Zarathuštra bei den Slaven:
Iranische Grundlagen des slavischen Geisteslebens

 

 

Die Kultur des slavischen Ostens
und der Schatten von Turan

 

I. Teil

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DER Kommunismus hat in mehr als 70jähriger Herrschaft auf dem Boden Rußlands bzw. 40jähriger Herrschaft in Ostmittel- und Südosteuropa ein geistiges, kulturelles, soziales, wirtschaftliches und ökologisches Trümmerfeld hinterlassen. Die Hoffnung auf rasche wirtschaftliche Gesundung ist vor allem auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion verflogen. Selbst in Ländern, die sich laut Statistik wirtschaftlich zu festigen beginnen, wie Polen und Ungarn, durchleben die Gesellschaften einen moralischen Krankheitsprozeß, der an den Symptomen von Resignation, Zynismus, Demoralisierung und generelle Orientierungslosigkeit zu erkennen ist -- seelisch-geistige Befindlichkeiten, die an die Situation der Weimarer Republik am Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erinnern. Дико поле

Auf der anderen Seite regt sich in allen ehemals staatssozialistischen Ländern das Interesse für bestimmte Themen und Fragen, die eine große Offenheit für geistige Anschauung erkennen lassen. Hierin liegt eine Hoffnung, aber auch eine Gefahr. Eines dieser Themen ist das 'iranisch-persische Erbe' des slavischen, speziell jedoch des ostslavischen (d.h. russischen, ukrainischen und weißrussischen) Geisteslebens. Es geht auf die frühe Beeinflussung der slavischen Kulturen durch die iranische Zarathustra-Religion und den christlichen Manichäismus zurück. Die eigentliche Bedeutung und der tiefere Sinn dieser Beeinflussung ist bislang noch gar nicht in voller Dimension hervorgetreten, denn es sind damit Anschauungen und Eigenschaften verbunden, die erst in Zukunft ihre fruchtbare, kulturaufbauende Qualität entfalten können, sofern sie von den Menschen vollbewußt in der richtigen Weise ergriffen werden. Andererseits verbirgt sich gerade hinter diesem Einfluß auch ein ungeheueres Gefahrenpotential, wenn das 'iranisch-persische' Element in seinem ureigenen geistigen Gehalt verzerrt, umgebogen und vermaterialisiert wird. Dies ist zum Teil in der Sowjetunion bereits geschehen.

In den letzten Jahrzehnten sind mehrere Arbeiten erschienen, die aufzuzeigen suchten, in welchem Maß die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, zuvorderst der Bolschewismus und der Nationalsozialismus, aus Quellen schöpften, die einerseits auf die Gnosis und andererseits auf Religionen zurückzuführen sind, in denen eine dualistische Licht/Dunkel-Spannung sowie die Erwartung einer apokalyptischen Endzeit im Vordergrund stehen.[1] Tatsächlich läßt sich nachweisen, daß beide Totalitarismen in Sprache und Kult zahlreiche Versatzstücke aus verschiedenen religiösen und okkulten Vorstellungswelten übernommen haben, vor allem jedoch aus dem apokalyptischen Christentum. Gerade durch diesen Raub von Ritus und Wort -- mittels Verkehrung der Versatzstücke in ihr inhaltliches Gegenteil -- konnten sie die Menschen in ihren Bann ziehen und zu einer gefügigen Masse verschmelzen.

Dennoch kann hier nicht einfach eine kausale Linie gezogen werden. Gerade an diesem Vorgang wird ein Grundphänomen des vergangenen Jahrhunderts deutlich, welches in der Zukunft angesichts des sich immer stärker verbreitenden Orwellschen Newspeak noch mehr an Bedeutung gewinnen wird: Worte und Symbole können sich dem Schein nach gleichen, obwohl sich in ihnen und durch sie qualitativ völlig diametral entgegengesetzte Wesenssubstanz offenbart. Der größte aller russischen Heiligen, Serafim von Sarov (1759-1833), sprach oftmals von dem Novyj Celovek, dem Neuen Menschen oder Adam, der im Moment der Feuertaufe durch den Heiligen Geist im alten, irdischen Menschen oder Adam geboren werden kann. Wenn jedoch die Bolschewiken unaufhörlich dem Neuen Menschen und der Lichten Zukunft das Wort redeten, so sprachen sie nicht von seelisch-geistiger Verwandlung des Menschen in Hinblick auf sein höheres Wesen, sondern von dem völligen Verschmelzen des Einzelnen mit dem Willen der Partei und ihres Gehirns: V.I. Lenin. Der ehemalige Priesterseminarist Iosif Dzugasvili alias Stalin verlieh durch den Raub von kultischen Elementen aus der orthodoxen Liturgie, der Umkehrung von gnostisch-manichäischen Erlösungsvorstellungen, oder der gezielten Verwendung von pathetischen Kirchenslavismen etwa in der Verfassung der UdSSR, der kommunistischen Ideologie äußerst wirkungsvoll einen sakralen Anstrich. Die Ideologen konnten fortan über einen ganzen Kosmos von Ritualen und Symbolen auf das Unterbewußtsein der Menschen einwirken.[2] Vergleichbares läßt sich natürlich auch für den Nationalsozialismus feststellen.

Fehlt dem Menschen ein inneres Unterscheidungsvermögen für den qualitativen Unterschied der Substanz, die mitunter gleichlautenden Gedanken und Worten innewohnt, müssen furchtbarste Verirrungen eintreten, wie das 20. Jahrhundert mehrmals bewiesen hat. Die Konsequenzen dieser Verirrungen können ganze Völker geistig vernichten. Rudolf Steiner, der diese Gefahren kommen sah, mahnte deshalb wiederholt:

    "Heute, wo die faule Menschheit so oftmals sagt, wenn sie irgendwo etwas liest: Das habe ich dort und dort auch gelesen --, wo sie nur auf den Inhalt geht, heute ist die Zeit, wo die Menschheit lernen muß, daß es gar nicht mehr so sehr auf den Inhalt ankommt, sondern darauf ankommt, wer etwas sagt; daß man kennen muß den Menschen aus dem, was er sagt, weil die Worte nur Gebärden sind und man kennen muß, wer diese Gebärden macht. Das ist dasjenige, in das sich die Menschheit hineinleben muß."[3]

Der nachstehenden Betrachtung sollen sich in unregelmäßiger Folge weitere anschließen, die auf einige 'iranische' Motive im slavischen Geistesleben eingehen möchten. Auf diese Weise wird vielleicht der Hinweis von Rudolf Steiner etwas verständlicher, dem zufolge in einer zukünftigen slavischen Kultur in umgewandelter, verinnerlichter Form die Impulse der alten irano-persischen Zarathustra-Kultur neu aufleben werden.[4] Diese Motiven spielen nach Ansicht des Verfassers schon heute, im Guten wie im Problematischen, in den mehr unbewußten Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens eine bedeutende Rolle. Hierzu gehören der 'Kampf zwischen Iran und Turan', die Suche nach der entschwundenen Pravda (Wahrheit und Gerechtigkeit), die Bedeutung der 'feuchten Mutter Erde' als gefallener Licht-Schöpfung sowie ihre zukünftige Umwandlung durch den Menschen.

 

 

[1] Es seien nur herausgegriffen: Norman Cohn: Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa. 2. Aufl. Reinbek 1988; Albrecht W. Thöne: Das Licht der Arier. Licht-, Feuer- und Dunkelsymbolik des Nationalsozialismus. München 1979; Harald Strohm: Die Gnosis und der Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1997 (ein besonders übles Beispiel); Alain Besançon: Les origines intellectuelles du Lénisme. Paris 1977; Mikhail Agursky: The Third Rome. National Bolshevism in the USSR. Boulder, Col. 1987.

 

[2] Markus Osterrieder: Von der Sakralgemeinschaft zur modernen Nation. Die Entstehung eines Nationalbewußtseins unter Russen, Ukrainern, Weißruthenen im Lichte der Thesen Benedict Andersons. In: Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Hrsg. v. Eva Schmidt-Hartmann. München 1994, S. 197-232.

 

[3] Der Tod als Lebenswandlung (GA 182), 6. Oktober 1918.

 

[4] Sieh dazu etwa den Vortrag vom 30. August 1909, in: Der Orient im Lichte des Okzidents (GA 113).

 

 

Licht und Finsternis
Die parsische Religion Zarathuštras hat in allen Kulturen Osteuropas und Eurasiens tiefe Spuren hinterlassen, auch wenn die Einwirkung nicht in jedem Fall direkt, sondern oft auf recht komplizierte Art -- etwa durch Völkerwanderungen oder soziale Umschichtungen -- erfolgte. Uns soll hier der Einfluß auf das Slaventum besonders interessieren. Da viele Anschauungen des alten Iran heute nicht unbedingt gegenwärtig sind, seien einige für das Folgende wesentliche Grundzüge skizziert.

Die religiöse Überlieferung der Zarathustra-Religion geht davon aus, daß hinter dem Schleier des sichtbaren Kosmos zwei uranfängliche Prinzipien, Geist-Sphären einen Kampf um Welt und Menschen austragen: die Sphären von Licht und Finsternis stellen den Ur-Gegensatz dar, der die gesamte Weltenentwicklung durchzieht, wie es in einer der Gâthâs, der heiligen iranischen Lieder heißt:

    "(3.) Die beiden Geister im Urbeginne,
    die sich im Einweihungsschlafe als Zwillinge offenbaren,
    sie sind in Gedanke, Wort und Tat
    der Bessere und der Schlechte.
    Zwischen diesen beiden haben
    die Wahr-Sehenden recht geschieden, die Trug-Sehenden nicht.

    (4.) Und als diese zwei Geister aufeinandertrafen,
    erschufen sie im Urbeginne Leben und Tod,
    auf daß am Ende das Schlechteste Unsein
    den Lügenknechten zufalle,
    den Wahrhaftigen jedoch Vohu Manah, Bestes Sein.

    (5.) Von diesen beiden Geistwesen
    wählte Angra Mainyu, der Lügengeist, Schlechtestes zu tun,
    der Heilwirkende Geist jedoch,
    umhüllt von den festesten Himmelssphären,
    wählte Asha, die gerechte Wahrheitsordnung."[5]

Die beiden konträren Sphären treffen innerhalb eines geistigen Zustands auf- und ineinander, der beide, Licht wie Finsternis, umschließt; dieser Zustand wird in den avestischen Quellen als "Unbegrenzte Zeit" beschrieben. In der späteren Überlieferung der medisch-chaldäischen Magier sprach man von der "Unbegrenzten Zeit" als dem Gott der Zeit und des Tierkreises Zurvân. Beide Geistwesen -- der Herr des Lichtes Ahura Mazdâ-Ôhrmazd und der Herr der Finsternis Angra Mainyu-Ahriman, sind die Schöpfer eines ihnen wesensgemäßen geistigen Kosmos -- eines lichten und eines dunklen. Als Ahriman die Schöpfung Ahura Mazdâs erblickte, wurde er von Neid nach ihr ergriffen.

    "Und Ôhrmazd verstand kraft seines Hellsehens, daß der Böse Geist (Angra Mainyu) nie von seiner Feindseligkeit ablassen würde und daß seine Feindseligkeit nur durch die Schöpfung überwunden werden könnte, und daß die Schöpfung nur durch die Zeit sich bewegen könnte, und daß, wenn Er die Zeit schaffe, die Schöpfung Ahrimans sich auch bewegen würde. Er schuf darum, weil Er keine andere Wahl hatte, die Zeit, um den Gegner zu überwinden. Und die Ursache davon ist, daß der Böse Geist nur durch Kampf überwunden werden konnte. [...] Dann schuf und machte Er aus der Unbegrenzten Zeit die Langherrschende Zeit, einige nennen sie die Begrenzte Zeit. [...] Denn die Langherrschende Zeit war das erste Geschöpf, daß Er [Ôhrmazd] hervorbrachte. Denn sie war unbegrenzt, bevor die Totalität des Ôhrmazd [mit der Dunkel-Sphäre] vermischt wurde. [...] Die Zeit ist mächtiger als die zwei Schöpfungen, als die Schöpfung von Ôhrmazd und die von Angra Mainyu. Die Zeit ist der Maßstab für Werk und Gesetz."[6]

Die Sphäre der Finsternis kann folglich nur durch Entwicklung, Bewegung besiegt werden; Bewegung bedarf aber der Zeit und des Raumes. Nur durch Evolution in Zeit und Raum wird die Überwindung des Dunklen, des Ahriman, möglich.

Ôhrmazds Schöpfung besteht zunächst in geistig-lichtem Zustand (mênôk) und geht anschließend in einen verdichteten, aber immer noch lichtdurchwirkten Zustand (gêtîk) über. Erst in dieser Periode der Langherrschenden Zeit, während des zweiten großen Weltenalters, kann Ahriman in Ôhrmazds Licht-Schöpfung eindringen und ihr seine finstere Wesenssubstanz "beimengen" und sie dadurch trüben: "Er mischte Rauch und Finsternis in sie". Innerhalb des vermischten gêtîk-Zustandes, aus dem die physikalisch-stoffliche Materie hervorgeht, die beide Sphärenqualitäten in sich trägt, befinden sich seither die Wesen, Kräfte und Geschöpfe des Lichtes und der Finsternis in andauerndem Ringen. Doch wird Ahriman im Rahmen der Weltentwicklung durch die in die Schöpfung eingebundenen Lichtkräfte letztlich bezwungen und wird dadurch unfreiwillig zur Höherentwicklung der lichten Schöpfung beitragen, die am Ende des Weltenalters "Trennung" vollendet sein wird.[7]

Der Mensch ist in diesem Kampf der Schöpfungen die eigentliche Zentralfigur, um die gerungen wird. Sein unsterblicher Licht-Wesenskern (daênâ) wurde von Ahura Mazdâ-Ôhrmazd noch im unvermischten mênôk-Zustand geschaffen. Doch indem sich der Mensch auf der Erde inkarniert, trifft er auf die Kreaturen und Kräfte des Ahriman, kann ihnen durch eigenes Verschulden verfallen und sein Wesen verdunkeln.[8] Weil Ahriman der Schöpfung Tod und Zerstörung beigemischt hat, muß auch der Mensch im irdischen Bereich (gêt?k) die Macht der Todeskräfte erfahren. Der unsterbliche Wesenskern des Menschen, die Geist-Monade (daênâ) kehrt nach dem Tode für eine gewisse Zeit in den geistigen Licht-Kosmos (mênôk) zurück[9]; anschließend verkörpert sie sich erneut auf der Erde, weil nur hier die Erfahrungen zu sammeln und Kräfte zu erringen sind, die zur Überwindung der Finsternis notwendig sind. Während des Todes und einer neuen Geburt werden die Menschen an den Gedanken, der Gesinnung und den Taten ihres vergangenen Erdenlebens gemessen, und erhalten entsprechend ihrem Eintreten für Ahura Mazdâ oder Ahriman einen Wesens-Rang in der geistigen Welt zugewiesen.

Das Bekenntnis des Menschen zu den Kräften des Lichtes, des Lebens und der Wahrheit (Ahura Mazdâ-Ôhrmazd) oder aber zu den Kräften der Finsternis, des Todes und der Lüge (Angra Mainyu-Ahriman) solle, so Zarathustra, in freier Entscheidung erfolgen; dieser Entscheidungsakt wird im Iranischen mit der Wortwurzel *var- ausgedrückt (das slavische Wort vera, 'Glaube', geht hierauf zurück). Damit der Mensch diese Wahl überhaupt treffen und sich auf diese Weise zu einem freien, in bewußter Eigenverantwortlichkeit handelnden Wesen entwickeln kann, bedurfte es der Vermischung der beiden konträren Sphären, die in ihrer Substanz gemeinsam die Grundlage der materiell-stofflichen Welt bilden und zu deren Fortbestand einander bedingen. Das Aufeinandertreffen der Kräfte von Licht und Finsternis vollzieht sich jedoch auch substanziell und moralisch in jedem inkarnierten, zu selbstverantwortlichem Bewußtsein erwachten Menschen. Die Bedeutung der individuellen Entscheidung tritt allerdings erst in Texten hervor, die relativ spät, nach dem Jahr 500 v. Chr. niedergeschrieben wurden. Sie zeigen, daß mit dem Herannahen des Mysteriums von Golgatha alte Verhältnisse, die sich zuvor im äußeren Geschehen des Kosmos darlebten, in die der Mensch schicksalhaft hineingeboren wurde, immer mehr in das Innere des Menschen hineinverlegt und damit ureigene individuelle Angelegenheit des Wachbewußtseins wurden.

 

 

 

[5] Yasna XXX:3-5. Wiedergabe aller Gâthâ-Stellen nach Vergleich der Übersetzungen von H. Lommel: Die Gâthâs des Avesta. Basel-Stuttgart 1971; Herbert Humbach: Die Gathas des Zarathushtra. 2 Bde. Heidelberg 1959; Geo Widengren: Iranische Geisteswelt. Baden-Baden 1961; Walther Hinz: Zarathushtra. Stuttgart 1961; Paul Eberhart: Das Rufen des Zarathushtra (Die Gathas des Awesta). Ein Versuch ihren Sinn zu geben. Jena 1913.

 

[6] Bundahishn, Kap. I, in: Widengren: Iranische Geisteswelt (Anm. 5), S. 62f.

 

[7] Mary Boyce: A History of Zoroastrianism. Leiden 1975-90 [= Handbuch der Orientalistik], Bd. I, S. 230f.

 

[8] Innerseelisch tritt hierbei eine Wesenheit auf, die im Altpersischen Âz genannt wird; sie ist der 'Verführerdämon', der Begierdenteufel, der das Menschenwesen in die Verkörperung und die Selbstsucht treibt.

 

[9] Nach Hadhôyt Nask II:11 tritt die Seele des Menschen unmittelbar nach dem Tod vor ihr höheres Geist-Wesen, (daênâ), welches zu ihr spricht: "Ich wahrlich bin Du, o Mensch, das gutdenkende, gutsprechende, guthandelnde, mit gutem Selbst versehene eigene Selbst Deiner eigenen Person."

 

[10] Eine zweite Traditionslinie datiert "Zaratust" "258 Jahre vor Alexander", d.h. zwischen 628 und 551 v. Chr. Der Lyder Xanthos (495-424) behauptete, "Zaratos" hätte unter der Herrschaft des Perserkönigs Kyros II. (559-529) als Lehrer der Chaldäer in Babylon gelebt, zur selben Zeit, als sich die Juden unter dem Propheten Daniel in der "babylonischen Gefangenschaft" befanden. Vgl. Franz Cumont, Joseph Bidez: Les mages hellénisés. Zoroastre, Ostanès et Hystaspe d'après la tradition grecque. Paris 1938, Nachdruck 1973. Bd. I, S. 7ff.; A.V.W. Jackson: Zoroaster. The Prophet of Ancient Iran. New York 1899, S. 150-177; Mircea Eliade: Histoire des croyances et des idées religieuses. 2. Aufl. Paris 1989, Bd. I, S. 318.

 

Iran und Turan
Ein wesentliches, neues Element der Lehre von Zarathustra bestand in der Auffassung, daß der Mensch in Besinnung auf seinen lichten Wesenskern (daênâ) verpflichtet sei, sich durch Bearbeitung der Erde und durch schöpferische Tätigkeit am Erlösungsgeschehen der Welt zu beteiligen. Die läuternde Umgestaltung der Erde im Dienst an Ahura Mazdâ-Ôhrmazd und Seiner Weltenziele stellt den eigentlichen Kampf dar, den der Mensch gegen Ahriman zu leisten imstande ist. Zarathustra lehrte, daß die bäuerliche, landwirtschaftliche Tätigkeit im weitesten Sinne einen solchen Dienst an den Lichtmächten darstelle. Jeder, der diese bäuerliche Tätigkeit zu verhindern oder zu zerstören trachte, werde hingegen zu einem Helfer von Ahriman.

Interessanterweise ist gerade in griechischen Quellen die Überlieferung enthalten, daß es im Iran mehrmals Individualitäten gab, die in der Geschichte unter dem Namen Zarathustra wirkten. So erhielt sich die Ansicht, der erste Zarathuštra (Zôroastrês) habe 6000 Jahre vor dem Tod Platons (gest. 347 v. Chr.) gelebt (so Eudoxos, Plutarch, Aristoteles, Hermodoros, Plinius d. Ältere). Andere sprachen von 6000 Jahren vor dem zweiten Feldzug des Xerxes im Jahre 480 v. Chr. (Diogenes Laertios), oder aber von 5000 Jahren vor dem Trojanischen Krieg (etwa Plutarch).[10] Dieser Ur-Zarathustra gilt jedenfalls in der parsischen Religion als der eigentliche Initiator der 'neolithischen Revolution', als Begründer der Ackerbaukultur in der Menschheitsentwicklung. In einem Hymnus wird er als "Erster Priester", "Erster Krieger", "Erster viehzüchtender Bauer" bezeichnet[11], als Begründer und Gesetzgeber aller menschlicher Verhältnisse in Religion, Recht und Wirtschaft.

In einer anderen Quelle wird die Tätigkeit des Bauerntums von Ahura Mazdâ gepriesen:

    "'O Schöpfer der Welt, Asha-Ehrwürdiger! Wer befriedigt [...] die Erde hier?' Da sprach Ahura Mazdâ: 'Wahrlich, wo man am meisten, o Spitâmân Zarathushtra, durch Ansäen anbaut Getreide und Gräser, und Gräser mit essbaren Früchten, indem man zur Wüste hin Wasser schafft.' [...] 'O Schöpfer der Welt, Asha-Ehrwürdiger! Was ist der Kern der mazdayanischen Religion?' Da sprach Ahura Mazdâ: 'Wenn man tüchtig Getreide anbaut, o Spitâmân Zarathuštra! Wer Getreide durch Aussäen anbaut, der baut Aša ['die gerechte Wahrheits-Ordnung'] an, der führt die mazdayanische Religion vorwärts!"[12]

In gleicher Weise wurden die Bauern angehalten, wilde Tiere zu domestizieren, um sie durch ihren opfervollen Dienst am Menschen in den Durchlichtungsprozeß einzubeziehen.

Zu den 'Dienern von Ahriman' zählten hingegen diejenigen Menschen, die sich gegen jede Entwicklung sperrten, die nicht an dem Werk der aktiven Umgestaltung teilnehmen und in dem bisherigen Zustand verharren wollten. Die von Zarathustra ins Leben gerufene Ackerbaukultur sah in den kriegerischen Nomadenstämmen, den Tûras, solche Diener des Ahriman, denn diese kümmerten sich wenig um die Umgestaltung der Erde, sondern zerstörten im Gegenteil auf ihren Raubzügen die von den Bauern geleistete Kulturarbeit. Dieser Gegensatz zwischen lichter Ackerbaukultur (Ahura Mazdâ-Ohrmazd) und dunklem Nomadentum (Angra Mainyu-Ahriman) wurde in dem Epos Shâhnâma als Urkampf der Reiche von Irân und Tûrân geschildert, dessen Beginn sich im Dunkel der Geschichte verliert. Zwischen beiden Reichen sollen mindestens elf Kriege stattgefunden haben. Das feindliche Turan wurde in dem Raum zwischen den Tiefebenen des Kaspischen Meeres, des Aralsees und des Pamir lokalisiert, also etwa auf dem Gebiet der heutigen zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Afghanistan, Tadschikistan und Turkmenistan.[13] Turans Wappentier war der graue Wolf, die dunkelkreatürliche Entsprechung des lichten, domestizierten Hundes von Iran. Ursprünglich sollen die Turaner ihrem Wesen nach verdunkelte Iraner gewesen sein, -- also Menschen, die aus dem lichtgöttlichen Gesetz gefallen und sich willentlich dem Dienst Ahrimans verschrieben hatten. Dieser Anschauung lag in ihrem Kern also keine geburtliche Vorherbestimmung zugrunde, die den Menschen aufgrund seiner körperlichen Abstammung festlegte und bekämpfte. Turan bezeichnete in der altiranischen Sprache in erster Linie den Gegensatz von Ackerbauern- und Nomadentum, der ethnische Unterschied war dem untergeordnet.[14] Erst in späterer Zeit wurde Turan dann auschließlich mit dem Wohnraum der nomadischen Turkvölker identifiziert.

Die Lehre des Zarathushtra betonte also in hohem Maße die Kulturarbeit, die Umwandlung, Durchlichtung der stofflichen Materie. In diesem frühen Abschnitt der menschheitlichen Entwicklung war es der Bauer, der zuvorderst an dieser Arbeit teilhatte. Noch die lateinische Sprache kennt den den Zusammenhang zwischen dem agricola ('Ackerbauer'), der cultura ('Pflege, Landwirtschaft, Ausbildung') und dem cultus ('Ackerbau, Anbau, Kultivierung, Kultur, Gottesdienst'). Indem Zarathushtra zur ununterbrochenen Tätigkeit, zur Umgestaltung der Schöpfung aufrief -- als der irdischen Widerspiegelung des kosmischen Kampfes zwischen ?hrmazd und Ahriman -- prägte er erstmals den Gedanken einer sinn- und zielgerichteten Evolution in Zeit und Raum. Damit durchbrach er die älteren Vorstellungen der ewigen, sich periodisch regenerierenden kosmischen Kreisläufe.

Die iranische Kultur gab die Anschauung an die vorderasiatischen und später auch europäischen Kulturkreise weiter, daß der Dienst an Gott sich in der Geschichte entfaltet, und als angestrebter und sinnerfüllter Entwicklungsweg des Gottesvolkes auf eine Erfüllung zuläuft. Im Judentum sieht man dieses verheißene Ziel in der Ankunft des Messias, des Erlösers. Die ersten Christen verkündeten, daß dieser Geschichtsabschnitt durch Tod und Auferstehung von Jesus Christus bereits erfüllt und historisch abgelaufen sei. So wie die gesamte 'alte Geschichte' in Christus mündete, so ging von Ihm als dem Alpha und Omega der Weltenentwicklung nun eine 'neue Geschichte' aus: die christliche Heilsgeschichte. Dieser iranische Impuls innerhalb des Juden- und später auch Christentums wurde nach der Zeit der babylonischen Gefangenschaft der Juden wirksam[15], aus der sie durch den großen Perserkönig Kyros, dem Schüler des Zaratos, befreit wurden.

Von höchster Wichtigkeit ist jedoch, daß (wie bereits angesprochen) in der weiteren Entwicklung im Durchgang durch das Mysterium von Golgatha die alte Anschauung in ihrer geistigen Realität aus der äußeren Entfaltung in Zeit und Raum immer mehr in das individuelle Innere des Menschen verlagert wurde -- und zwar in dem Maße, als der Mensch in seinem individuellen Ichbewußtsein zu erwachen begann. 'Licht und Dunkel' treffen nicht mehr nur äußerlich, auf dem Feld der sinnlichen Welt aufeinander, sondern vor allem in der innermenschlichen Seelenwelt, die sich geistigen Welten neu zu öffnen beginnt. 'Iran und Turan' bezeichnen folglich nicht länger festumrissene soziale Menschengemeinschaften, wie dies in prähistorischer Zeit der Fall war, sondern sind Wesensqualitäten und Bewußtseinszustände individuellen menschlichen Verhaltens, die sich nach außen manifestieren können. Der 'Kampf zwischen Iran und Turan' spielt sich für den heutigen Menschen in seinem eigenen Inneren ab, als bewußtes Ringen zwischen aufbauenden und destruktiven Neigungen und Trieben, die das menschliche Wachbewußtsein in ihrer jeweiligen Qualität erkennen und in sich zulassen bzw. abweisen sollte. Im höchsten Sinn gefährlich und destruktiv wirkt jedoch heute, wenn man die dualistische Gegensätzlichkeit immer noch einseitig auf äußere soziale Verhältnisse projiziert, wie das in den verschiedenen Formen des Totalitarismus oder Fundamentalismus, aber auch in den eigenen nichtbewußten Triebneigungen, Sympathien und Antipathien geschieht, und noch dazu in grob vermaterialisierter Form. Die menschheitlichen Verhältnisse sind nun einmal heute völlig andere als vor 8000 Jahren. Man spricht den Fundamentalisten zu Unrecht eine (negativ belegte) 'manichäische' Weltsicht zu, denn gerade die Lehre Manis hatte zur Aufgabe, die älteren iranischen Auffassungen in die neuen Verhältnisse überzuführen, welche durch das Mysterium von Golgatha eingetreten waren.

 

 

 

[11] Yasht XIII:88. Avesta. Die heiligen Bücher der Parsen. Hrsg. v. Fritz Wolff. Straßburg 1910, Nachdruck Berlin 1960, S. 242.

 

[12] Vidêvdat III:23.30-31. Ebenda, S. 329f.

 

[13] Carsten Colpe: Altiranische und zoroastrische Mythologie. In: Wörterbuch der Mythologie. Hrsg. v. H.W. Haussig. Bd. I/4. Stuttgart 1986, S. 161-488, hier S. 448.

 

[14] O.G. von Wesendonk: Urmensch und Seele in der iranischen Überlieferung. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte des Hellenismus. Hannover 1924, Reprint Osnabrück 1971, S. 24, 26.

 

[15] Vgl. Ugo Monneret de Villard: Le leggende orientali sui magi evangelici. Città del Vaticano 1952; Geo Widengren: Iranisch-semitische Kulturbegegnung in parthischer Zeit. Köln-Opladen 1960; Markus Osterrieder: Sonnenkreuz und Lebensbaum. Irland, der Schwarzmeer-Raum und die Christianisierung der europäischen Mitte. Stuttgart: Verlag Urachhaus, 1995, S. 193-198.

Die iranische Grundlage der slavischen Geisteswelt
Man wird das Wesen der Geisteskultur in der östlichen Hälfte Europas niemals wirklich verstehen, wenn man es nicht vor dem Hintergrund des Fortwirkens iranisch-zoroastrischer und christlich-manichäischer Impulse sieht.[16] Allein der iranische Einfluß dürfte sich auf einen Zeitraum von über tausend Jahren (insbesondere zwischen 600 v. Chr. bis 600. n. Chr.) erstreckt haben, wobei die erste Prägung der später als Slaven auftretenden Volksstämme im Raum des alten Turan, im ostiranisch-zentralasiatischen Steppengürtel stattgefunden haben dürfte.[17] Obwohl bei der rätselhaften Ethnogenese der Slaven verschiedene Völkerschaften zusammenwirkten, ist der für Bewußtsein und Lebensgefühl der slavischen Urbevölkerung folgenreichste Einfluß somit auf den iranischen Kulturkreis zurückzuführen. Nahezu alle wesentlichen Begriffe slavischer Urreligiosität weisen auf ein entsprechendes iranisches Vorbild.[18] Auch in der sozialen Gliederung der Urslaven tritt das iranische Element stark hervor.

Tatsächlich unterlagen alle Völker, die zwischen den nordostiranischen Flüssen Oxus und Jaxartes sowie dem Schwarzen Meer bzw. dem Dnepr in den Wirkungsbereich der iranischen Hochkulturen gerieten, allmählich einer 'Iranisierung'. Das geistige Ziel der kulturellen Angleichung bestand darin, einen Teil der Seelenwildheit zu bändigen, um das im Sinne der parsischen Religion innewohnende destruktive Element zu läutern und sie dadurch auf die Kulturstufe eines Ackerbauvolks zu heben. Selbst unter den finno-ugrischen Völkern kann man Spuren einer frühen 'Läuterungsarbeit' nachweisen, die auf die Lehren Zarathushtras zurückzuführen ist. In den finno-ugrischen Sprachen findet man iranische Lehnwörter mit Lauterscheinungen, die mit der ostiranischen Sakralsprache des Avesta übereinstimmen, nicht jedoch mit dem jüngeren Altpersischen. Dies trifft auch für die skythische Sprache zu, die zur iranischen Sprachfamilie gehört.[19] Die Skythen waren wie die ethnisch verwandten Sarmaten von einer solchen 'Iranisierung' in religiöser, sprachlicher und sozialer Hinsicht besonders stark betroffen. So wurde ein Teil des Reitervolks in den Steppen zwischen Bug, Dnepr und Don allmählich seßhaft und ging zur Landbestellung über, während der andere, östliche Teil weiterhin dem Nomadendasein verhaftet blieb. Herodot (Historiē IV:18-19) nannte den seßhaften Stamm "Ackerbauskythen".

Parallel zu dem Kultureinfluß bildete sich unter der überwiegend bäuerlichen Bevölkerung ein tief eingewurzeltes Lebensgefühl aus. Denn gerade in dem Raum zwischen Karpaten und Wolga, aber auch im pannonischen Tiefland und in den dinarischen Gebirgszügen erfuhren die Menschen durch die Jahrhunderte immer wieder die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Bauernkultur und Nomadentum, hatten sich in unterschiedlicher Weise den Invasionen und Raubzügen andersgläubiger Nomaden- und Reitervölker aus dem Osten zu erwehren. Die geistig-seelischen Grundlagen für ein stark dualistisches Welterleben im östlichen Europa und in Zentralasien existierten jedoch seit Urzeiten. Entsprechende Anschauungen und Mythen waren unter den Völkern Südosteuropas, den West- und Ostslaven, den Balten, Finnen und Magyaren, aber auch unter den ugrischen Völkern, den Turk- und Altaivölkern Sibiriens und Zentralasiens weit verbreitet -- ja sie sind geradezu ein Merkmal einer spezifischen, sehr alten eurasischen Kultursphäre.[20]

Wo sich das Christentum mit der alten Vorstellungswelt verband, fanden die Menschen meist in Gemeinschaften zusammen, die von der orthodoxen Amtskirche als ketzerisch gebrandmarkt wurden. Die Strömung der Bogomilen die seit dem 10. Jahrhundert von Makedonien und Bulgarien weit nach Nordosten bis an die Küste des Weißen Meeres wirkte, fand mit ihren iranisch-manichäischen Lehren, welche die soziale Ordnung von Grund auf neu ordnen wollten und auf die Bedeutung des inneren Christus-Lichtes hinwiesen, vor allem unter der einfachen Bevölkerung großes Echo.

Der Chronist Helmold von Bosau beschrieb im 11. Jahrhundert eine religiöse Vorstellung der damals noch heidnischen Slaven östlich der Elbe, welche die Anschauung eines dualen Götterkosmos widerspiegelt:

    "Sie glauben, daß alles Glück von einem guten, alles Unglück von einem bösen Gotte gelenkt werde. Daher nennen sie den bösen Gott in ihrer Sprache Diabol oder Zcerneboch, d.h. den schwarzen Gott (nigrum deum)."[21]

Aus der Ortsnamenkunde und der slavischen Volkskunde geht hervor, daß diesem Cernobog'' ('Schwarzer Gott') der Belbog'', Belun ('Weiße Gott') gegenüberstand.

Eine Sage aus der Krakauer Gegend hielt die Weltsicht bereits getaufter kleinpolnischer Bauern fest:

    "Am Anfang war der Himmel, und dort herrschte der Gott des Lichtes von Ewigkeit her. Es war dort auch der dunkle Fürst, tiefer, an Seiner linken Seite; er war dem Gott des Lichtes unterworfen. Der Gott des Lichtes erschuf zuerst das Wasser, das bis zum Himmelspalast stieg, der ganz aus Kristall und Edelsteinen erbaut ist [...]. Der Gott des Lichtes nahm einen Sprengwedel, segnete das Wasser und sprengte vom Himmel rechts und links. Aus den fallenden Tropfen, die von der himmlischen Hand geworfen worden waren, wurden Engel geboren, und aus dem Schaum, der auf dem Wasser war, wurden Erzengel geboren: der heilige Michael, der heilige Gabriel und andere Erzengel. Die Engel, die rechts waren, stellten sich hinter den Gott des Lichtes, diejenigen, die links waren, gehörten dem Fürsten der Dunkelheit, der die Schatten der Nacht in seiner Macht hat; später wurden sie zu Teufeln."[22]

In ähnlicher Weise sprachen die russischen Bauern aus dem Gouvernement Tula, rechtgläubige Christenmenschen, in den 1890er Jahren nicht gerade sehr orthodox von der Schöpfung der Welt:

    "Bis zur Erschaffung der Erde waltete die Finsternis, und um sie herum erstreckte sich das Wasser. Über den Wassern flogen zwei Geister, ein lichter und ein dunkler. Der Lichte sprach zum Dunklen: 'Gib mir etwas zu tun.' -- 'Hier hast Du', sagte der Dunkle. Der Lichte sprach: 'Es werde Licht!', und es ward Licht. Der Dunkle sprach: 'Laß mir die Nacht', und die Nacht ward. Himmel, Erde, Wasser, Luft, Sterne, Tiere und Pflanzen -- alles ging aus dem WORT des Weißen Geistes hervor. Der lichte Geist, er ist auch der Weiße, es ist Gott der Herr. Alles Sichtbare schuf Er mit Hilfe des dunklen Geistes. Und dann begann Er allein, die guten Geister zu schaffen, indem Er sie mit seinem Schwerte (wie Funken) aus dem Stein schlug. Zu guterletzt schuf Er den Erzengel Michael. Der dunkle Geist sah, daß der lichte Geist sich gleichende Geister schuf, und er dachte darüber nach, wie er sich ebenfalls ähnliche Geister schaffen könnte. Aber da er nun einmal nicht Gott war, konnte er sich keine Ebenbilder schaffen. Als darum der Weiße Geist schlief, nahm er Ihm das Schwert weg und begann gleichfalls, damit Geister aus dem Kiesel zu schlagen. So entstanden die bösen, ihm gleichenden Geister. Er herrschte über sie und sagte sich vom lichten Geist los. Da schuf sich der lichte Geist den Heiligen Geist oder Gott, Ihm gleichend. Der böse Geist stahl wieder, als der weiße Geist schlief, das Schwert. Er schlug aus dem Kieselstein noch mehr böse Geister als das erste Mal. Die bösen Geister begannen die guten zu verführen, und sie gingen vom guten Geist auf die Seite des dunklen über. Der lichte Geist verfluchte sie und nannte sie Teufel, und den dunklen Geist nannte er Satan, weil er sich von Ihm losgesagt und Ihm zuwider gehandelt hatte. Der gute Geist merkte, daß mehr böse Geister waren als gute, daß der dunkle Geist sie mit Seinem Schwerte erschaffen hatte, und Er verfluchte Sein Schwert. Dann sprach Er zum dunklen Geist: 'Satan! Steige mit deiner Schar vom Himmel auf die Erde nieder. Und Er vertrieb ihn vom Throne. Aber Satan ging nicht freiwillig. Da schickte der Herr gegen ihn den Erzengel Michael mit dem Schwerte, aber Satan ließ den Erzengel bis auf mehrere Ellen nicht an sich heran, versengte ihm mit Feuer die Flügel. Der Erzengel Michael flog zu Gott und sprach: 'Herr, ich konnte sie nicht fortjagen, sie haben mir die Flügel versengt.' Der Herr gab ihm zwei Flügel und ein feuriges Schwert, aber Satan mit seinen bösen Geistern schlug den Erzengel zurück und vertrieb ihn. Wieder flog Michael zum Herrn und spricht: 'Sie haben mich fortgejagt.' Der Herr gibt dem Erzengel noch zwei Flügel und sein richtendes Schwert und sprach: 'Wenn du Satan mit den Teufeln besiegen willst, sprich: Im Namen des Herrn, seid verflucht, ihr Teufel.' Da flog der sechsgeflügelte Erzengel Michael mit dem Gottesschwert zu Satan mit seinen Teufeln und sprach: 'Im Namen des Herrn, seid verflucht, ihr Teufel.'. Da fielen die Teufel vom Himmel auf die Erde herab: der eine ins Wasser, der andere in den Wald, der dritte sonstwohin. Aus ihnen sind auf Erden die unreinen Kräfte entstanden: die Teufel, die feurigen Schlangen, die Wasser- und Waldgeister."[23]

Ganz in zoroastrischer Gesinnung erklärte das geheimnisvolle 'Taubenbuch', das vermutlich in die Zeit der bogomilischen Mission unter den Ostslaven zurückreicht:

    "Aus dem Herren stammt die Licht-Welt, die weiße, aus seinem Herzen das weiße Licht-Weltenall entspringt, aus Christus selbst, dem Himmelszaren".[24]

Und indem sich der gläubige Christ mit seinem Erlöser bis in die Arbeit hinein verbunden fühlte, war er auch ein zukünftiger Bewohner dieses belyj svet, der Licht-Schöpfung des Neuen Jerusalem.

 

 

 

 

[16] Material bieten u.a. Zdenek Vána: Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker. Die geistigen Impulse Ost-Europas. Stuttgart 1992; Aleksander Gieysztor: Mitologia Slowian [Die Mythologie der Slaven]. Warszawa 1982; Maria Gimbutas: Slavic Religion. In: The Encyclopedia of Religion. Hrsg. von Mircea Eliade. Bd. 13. New York-London 1987, S. 353-361; Evel Gasparini: Il matriarcato slavo. Antropologia culturale dei protoslavi. Firenze 1973; Henryk Lowmianski: Religia Slowian i jej upadek [Die Religion der Slaven und ihr Untergang]. Warszawa 1979; André Meillet: Le Vocabulaire slave et le vocabulaire indo-iranien. In: Revue des études slaves 6 (1926), S. 165-174; Karl H. Menges: Early Slavo-Iranian Contacts and Iranian Influences in Slavic Mythology. In: Symbolae in honorem Z. V. Togan. Istanbul 1950-55, S. 468-479; Roman Jakobson: Slavic Mythology. In: Funk and Wagnall's Standard Dictionary of Folk-Lore, Mythology and Legends. New York 1950. Bd. II, S. 1025-1028; Max Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1953; Leszek Moszynski: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft. Köln-Wien 1992.

 

[17] Heinrich Kunstmann: Die Slaven. Ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, S. 70, 287f.

 

[18] Siehe auch Osterrieder: Sonnenkreuz und Lebensbaum (Anm. 15), S. 313f.

 

[19] Max Vasmer: Untersuchungen über die ältesten Wohnsitze der Slawen. Bd. I: Die Iranier in Südrußland. Leipzig 1923, S. 20f.

 

[20] Vgl. Mircea Eliade: Von Zalmoxis zu Dschingis-Khan. Religion und Volkskultur in Südosteuropa. Köln-Lövenich 1982, S. 85-138; Michail Dragomanov: Notes on the Slavic Religio-Ethical Legends: The Dualistic Creation of the World. Bloomington/Ind. 1961; Ugo Bianchi: Il dualismo religioso. Saggio storico ed etnologico. Roma 1958, S. 42f.

 

[21] Helmold von Bosau: Chronica Slavorum. Hrsg. v. H. Stoob. Darmstadt 1963, Kap. LII, S. 196ff.

 

[22] Polnische Sagen. Hrsg. v. Veroboj Vildomec. Berlin 1979, S. 21.

 

[23] Zit. nach A. Kolcina: Verovanija krest'jan Tul'skoj gubernii [Der Glaube der Bauern im Gouvernement Tula]. Ètnograficeskoe Obozrenie 11 (1899), S. 53-59.

 

[24] P. Bezsonov: Kaleki perechozie. Sbornik stichov i issledovanie [Wandernde Bettelpilger. Versliedersammlung und Untersuchung]. 2 Bde. Moskva 1861-64, Bd. I, Nr. 92.

 

Teil II ~ Part II

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