanischen Quelle des 10. Jahrhunderts heißt.11 Zurück blieben Menschen, die gerade die Einsamkeit suchten, um ein intensives geistiges Leben pflegen zu können. Einer der Orte, wo sich damals ein herausragendes geistiges Zentrum bildete, war die Einsiedelei auf dem Monte Pano. Über ihre Urspünge erzählt die Legende der zwei Brüder Voto und Felix: Der aus Zaragoza stammende Ritter Voto war sehr der Jagd zugetan. Eines Tages, es wird um das Jahr 720 gewesen sein, verfolgte er zu Pferd einen großen Hirschen und geriet dabei in den Wald der Sierra auf dem Monte Pano. Plötzlich öffnete sich vor Pferd und Reiter, die in vollem Galopp dahinjagten, ein Abgrund - eine Felswand, die jäh in die Tiefe abfiel. In seiner Not rief Voto den hl. Johannes den Täufer um Beistand an. Da verharrte das Pferd wie durch ein Wunder von einem Augenblick auf dem anderen bewegungslos am Rande des Abgrunds. Nun wollte Voto die Felswand näher erkunden und bemerkte zwischen dichtem Buschwerk verborgen eine Höhle. Er bahnte sich mühsam einen Weg und drang in die Höhle ein, die schon lange verlassen schien. Im Inneren war eine Kapelle errichtet. Darin entsprang aus dem Fels ein kristallklarer Quell; daneben ruhte auf dem Altar, der Johannes dem Täufer geweiht war, der unverweste Leib eines alten Einsiedlers, Juan (Johannes) de Atarés. In den Händen hielt dieser einen weißen Stein in Form eines Dreiecks mit der eingravierten Inschrift: Ego Ioannes Primus in hoc loco, heremita, qui ob amorem dei, spreto
hoc seculo presenti, vt potui, hãc Ecclesiam fabricaui, in honorem
sancti Ioannis Baptiste, & hic, requiesco, Amen.12 |
9 Vgl. Text und Tafelabbildung in Angel Canellas, Angel San Vincente,
»Aragón roman«, La-Pierre-qui-vire 1971, S. 160, Abb. 41.
10 Vgl. Bernard Duhourcau, »Guide des Pyrénées mystérieuses«, Paris 1978, S. 263ff. 11 Zit. nach François Taillefer, »Les Pyrénées. De la montagne à l'homme«, Toulouse 1974, S. 111. 12 Briz Martínez, »Historia«, S. 37f. |
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Die Legende deutet in ihren Bildern also auf den Bau eines »Kirchen-Tempels«
und auf ein Dreieck, das an die Vollendung des Baus erinnert.
Juan de Atarés hat als erster diesen »Tempel« errichtet. Es scheint,
als ob hier eine Anknüpfung an die Legende vom Salomonischen Tempel
und dessen Baumeister Hiram versucht wird. Hiram stammte bekanntlich
aus dem Geschlecht des Tubal-Kain, »von dem sind hergekommen alle
Erz- und Eisenschmiede« (Gen. 4,22). Dieser hatte das Geheimnis
der Metallverarbeitung und des Handwerks von seinem Ahnen Kain
empfangen. Tatsächlich bedeutet der Name »Kain« (Qayin) im Hebräischen sowohl »Lanze, Speer« als auch »Metall schmieden«
(qyn). Als Abkömmlinge des Tubal-Geschlechts galten die »Iberer« des
Kaukasus (die Vorfahren der heutigen Georgier) und die der Pyrenäen.
Das Mädchen Pyrene, die dem Mythos zufolge den Pyrenäen ihren
Namen gab, ist in der Volksüberlieferung eine Tochter Tubals.
Auch in der »Chronik von S. Juan de la Peña« aus dem 12. Jahrhundert
scheint Tubal als erster Bewohner der iberischen Halbinsel auf:
»(...) der erste Mensch, der sich in Spanien niederließ, wurde Tubal genannt; von ihm stammt das iberische Volk ab. Isidor [von Sevilla] und [der Kirchenvater] Hieronymus bezeugen dies. Vom Namen Tubal wurden sie »Centubalen« genannt.«14 In der sogenannten »Tempel-Legende« wird erzählt: Der Kainssohn Hiram (Adoniram) soll für König Salomon den Tempel des Herrn errichten. Kurz vor Vollendung des Baus wird Hirams Meisterstück, das Eherne Meer, von seinen Gehilfen aus Eifersucht zerstört. Verzweifelt stürzt sich Hiram in das auflodernde Feuer und dringt auf diese Weise bis zum Mittelpunkt der Erde vor, wo ihm sein Ahne Tubal-Kain begegnet. Hiram erfährt von den weisheitsvollen »Büchern des Tau«. Aus den Händen Tubals empfängt er auch ein Goldenes Dreieck und einen (T-förmigen) Hammer. Damit ausgerüstet, kehrt Hiram zurück und stellt den Guß des Ehernen Meers wieder her. Kurz vor seiner Ermordung durch die verräterischen Gesellen wirft er das Goldene Dreieck, auf dem das Meisterwort eingraviert ist, in einen tiefen Brunnen. Nur derjenige, welcher in der Lage ist, in sich seinem höheren Selbst einen Tempel zu errichten, wird es dort im Allerheiligsten am Altar finden.15 Einen solchen »Tempel« hatte Juan de Atarés in der Einsamkeit vollendet - äußerlich in Gestalt der Kapelle des Täufers, der einst in der Wüsteneinsamkeit »dem Herrn einen Weg bereitete« (Mk. 1,3), innerlich durch die Geburt seines höheren Selbst. Die Höhle von S. Juan wird von der Legende somit als Ort geschildert, dessen Bewohner Vertreter einer geistigen Strömung waren, die das Mysterium der Verwandlung des Menschen besonders pflegten.16 Im Anschluß an diese Auffindung erzählt die Legende: Aufgrund seines Erlebnisses fühlte Voto eine innere Berufung; er kehrte nach Zaragoza zurück, verkaufte seine gesamte Habe und zog mit seinem Bruder Felix in die Höhle des Juan de Atarés auf dem Monte Pano, wo beide bis zu ihrem Ableben um 754 ein Einsiedlerdasein führten und von Engeln besucht wurden. Auf ihren Gräbern erschien ein himmlisches Licht und verweilte lange. »Nach dem Tod dieser heiligen Männer kamen zwei andere Männer des rechtschaffenen Lebens, und der eine hieß Benedictus und der andere Marcellus. Die beiden folgten den Fußspuren ihrer Vorgänger und lebten bis zu ihrem Lebensende in vorbildlicher Weise, und dienten Gott an diesem Ort.«17 Unter Benedictus und Marcellus entstand auf diese Weise in der Eremitage von S. Juan de la Peña im Laufe der ersten Jahrzehnte des 9. Jahrhunderts eine kleine Gemeinschaft, eine Art Laienbruderschaft. |
14 »The Chronicle of San Juan de la Peña. A Fourteenth-Century Official
History of the Crown of Aragón«, übers. u. hrsg. v. Lynn H. Nelson.
Philadelphia 1991, S. 1. Vgl. auch Diether Rudloff, »Romanisches
Katalonien. Kultur - Kunst - Geistesgeschichte«, Stuttgart 1980,
S. 75-80.
15 Vgl. die Nacherzählung der Legende durch Gérard de Nerval, »Die Tempellegende. Die Geschichte der Königin aus dem Morgenland und von Sulaiman, dem Fürsten der Genien«, 2. Aufl. Stuttgart 1982. Hierzu der Vortrag Rudolf Steiners vom 4. 11. 1904 (GA 93); ferner GA 93, S. 278f. und GA 265, S. 404f. 16 Rudolf Steiner hat auch auf den Zusammenhang mit der mittelalterlichen »Kreuzholz-Legende« hingewiesen: Drei Samen vom Lebensbaum - die Keime zu den Wesensgliedern des höheren Menschen - werden dem sterbenden Adam von Seth in den Mund gelegt. Aus den Samen entsprießen drei Bäume, die zu einem einzigen zusammenwachsen. Dieser Baum wird gefällt, beim salomonischen Tempelbau verworfen und dient schließlich als Holz für das Kreuz auf Golgatha. Siehe den Vortrag vom 29. 5. 1905 (GA 93). Vgl. auch Markus Osterrieder, »Sonnenkreuz und Lebensbaum. Irland, der Schwarzmeer-Raum und die Christianisierung der europäischen Mitte«, Stuttgart 1995, S. 200f. 17 »The Chronicle of San Juan de la Peña«, S. 6. |
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Die Entdeckung des unversehrten Leichnams von Juan de Atarés wurde
vom Verfasser der legendenhaften Überlieferung in dieselbe Zeit
verlegt, in der auch die Überführung der Kelchschale aus Huesca
in die Pyrenäen von Hoch-Aragón stattfand, nämlich in die Jahre
716-20. Diese Jahresangabe könnte recht willkürlich anmuten, wenn
es nicht noch andere Überlieferungen gäbe, die ebenfalls die erste
Hälfte des 8. Jahrhunderts als bedeutungsvollen Zeitraum für das
Gralsgeschehen hervorheben. So hielt der Mönch Helinandus (um 1160-1229) aus dem Zisterzienserkloster Froidmont (Dépt.
Oise, 20 km südöstlich von Beauvais) in seiner vor 1204 beendeten
Chronik fest:
»718. (...) Damals wurde einem gewissen Einsiedler in Britannien (in Britannia) durch den Engel eine wundersame Vision offenbart, nämlich über den hl. Joseph [von Arimathia], den Ratsherrn, welcher den Leib des Herrn vom Kreuz abnahm, sowie über jene Schale oder Schüssel, in welcher der Herr mit Seinen Jüngern das Abendmahl hielt. Hierüber schrieb besagter Einsiedler ein Buch, genannt »Geschichte von der Stufenfolge« (Historia de gradali).« Helinandus erläutert im folgenden, daß das Wort gradalis oder gradale im Gallischen für ein großes und recht tiefes Gefäß gebraucht werde, worin man die Speise in stufenweise geschichteten Lagen (gradatim) anrichtet; in gewöhnlicher Sprache nenne man dieses aus kostbarem Material gefertigte Gefäß »Gral« (graalz). Das »Buch« des Einsiedlers scheint von einzelnen Menschen durch die Jahrhunderte behütet worden zu sein, und tatsächlich behauptet Helinandus, es gebe Zeitgenossen, die im Besitz dieses »Buches« seien: »Diese Geschichte konnte ich nicht in lateinischer Schrift finden, denn gewisse vornehme Personen besitzen sie nur in gallischer Schrift, doch ist es nicht leicht, so heißt es, sie in vollständiger Fassung zu finden.«18 Aber was ist eigentlich der Inhalt des sogenannten »Buches«, das wohl in der geistigen Welt zu suchen ist? In ihm ist der Stammbaum des Gralsgeschlechts »aufgezeichnet«. Wie eine Ergänzung zum kargen Chronikeintrag von Helinandus mutet die Einleitung zur Estoire del Saint Graal im sogenannten »Lancelot-Gral-« oder »Vulgata-Zyklus« an, dessen Abfassung um 1215 begonnen wurde. Dort wird ebenfalls von einem Einsiedler berichtet, dem in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag des Jahres 717 nach der Passion Jesu Christi (also etwa um 750) in einer wilden und verlassenen Gegend der bloie Bretaigne in einer Vision der Auferstandene erschien. Dieser überreichte ihm ein kleines »Büchlein«, nicht länger und breiter als die innere Fläche einer Menschenhand, das den Stammbaum des Gralsgeschlechts enthielt, der bis auf Joseph von Arimathia zurückreichte.19 Es fand bereits Erwähnung, daß die Gralssage um 1180 »exoterisch« gemacht wurde. Chrestien de Troyes schrieb damals sein Epos »Perceval« par lo commandement lo comte (»auf Auftrag des Grafen hin«): Ce est li contes do greal / Don li cuens li bailla lo livre (»Das ist die Erzählung vom Gral, wovon ihm [Chrestien] der Graf das Buch übergab«).20 Besagter »Meister« Chrestiens war der Graf von Flandern und damalige Regent von Frankreich, Philipp von Elsaß (gest. 1191), dessen Vater Dietrich von Elsaß 1146 eine Reliquie vom Blut Jesu aus dem Heiligen Land nach Brügge gebracht hatte. Das Zisterzienserkloster von Froidmont, dem Helinandus als Mönch angehörte, lag im Grenzbereich der nordfranzösischen Grafschaften von Vermandois, Valois und Champagne. Seit dem Jahr 1167 regierte Philipp als Graf über Vermandois und Valois; 1182 warb er um die Hand von Marie de Champagne, la grande dame der nordfranzösischen Trouvères, der Chrestien de Troyes sein Epos vom Chevalier à la Charette widmete. Marie war die Witwe des Grafen von Champagne, Heinrich I. des Freigiebigen (gest. 1181); dieser war ein enger Freund des an der Schule von Chartres wirkenden Gelehrten Johannes von Salisbury (ca. 1115-1180) sowie ein Förderer der Tempelritter.21 In erster Ehe hatte sich Philipp mit Elisabeth von Crépy verbunden, der Nichte des Königs von Aragón Ramiro II.; somit unterhielt auch Philipp familiäre Beziehungen in den Pyrenäenraum. Vor dem Hintergrund dieses verwandschaftlichen Geflechts, das von Nordspanien über Occitanien nach Nordfrankreich, Flandern und England reicht, werden also die ersten Gralsepen verfaßt. Hier wirkt noch jener Impuls nach, den Walter Johannes Stein mit den Worten charakterisiert hat: »Das Gralsgeschlecht ist nun dasjenige Geschlecht, das seinen Familien- und Blutszusammenhang und die Kräfte der Vererbung in den Dienst des Kosmopolitischen stellt.«22 |
18 Migne, »Patrologia Latina«, Bd. 212, Sp. 814f.
19 »Das Buch vom Gral. Eine Einweihung aus der Zeit des 8. Jahrhunderts n. Chr.«, übers. v. Wilhelm Rath, 2. Aufl. Stuttgart 1980. Wolfram schrieb zur selben Zeit, sein Gewährsmann und Meister Kyôt der Provenzâl habe nach dem Studium der lande chrônicâ die wahre maere von den Hütern des Grals schließlich ze Anschouwe, in höherer »Schau« gefunden (»Parzival«, Vers 455,9-12). 20 Chrétien de Troyes, »Le Conte du Graal ou le Roman de Perceval«, hrsg. v. Charles Méla, Paris 1990, Vers 61ff., S. 30. 21 Marie wiederum entstammte der ersten Ehe von Eleonore von Aquitanien mit Ludwig VII., König von Frankreich. Maries Sohn Thibaud III., seit 1198 Graf von Champagne und Brie, heiratete 1199 Prinzessin Blanca von Navarra (gest. 1229), die Schwägerin von Richard Löwenherz, Sohn aus der zweiten Ehe der Aquitanierin Eleonore mit dem englischen König Heinrich II. Plantagenêt, einem Vetter Philipps von Elsaß. 22 Stein, »Weltgeschichte im Lichte des Heiligen Gral«, S. 278. |
Die Kelchschale von San Juan, heute in der Kathedrale von Valencia |