Iranische Grundlagen des slavischen Geisteslebens
Die Kultur des slavischen Ostens und der Schatten von Turan
II. Teil |
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JENER Urgegensatz, der sich in den iranischen Hochkulturen etwa der
Meder, Perser und Sasaniden in dem Begriffspaar 'Iran-Turan' darlebte,
fand in späteren Jahrhunderten seine Entsprechung in der Seelenwelt
der Intelligenz des östlichen Europa als nie ganz geklärter Zwiespalt
zwischen 'europäischem' und 'asiatischem' Kulturerbe. Dieser Zwiespalt
wurde nicht nur äußerlich, durch die Eroberungen der Mongolen
und Türken wachgerufen, sondern durchaus im eigenen Inneren erlebt,
als Konflikt zweier in tiefen Schichten des eigenen Wesens veranlagter,
polarer Seelenwelten. Hieraus erwuchs vor allem unter den östlichen
Einflüssen besonders ausgesetzten Russen das Lebensrätsel der
eigenen kulturellen Identität. Die seit dem 19. Jahrhundert immer
wieder ebenso bestrittene wie beschworene 'Europaferne' Rußlands
etwa ist auch aus dieser Problematik heraus zu verstehen, nicht
allein aus der Andersheit des orthodoxen Bekenntnisses.
In der polnischen Kultur äußerte sich die Auseinandersetzung mit dem Erbe der turanischen Steppenwelt erstmals in der Mode des 'Sarmatismus', die in der Renaissance aufkam. Die polnische Adelsnation, die Szlachta, sehnte sich im Lebensgefühl in die Weite der südöstlichen Steppen und sah sich als gens sarmatica, als Nachfahrin der sarmatischen Ritter und Verbreiterin der Kultur unter den Barbaren des Ostens, so wie einst auch die Wildheit der Sarmaten durch kulturelle 'Iranisierung' gebändigt worden war. Zugleich betrachtete man sich als religiöse und zivilisatorische Vormauer des Abendlandes gen Osten, mit der Aufgabe, Europa vor den Übergriffen muslimischer Türken und Tataren sowie 'barbarischer' Moskoviter Russen zu schützen.[1] Auch noch in späteren Jahrhunderten empfanden sich Vertreter der polnischen Oberschicht als Angehörige der "arischen" bzw. "iranischen Rasse", die sich von der "turanischen Gefahr" bedroht fühlten -- deren Verkörperung man nun endgültig im Russentum festzustellen glaubte. In diesem Sinne schrieb der nach Paris emigrierte Pole Franciszek Duchinski (1817-1893) im Jahr 1840 ein geschichtsphilosophisches Werk mit dem Titel Peuples aryâs et tourans, in dem er die Polen (einschließlich der ruthenischen und litauischen Bevölkerung in den ehemaligen östlichen Grenzgebieten) zu den 'Ariern' (='Iranern') zählte, während er die 'Moskoviter' (Großrussen) den kulturlosen 'Turanern' zurechnete: "Die Moskoviter sind weder Slaven noch Christen im Sinne [wahrer] Slaven oder anderer indoeuropäischer Christen. Bis zum heutigen Tage sind sie Nomaden, und sie werden ewig Nomaden bleiben."[2] Charakteristisch ist auch das Beispiel der Vorfahren der Magyaren (Ungarn). Ursprünglich ugrisch-altaischer Herkunft, wurden die magyarischen Stämme in ihrer Lebensweise turkisiert und ließen sich schließlich 10. Jahrhundert als einziges der zahllosen Steppenvölker in Mitteleuropa nieder. Im Laufe der Jahrhunderte vermischten sie sich mit den unterworfenen Slavenstämmen Pannoniens, aber anders als im Fall der Protobulgaren bewahrten sie ihre Sprache und damit ein Stück ihrer früheren Identität. In den ungarischen Legenden stammen die Ahnen Hunor ('Hunne') und Magor ('Magyar') von einem Skythenfürsten ab. Tatsächlich sah man in den Hunnen ein Brudervolk und in dem Königreich Ungarn die Wiederbelebung des Hunnenreiches, daß im 5. Jahrhundert von Attila in Pannonien gegründet worden war.[3] In den Legenden über den 'lichten' Ungarnkönig László Király (Ladislaus den Heiligen, 1077-1095) und seinen Kampf gegen das 'dunkle' Steppenvolk der Kumanen tritt das Iran-Turan-Motiv besonders deutlich in den Vordergrund. Denn unter den heiligen Königen István (Stephan) und László (Ladislaus) wurden die Magyaren seßhaft; das Land wurde getauft. Die Könige verkörperten somit die lichten Weltkräfte, die die Macht der Finsternis brachen und läuterten. Tatsächlich wurden in der späteren Überlieferung die 955 auf dem Lechfeld geschlagenen Führer des heidnischen Magyarentums -- Vérbules ("der Mann des Blutes") und Lél -- als Vertreter des dunkel-turanischen Aspekts beschrieben.[4] Die ungarischen Romantiker wie S. Székely von Aranyosrákos und M. Vörösmarty spürten diesen "Kampf der Gegensätze" in den tieferen Schichten der ungarischen Seele auf und sprachen sogar von der Existenz eines "ungarischen Parsismus". In dem Bemühen nach Rekonstruktion der magyarischen Urreligion ersannen sie einen lichten Gott Hadúr und erschlossen aus dem ungarischen Adjektiv ármányos ("trügerisch, listenreich") die Existenz des dunklen Widersachers Ármány ("Ahriman"). Zudem sind die ungarischen Wörter für 'Gott' (Isten), 'Teufel' (ördög) und 'Dämon' (manó) nicht ugrischer, sondern persischer Herkunft.[5] Es ist symptomatisch, daß diese Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts in Ungarn sofort als selbstverständlich hingenommen und als wirkliches Kulturerbe der Vorzeit verstanden wurde.[6] Im äußersten Südosten des europäischen Kontinents läßt sich die eigentümliche Kulturspannung 'Iran-Turan' schon bei der Ethnogenese des Volkes der Bulgaren erkennen. Ende des 7. Jahrhunderts drangen die Bulgaren, ursprünglich turkisch-mongolische Stämme, von der Ukraine kommend über die Donau, eroberten den südlichen Balkan und herrschten als aristokratische Oberschicht über die unterworfene slavisch-thrakische Bevölkerung. Als Bulgarien knapp 200 Jahre später das Christentum annahm, waren die einzelnen ethnischen Gruppen bereits miteinander verschmolzen. Die Geschichte Bulgariens begann folglich als Zusammenprall zweier Lebenswelten im Sinne des Gegensatzes von 'Iran' und 'Turan'. Zudem lebten die christlichen Bulgaren jahrhundertelang unter der osmanisch-türkischen Herrschaft (1382/93-1878/79). Die Türken waren zwar zum Islam übergetreten und hatten nach der Eroberung Kleinasiens die Kultur des Vorderen Orients assimiliert, gehörten jedoch in Abstammung und Herkunft ebenfalls zu den zentralasiatischen 'Turan-Völkern'.[7] Das mentale 'Iran-Turan'-Trauma wirkte in den bulgarisch-türkischen Beziehungen besonders lange nach und ist bis heute noch nicht überwunden, wie die Bulgarisierungsversuche an türkischen Moslems beweisen. Diese Aversion ist -- jenseits der früher tatsächlich erlittenen Unterdrückung durch die Osmanen -- auch als psychologisches Problem des Bulgarentums selbst zu verstehen, als veräußerlichte, vermaterialisierte Projektion eines eigenen inneren Seelenkampfes. Man haßt den Anderen, weil in ihm ein Teil des eigenen Selbst widergespiegelt wird. Auch unter den Südslaven der serbisch-kroatischen Sprachgruppe tritt dieses Problem scharf zutage. Der Volksname der Serben wie der Kroaten (Srbi, Hrvati) ist iranischen Ursprungs.[8] 'Turan' wurde bei ihnen wie bei den Bulgaren lange in Gestalt des osmanischen Islam erlebt, die Ablehnung des Islam durch die christlichen Bauern ging mit dem Haß gegen die türkischen Besatzer einher. Doch gerade jene serbisch-kroatisch sprechenden Südslaven, die durch ihr Bekenntnis zum bogomilischen Christentum an intensivsten in der alten iranisch-manichäischen Bilderwelt gelebt hatten, traten nach der Eroberung durch die Türken im 15. Jahrhundert zum Islam über. Umgekehrt erhielten sich während der langen Türkenherrschaft auch unter Katholiken und Orthodoxen vor allem der dinarischen Landstriche archaische, auf Blutverwandschaft gründende Lebensformen, die in ihrer Dekadenz stärkste Haß- und Zerstörungskräfte anzogen. Furchtbare, in den Kriegen der letzten zehn Jahre zur Eruption gebrachte Folgen hatte nun die Tatsache, daß man immer noch glaubte, man müsse im Sinn der längst über- und ausgelebten Kulturstufe gegen den andersgläubigen Feind -- die Kreatur der Finsternis und Wurzel allen Übels, die man aus einer bestimmten Volksgruppe hervorgehen sah -- Brachialgewalt anwenden. Man wurde nicht gewahr, daß die alte Kulturspannung verinnerlicht worden war, daß sich 'Iran und Turan' in innermenschliche Seelenzustände verwandelt hatten, die über den Abstammungsstrom längst nicht mehr zu verstehen waren. Diesen Wandel in das Bewußtsein der Menschen zu heben, war bereits eines der Ziele des Bogomilentums gewesen -- die osmanische Herrschaft fror den Prozeß der Bewußtseinswandlung ebenso ein wie die kommunistische Ideologie. Unter den religiösen und nationalen Fundamentalisten wich das innere Licht dämonischer Finsternis, die sie abgründig-perverse Grausamkeiten begehen ließ. Die Kriege auf dem Boden des ehemaligen Jugoslavien demnach auch als ein Sieg Turans zu verstehen, sie hinterließen eine kahle Kulturwüste, waste land. Bezeichnend ist, daß gerade unter der Regierung von Slobodan Milosevic der Wolf, das alte turanische Totemtier, von den serbischen Extremisten (neben der Spinne) als Symbol der Selbstdarstellung erkoren wurde, in dem man zuvor die Verkörperung der abzulehnenden Eigenschaften erblickt hatte. Der aus Montenegro stammende frühere Präsident der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, ein ausgebildeter Psychater, schrieb in seinen Gedichten von dem "großen, schlanken und starken Wolf", der aus den Bergen niedersteigt, um sein Opfer zu suchen, um es zu verschlingen und "in seinem Herzen in die [...] Wildnis mitzunehmen."[9] |
[1] Vgl. Tadeusz Ulewicz: Sarmacja. Studium z problematyki slowianskiej XVI i XVII w. Kraków 1950, S. 39; Barbara Otwinowska: Jezyk -- naród -- kultura. Antecedencje i motywy renesansowej mysli o jezyku. Wroclaw 1976, S. 152; Stanislaw Cynarski: The Shape of Sarmatian Ideology in Poland. In: Acta Poloniae Historica 19 (1968), S. 6-17.
[2] Franciszek Duchinski: Peuples aryâs et tourans, agriculteurs et nomades: Necessité des réformes dans l'exposition de l'histoire des peuples Aryâs-Européens et Tourans, particulièrement des Slaves et des Moscovites. Paris 1864, S. 22.
[3] Michael de Fernandy: Die Mythologie der Ungarn. Wörterbuch der Mythologie. Hrsg. von H. W. Haussig. I/2, Stuttgart 1973, S. 209-260, hier 231f.
[4] Vgl. ebenda, S. 257.
[5] Vgl. Jordan Ivanov: Livres et légendes bogomiles. Aux sources du catharisme. Paris 1976, S. 52.
[6] Vgl. Fernandy: Die Mythologie der Ungarn (Anm. 6), S. 253ff.
[7] Die turkisch-turanische Herkunft den Türken immer bewußt geblieben und spielt in der heutigen Türkei soagr eine wichtige außenpolitische Rolle bei dem Versuch, die diplomatischen und kulturellen Beziehungen zu den verwandten 'turanischen' Turkvölkern im Kaukasus und in Zentralasien zu vertiefen.
[8] Heinrich Kunstmann: Die Slaven. Ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, S. 285f.; Francis Dvorník: The Making of Central and Eastern Europe. London 1949, S. 277-297; P.S. Sakac: Iranische Herkunft des kroatischen Volksnamens. In: Orientala Christiana Periodica 15 (1949), S. 313-340.
[9] Branimir Anzulovic: Heavenly Serbia. From Myth to Genocide. New York-London 1999, S. 129f. |
Als ein wesentliches Leitmotiv zieht sich die Auseinandersetzung
zwischen Acker und Steppe, Kultur und Anti-Kultur und damit zwischen
'Iran und Turan' durch die Geistesgeschichte der Ostslaven --
der heutigen Völker der Russen, Ukrainer und Weißrussen. Man empfand
die polare Spannung sowohl im äußeren Leben, in Form des ständigen
Kampfes gegen nomadische Invasoren (etwa Pecenegen, Polovcer und
Mongolen), wie auch als inwendiges Drama, als Kampf gegen den
'turanischen' Wesensteil der eigenen Seele, wo sich 'Turan' in
Gestalt eines 'dunklen Zwilling' manifestieren konnte, als dunkler
Doppelgänger des eigenen Selbst.
Auch bis weit in die christliche Zeit wirkte der iranische Impuls etwa in der darstellenden Kunst oder in der Empfindungswelt der Menschen. Man hatte sich zum Christentum bekehrt und verband sich mit dem Auferstandenen aus ganzer Kraft des Herzens. Zugleich spürte man, daß die göttliche Sonnenkraft und Sonnenherrlichkeit, von der in ferner Vergangenheit Zarathustra seinen Iranern gekündet hatte, aus der Wesenheit Christi stammte, Sein Antlitz war, und daß sie sich durch das Opfer Jesu Christi mit der Mutter Erde verbunden hatte. Die Sonne war schließlich auch das Wesenselement des höheren, göttlichen Menschen, des bozij celovek. In der "roten, strahlenden, lieben Sonne" (krasnoje solnysko) wurde der Inbegriff des Schönen und der Göttlichkeit gesehen -- darum sind im Altrussischen die Worte 'schön' und 'rot' Synonyme (krasnyj). Das Rot der Sonne galt als Osterfarbe, als Farbe der Auferstehung. Im Gebet hieß es: "Ich ehre den heiligen Gott und die heilige Sonne." Ein ukrainischer Spruch lautete: "Guten Tag, helle kleine Sonne. Auf künstlerischen Darstellungen aus der vormongolischen Zeit, die auch bei den Südslaven häufig anzutreffen sind und auf die persische Kunst zurückgehen, wird die Sonne von gräßlichen Drachen und Schlangen angegriffen, während die tapferen Krieger mit Pfeilen auf die Ungeheuer schießen, um der Sonne beizustehen. Der Kosmos ist als Licht-Schöpfung identisch mit der Wesenheit von Christus, dem Himmelszaren. "Aus dem Herren stammt die Licht-Welt, die weiße, aus seinem Herzen das weiße Licht-Weltenall (belyj svet) entspringt, aus Christus selbst, dem Himmelszaren; Die prächtig-rote Sonne, aus dem lichten Antlitz Gottes stammt sie. der junge, glänzende Mond aus der Brust Gottes, die reinen Sterne vom Gewande Gottes; die Morgenröte, die Abendröte von den göttlichen Augen Christi, des Himmelszaren. Die dunklen Nächte sind aus den Haaren Gottes, die stürmischen Winde vom Heiligen Geist, dem göttlichen Atem. Die Geister Gottes sind aus Seinem Mund. Woher kommt das Donnertösen auf Erden? -- Von den Worten des Herrn kommen sie; der gute liebe Regen ist von den Tränen Gottes, der Morgentau, der Abendtau stammen von den Tränen Christi selbst. Die Gemeinde des Gottesvolkes ist aus Adam, unsere Leiber aus der feuchten Erde. Die starken Knochen sind aus den Steinen genommen, unser rotes Blut aus dem Schwarzen Meer. Die wache Vernunft ward uns durch Christus selbst. Unsere Gedanken sind aus den Wolken des Himmels."[11] Alle sozialen und physischen Phänomene gehen auf diese lichte Urschöpfung zurück, die durchdrungen ist von Pravda, der göttlich-rechten Wahrheitsordnung, die Zarathustra einstmals Asa genannt hatte. Dies gilt nicht nur für die innermenschliche moralische Sphäre, sondern auch für die irdischen Naturerscheinungen und die sich in ihnen manifestierende Gesetzlichkeit. Im zoroastrischen Iran diente der Bauer als Umgestalter der Erde und Streiter für Asa der Lichtgottheit Ôhrmazd; entsprechend lebte bei den ostslavischen Bauern die Überzeugung, auf Grund ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit Diener des künftigen Gottesreiches zu sein, denn Christus hatte sich mit der Erde verbunden, wie Er es im Abendmahlsgeschehen verheißen hatte (Mk.XIV:22-25; Joh.XIII:18). Durch seine umgestaltende Tätigkeit beteiligte sich der slavische Bauer an der Durchlichtung der Welt, am Aufbau der Pravda und an der Überwindung der Krivda, des unterdrückerischen, widergöttlichen, satanisch-ahrimanischen Lügen-Chaos, dessen Macht auf Erden zeitgebunden blieb. Die Ordnung und Regelung der sozialen Frage war in der Osthälfte Europas im allgemeinen und unter den Ostslaven im speziellen gleichbedeutend mit der Erlösung der Erde und der Menschheit, der Überwindung des finsteren Antichristen. Damit verknüpft war die Erwartung des "tausendjährigen Gottesreiches", die in der zoroastrischen Lehre von den "drei Reichen" oder "drei Weltaltern" zu je 3000 Jahren sowie in der christlichen Apokalyptik (Off.XII:2) wurzelte. |
[10] Zit. nach Kazimierz Moszynski: Kultura ludowa Slowian. Tom II: Kultura duchowa. 2. Aufl. Warszawa 1967, S. 441ff.
[11] P. Bezsonov: Kalcki perechozie. Sbornik stichov i issledovanie. 2 Bde. Moskva 1861-64, Bd. I, Nr. 92. |
Diese auf sehr alte Vorstellungen zureichende bäuerliche Lebensstimmung,
die noch ganz aus einer imaginativen Bilderwelt schöpfte, wurde
in Rußland erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts in gedankliche
Begrifflichkeit gefaßt. Damit ging jedoch zugleich die Materialisierung
jener Vorstellungen einher, die weder in ihrem geistigen Gehalt
noch in ihrem Verhältnis zur modernen Menschheitskultur völlig
verstanden werden konnten.
In dem Streit zwischen 'Westlern' und 'Slavophilen' über die Zukunft des rußländischen Zarenreiches, der nach der Veröffentlichung des sog. Ersten Philosophischen Briefes von Pjotr Ja. Caadajev 1836 entbrannt war, entwickelten slavophile Denker wie Aleksej Chomjakov und Ivan Kirejevskij ihre Thesen von der besonderen christlichen 'Rechtgläubigkeit' und der messianistisch-universellen Erlösungsaufgabe des russischen Bauerntums. Der Aufschwung der ethnologischen Studien in jenen Jahren führte dazu, daß die Intelligenz mit der eigentümlichen Volksfrömmigkeit und ihren nicht immer sehr amtskirchlichen Äußerungen konfrontiert wurde. Aleksej Chomjakov (1804-1860) entwickelte in der Folge den Gedanken, das Russentum sei als der Repräsentant des "Iranismus" zu verstehen, d.h. des wahren Christentums, von Freiheit und Kulturschöpfertum. Für den reinsten Vertreter dieses Prinzips innerhalb des russischen Volkes hielt Chomjakov den Mir, die Bauerngemeinde.[12] Der sonnenhafte Iranismus habe sich seit Anbeginn mit dem konträren Gegenpol des "Kusitismus" (bzw. 'Turan') -- Verkörperung der Notwendigkeit, des Materialismus und der staatlichen Despotie -- in einem ununterbrochenen Kampf befunden. Viele Angehörige der ostslavischen Intelligencija begannen nun zu verstehen, daß sich Christus Jesus, die wahre Geistessonne, tief mit der Existenz und der Arbeit der geknechteten Bauern verbunden hatte, -- ja wahrbildhaft gesprochen in "Knechtgestalt" (F. Tjutcev) unter ihnen wandelte. Auch Fjodor M. Dostojevskij (1813-1883) hielt es für bedeutungsvoll, daß der seit dem Spätmittelalter gebräuchliche Ausdruck für 'Bauer' im Russischen krest'janin lautete: "Vorläufig ist unser Volk erst nur ein Träger Christi, auf den allein es dann auch seine ganze Hoffnung setzt. Es nennt sich der Mann aus dem Volk krest'janin ['Bauer'], das heißt Christ (on nazval sebja krest'janinom, to jest' christianinom), und das ist nicht nur eine zufällige Bezeichnung, sondern hierin liegt eine Idee, die seine ganze Zukunft ausfüllen wird."[13] Mit dieser Vorstellung verband man die Hoffnung, daß in den schlummernden Kräften des russischen Bauerntums, dessen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Zarenreiches im Jahre 1913 fast 70% betrug, auch die Lösung der menschheitlichen sozialen Frage verborgen liege, die als Ankunft des Gottesreiches, des Neuen Jerusalem verstanden wurde. Zugleich nahm das Turan-Thema in der gedanklichen Auseinandersetzung über die Stellung Rußlands gegenüber Asien einigen Platz ein. Denn das Zarenreich war längst zu einem imperialistisch expandierenden Vielvölkerstaat geworden und herrschte nun über die Turkvölker, wie die Mongolen einst über die Russische Erde geherrscht hatten. Dieser Rollenwechsel bestärkte viele Intelligenzler in der Auffassung, daß die Russen in den sibirischen und zentralasiatischen Gebieten des zarischen Imperiums eine "iranisierende" Kulturaufgabe zu erfüllen hätten, "weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch Asiate ist." Dostojevskij schrieb 1881 in sein Tagebuch: "In Europa waren wir nur Gnadenbrotesser und Sklaven, nach Asien aber kommen wir als Herren. In Europa waren wir Tataren, in Asien aber sind auch wir Europäer. Unsere Mission, unsere zivilisatorische Mission in Asien, wird unseren Geist verlocken [...]."[14] Der linke Narodnik ('Volkstümler') Sergej Juzakov (1849-1910) beschrieb die Expansion Rußlands als einen Kampf gegen das nomadische Asien, gegen Turan, "das Asien des Ahriman". Dieser Kampf unterstütze das ackerbauende "Asien Ôhrmazds" in seinem Abwehrkampf gegen das Nomadentum, bedeute jedoch für Rußland ein Opfer. Den imperialistischen Expansionismus nach Zentralasien interpretierte er als die Mission Rußlands, durch die Ausbreitung der Kraft des "bäuerlichen Rußland" die asiatischen Kulturen zu beleben. Im Gegensatz dazu bedeute die kolonisatorische Ausbeutung durch England den Tod Asiens.[15] Auch der Religionsphilosoph Nikolaj Fjodorov (1828-1903) interpretierte den dualistischen Kampf zwischen iranischer Ackererde und turanischer Steppe als Grundgeschehen der gesamten Geschichtsentwicklung. Die Bauernwelt Europas, Rußlands, Irans, Chinas, Indiens, habe sich permanent gegen die Angriffe der Nomadenwelt wehren müssen, die sich mit den Türken und den Seemächten des Westens verbündet hatte.[16] Doch andere Teile der Intelligencija hofften im Gegenteil auf eine Zukunft Rußlands durch die verstärkte Hinwendung an das turanische Element. Der Sozialist Aleksandr Herzen (1812-1870) wandte sich nach den gescheiterten Revolutionen von 1848 enttäuscht von Europa ab und träumte von einer revolutionären Erhebung im Osten. 1860 verfaßte er in seiner Zeitschrift Kolokol ('Die Glocke') einen Artikel, in dem er schrieb: "Man stelle sich vor, was sich ereignen muß, wenn Rußland, welches ein Sechstel des Erdballes einschließt, mit seinen turanischen [...] Mischungen von den 'deutschen' [d.h. hier staatlich-zaristischen] Fesseln befreit [...] zu einer Zusammenarbeit [...] mit den Arbeitern und Landarbeitern Westeuropas gelangen wird." Gerade diese turanischen Elemente hätten Rußlands Verhältnis der Gleichberechtigung gegenüber "Juden, Tschuchonern, Tataren und Kalmyken" möglich gemacht und -- in Gestalt des mongolischen Joches -- das Land vor dem Katholizismus gerettet. Herzen meinte, daß Rußland in der Einrichtung der kollektiven Bauerngemeinde des Mir gewissen asiatischen Völkern ähnle, daß dort mehr "soziale Elemente" zu finden seien als im Westen. Er schloß mit der Feststellung: "Wir können kaum umhin, den Einschlag von turanischen Elementen auf Rußland zu segnen."[17] In den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts vertrat schließlich die Gruppe der 'Eurasier' in besonderem Maße die Auffassung, daß Rußland -- mitsamt seinem religiösen, kulturellen, politischen und sozialen Leben -- eng mit den östlichen, asiatischen Kulturen verbunden war und nur gemeinsam mit ihnen seine geschichtliche Erfüllung finden könne. Die Kultur Europas hingegen, an der auch die Westslaven teilhatten, sei dem innersten Wesen des Russentums fremd, ja schädlich. Die Eurasier verwiesen stattdessen auf die Existenz eines "einheitlichen turanischen ethno-psychologischen Typs", zu dem neben dem Mongolentum auch das Russentum gerechnet wurde.[18] Selbst das Verhältnis der Russen zur Orthodoxie sei durch turanische Psychologie bedingt gewesen.[19] Der berühmte Sprachwissenschaftler Roman Jakobson versuchte, die Existenz eines "eurasischen Sprachverbandes" (jazykovoj sojuz) linguistisch zu beweisen.[20] Und Fürst N.S. Trubeckoj (1890-1938), gleichfalls 'Eurasier', schrieb 1927: "Die positive Seite eines turanischen Seelenlebens hat in der russischen Geschichte unzweifelhaft eine wohltätige Rolle gespielt [...]. Das Bewußtsein seiner Zugehörigkeit nicht nur zum arischen, sondern auch zum turanischen Seelentypus ist für jeden Russen notwendig."[21] So vollzog sich um die Jahrhundertwende in dem sich langsam industrialisierenden und modernisierenden Zarenreich unter den Intellektuellen eine innere 'Asiatisierung', die in geistiger Hinsicht mit einem mehr oder weniger offen ausgesprochenen Bekenntnis zu Turan einherging -- wobei es kein Geheimnis war, welche Eigenschaften die Kulturüberlieferung mit dem Namen Turan verknüpfte. Neben 'Turanern' wurden auch 'Mongolen', 'Chinesen' und 'Skythen' zu philosophischen und literarischen Vertretern dieser angeblich "unverbrauchten" Eigenschaften, in denen sich jedoch -- auf der geistigen Ebene -- widerchristliche, zu magischem Schamanismus tendierende Neigungen auslebten. Wie gesagt: es handelte sich dabei weder um konkrete Völker noch um deren tatsächliche Beziehung zu Rußland, sondern um Gedankenformen und seelische Schleier, hinter denen sich eine bestimmte geistige Wirklichkeit verbarg, die mit der äußeren Erscheinung keineswegs übereinzustimmen brauchte. Hinter den bloßen Bezeichnungen steckten allerdings tatsächlich große soziale Fragen und geistige Kulturaufgaben, die einer umfassenden Lösung bedurften. Mit am klarsten trat es dem Philosophen Vladimir Solov'jov (1853-1900) gegen Ende seines Lebens ins Bewußtsein[22], daß ein entscheidendes Ringen zwischen Iran und Turan bevorstand, dessen Ausgang von einer möglichen politischen Lösung der sozialen Frage abhing. Er prophezeite einen Endkampf Europas mit dem "Panmongolismus", der das Auftreten des Antichristen und das Ende der Geschichte einleiten würde. In dem Gedicht Panmongolizm prophezeite er: "Panmongolismus! Welch wilder Name, Die apokalyptische Erwartung eines bevorstehenden Weltuntergangs war in Rußland vor dem Ersten Weltkrieg allgemein verbreitet. Der Schriftsteller Dmitrij Merezkovskij (1865-1941) vertrat die Überzeugung, daß der verbürgerlichte, erstarrte Westen der heraufziehenden "asiatischen Gefahr" nichts entgegensetzen könne. |
[12] Vgl. hierzu A. Gratieux: A.S. Khomjakov et le mouvement slavophile. Paris 1939, Bd. II, S. 68f.
[13] F.M. Dostojevskij: Tagebuch eines Schriftstellers. München 1963, August 1880, S. 547. Im Russischen steht für 'Bauer' seit dem Ende des 14. Jahrhunderts krest'janin, für 'Christ' (christianin) und für 'Kreuz' (krest').
[14] Dostojevskij: Tagebuch eines Schriftstellers (Anm. 13), S. 584, 591.
[15] Zit. nach Emanuel Sarkisyanz: Rußland und der Messianismus des Orients. Sendungsbewußtsein und politischer Chiliasmus des Ostens. Tübingen 1955, S. 208f.
[16] Nikolaj F. Fjodorov: Socinenija. Moskva 1994, S. 144, 390.
[17] Zit. nach Sarkisyanz: Rußland und der Messianismus des Orients, S. 207f.
[18] N. S. Trubeckoj: O turanskom èlemente v russkoj kul'ture. Vgl. Otto Böss: Die Lehre der Eurasier. Wiesbaden 1961; Leonid Luks: Die Ideologie der Eurasier in zeitgeschichtlichem Zusammenhang. Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 34 (1986), S. 374-395.
[19] Georgij Vernadskij: Opyt istorii Evrazii (s poloviny VI veka do nastojascego vremeni). Berlin 1934, S. 13.
[20] Roman O. Jakobson: O charakteristike evrazijskogo jazykovogo sojuza. Pariz 1931.
[21] Zit. nach Dimitrij Tschizevskij: Russische Geistesgeschichte. Bd. II: Zwischen Ost und West. Reinbek 1961, S. 155.
[22] Hierzu auch der Aufsatz von Florian Roder: Wladimir Solowjow -- sein Ringen um das Problem des Bösen. In: Das Goetheanum, Jhg. 78 (1999), Nr. 47, S. 871-874.
[23] Vladimir Solov'jov: Sobranie socinenij, Bd. XII, Bruxelles 1969, S. 95. |
Der weitverbreitenden apokalyptischen Erwartung lag nicht zuletzt
die ungelöste soziale Frage und das verzweifelte Empfinden der
eigenen geistig-kulturellen Rückständigkeit zugrunde, die die
Arbeiter- und Bauernschaft in eine immer radikalere Haltung trieb.[24] Zahlreiche Menschen aus diesen Schichten waren zudem keineswegs
so treu orthodox und dem Zaren ergeben, wie die Propaganda des
Heiligen Synod (des orthodoxen Kirchenministeriums) klischeehaft
behauptete. Tatsächlich gehörten auf dem Land zahlreiche Menschen
millenaristischen und chiliastischen religiösen Gemeinschaften
an; man schätzt die Zahl der schismatischen Altgläubigen und Sektenanhänger
vor dem Revolutionsjahr 1917 auf bis zu 35 Millionen Menschen,
bei etwa 60 Millionen orthodoxer Christen.[25] Der Bolschewik Vladimir Bonc-Brujevic (1873-1955) erkannte als einer der ersten, daß dieses schlummernde
Kräftepotential ungeahnte revolutionäre Möglichkeiten eröffnete.
Er schrieb bereits im Jahre 1900:
"Zur gegenwärtigen Stunde besteht das ideologische Sammelbecken des russischen Volkslebens aus zwei großen Bewegungen: der Bewegung der Arbeiter und der der Sekten. [...] In gewissen Punkten kann man eine unbestreitbare Annäherung, ein gegenseitiges Verstehen und häufig eine Einheit der Ideale feststellen."[26] Lenin war entschlossen, diese Kräfte für seine Revolution zu nutzen. Er vermerkte: "Die Verbreitung der Sekten und des Rationalismus unter den Bauern ist eine bekannte Tatsache." Er hielt diese Entwicklung für "den Ausdruck eines politischen Protests unter dem Deckmantel der Religion." Aus diesem Grund war Lenin überzeugt, "wenn die Arbeiterklasse das Banner dieses [Klassen-]Kampfes hisst, werden sich hier von überall hilfreiche Hände entgegenstrecken."[27] Als die Sozialisten 1902 Dokumente zur Bauernfrage veröffentlichten, war darin ein Vorwort von Bonc-Brujevic enthalten, in dem er, anscheinend auf Anraten Lenins, das Gerücht zu verbreiten versuchte, der "Wahre Zar" werde bald erscheinen. Damit kam er der allgemeinen Vorstellung entgegen, der zufolge der wahre, legitime Zar -- der Hüter der Pravda -- sich unerkannt unter dem Volk verberge. Bonc-Brujevic schrieb: "Wir sind im Besitz von Fakten, die klar beweisen, daß sich jetzt Legenden mit durchschlagendem Erfolg in die entlegensten Ecken des Landes verbreiten, die aussagen, daß nicht der wahre Zar regiere, sondern daß sich der wahre Zar im Ausland befinde [Lenin befand sich seit 1900 im westlichen Exil, M.O.] und 'das Volk zum Aufstand' aufruft, um den 'Satan' und alle 'satanischen' Ordnungen in Rußland hinwegzufegen."[28] Die Legende vom "Wahren Zaren" wurde mit der Forderung nach Landumverteilung verknüpft, sowie mit dem Hinweis auf das baldige Wiederauftauchen der rechtgläubigen Stadt Kitez, die bei der Invasion der Mongolen auf den Grund des Sees Svetlojar gesunken war.[29] Wiederholt empfahl der Bolschewik und Sektenspezialist Bonc-Brujevic die Angleichung des revolutionären Gedankengutes an die apokalyptisch-millenaristischen Vorstellungen der Bauern. Tatsächlich schrieb man Lenin in den Zwanziger Jahren ein "Drittes Testament" zu (nach dem Alten Bund durch Moses und dem Neuen Bund durch Jesus Christus).[30] Auch zahlreiche Schriftsteller und Intellektuelle verfielen dem bolschewistischen Messianismus. Der Intellektuelle Ivanov-Razumnik verglich die bolschewistische Revolution mit der Geburt zu Bethlehem. Der altgläubige Bauerndichter Nikolaj A. Kljujev (1887-1937) sah im leidenden werktätigen Bauern eine Verkörperung des wiederauferstandenen Christus. Auch bei Andrej Belyjs Freund, dem große Symbolisten Aleksandr Blok (1880-1921), schritt "voran: mit blutiger Fahne, [...] Aber gerade Aleksandr Blok hatte Jahre zuvor erahnt, welche geistige Macht sich wirklich hinter der Revolution verbarg: 'Turan'. In seinem Tagebuch beschrieb er 1911 die Woge des turanischen Panmongolismus, die über Rußland hereinzubrechen drohte, als ein geistiges Geschehen in den Menschenseelen: "So sind wir: Wir gähnen über die gelbe Gefahr, und doch ist China [hier für Turan] schon unter uns. Unabänderlich und unerbittlich verwandelt sich das purpurne Blut der Arier in gelbes Blut. [...] Es bleibt [für Turan] nur noch ein kleiner, letzter Akt zu tun: die äußere Eroberung Europas." In den Straßenbahnen glaubte Blok bereits auf "Mongolen mit gelben Gesichtern" zu treffen.[32] Auch Andrej Belyj, damals bereits ein Schüler Rudolf Steiners, charakterisierte den Revolutionär Nikolaj Apollonovic Ableuchov in seinem Roman 'Petersburg' (1916) als Vertreter der turanischen Urgewalt: "Nikolaj Apollonovic erinnerte sich: Er war ein alter Turaner -- vielmals Verkörperung suchend -- auch heute hatte er sich inkarniert: in Blut und Fleisch des Erbadels des Rußländischen Imperiums, um eine uralte, geheime Mission zu erfüllen: alles in seinen Grundfesten zu erschüttern. Der Alte Drache war mit dem verdorbenen arischen Blut zu füttern, alles in der Flamme zu verzehren; der Alte Orient überzog unser Zeitalter mit einem unsichtbaren Bombenhagel. Und Nikolaj Apollonovic -- war eine alte turanische Bombe, die -- nachdem sie die Heimat erblickte -- explodierte; auf dem Gesicht von Nikolaj Apollonovic erschien jetzt ein vergessener mongolischer Ausdruck."[33] Am 30. Januar 1918 verfaßte Aleksandr Blok das Gedicht Skify ('Die Skythen'); in brutalen, elementaren Bildern schilderte er die bolschewistische Oktoberrevolution als Sieg des 'Panmongolismus'. Zumindest als Dichter identifizierte sich Blok nun mit dem turanischen Doppelgänger, den er sieben Jahre zuvor noch als innere Bedrohung empfunden hatte: "Millionen seid ihr. Wir: ungeheure Mengen. Zugleich formulierte er die dichterisch-visionäre Ahnung, daß das Turan Ahrimans durch die Vermählung zweier Prinzipien an die Macht gelangte: der elementaren Wildheit der alten asiatischen Geistigkeit der Steppe mit dem materialistischen und utilitaristischen Denken des neuzeitlichen Westens: "Geht alle, geht in den Ural! Wir räumen Die turanische Qualität der bolschewistischen Revolutionäre zeigte sich unmittelbar nach der Machtübernahme: Um das alte Rußland mit der Wurzel auszurotten, mußte man vor allem die Lebenswelt der Bauern zerschlagen, dessen Kraftpotential nun nicht mehr als den eigenen Zielen förderlich, sondern im Gegenteil hinderlich wahrgenommen wurde. Schon im Jahr 1918 gab es "allein in zwanzig Gouvernements Zentralrußlands 245 antisowjetische Rebellionen großen Ausmaßes."[35] In der Ukraine erhoben sich alle Schichten der Bauernschaft gegen die Sowjetmacht, die mit großer Härte gegen die Aufständischen vorging. Bürgerkrieg, bäuerliche Ablieferungspflicht und Beschlagnahme aller Produktionsmittel inklusive des Saatguts führten zu der schweren Hungerkatastrophe von 1921, die über fünf Millionen Menschenleben forderte. 1919 brütete Lenin über der Möglichkeit einer Vernichtung der "Kulaken", d.h. des erst zwei Generationen zuvor von der Leibeigenschaft befreiten Kleinbauerntums: "Wir gingen in ein Zimmer, wo Lenin hinter irgendwelchen Dokumenten saß. 'Was tun Sie?' fragte ihn [Maksim] Gor'kij. 'Ich denke darüber nach, wie man die Kulaken besser niedermachen kann, die dem Volk kein Brot geben.' -- 'Was für eine originelle Beschäftigung!' rief Gor'kij. 'Ja, wir machen uns ernsthaft an den Kampf ums Brot, um die einfachste menschliche Existenz."[36] Dieser Kampf trat unter Stalin (dessen Gesichtszüge nicht selten verblüffend an einen lauernden, 'turanischen' Wolf erinnern) im Jahre 1929 in seine entscheidende Phase, als die Kollektivierung des Agrarlandes beschlossen wurde. Stalin gab am 27. Dezember 1929 die simple Losung aus: Likvidirovat' kulacestvo kak klass! ("Das Kulakentum als Klasse liquidieren!"). In den folgenden Jahren wurden über zehn Millionen Bauern nach Sibirien deportiert, wo etwa ein Drittel von ihnen umkam. Außerdem starben über sechs Millionen Menschen auf dem Land während der großen Hungersnot der Jahre 1932/33, die von den Staatsorganen gezielt herbeigeführt worden war.[37] Dieser Haß gegen die Bauern erstreckte sich auch auf die ihnen überantwortete Natur, die mit der gleichen Systematik ausgebeutet und zerstört wurde. In der revolutionären Kunst des Futurismus sprach man von der Pobeda nad solncem, dem "Sieg über die Sonne"; hinter dieser Metapher verbarg sich der vorläufige Triumph jener Mächte, die sich der Kraft der geistigen Christus-Sonne im Menscheninneren und in der Welt entgegengestellt hatten, mit dem Ziel der "Elektrifizierung der Seelen".[38] Lenin, der turanische "Übermensch", dessen Hirn als bioelektrische Gedankenmaschine und 'dunkle Zentralsonne' des Sowjetreichs genauso wie sein Leichnam konserviert wurde, harrte seiner ahrimanischen Auferstehung[39] "im Getöse zahlloser stähl'ner Maschinen
So wurde die alte bäuerliche Lebenswelt des osteuropäischen Bauerntums nach 1918 (bzw. 1948) unwiederbringlich vernichtet. Was anfangs wie der Beginn eines Neuen Zeitalters erschien, führte einen ganzen Kontinent in den Kulturtod. Das neuerliche Gewahrwerden des 'iranischen', durchchristeten Impulses als einer Grundlage der eigenen Geisteswelt, die Sprache und Gedanken bis in die Ausformung hinein prägt, kann bei einem allmählichen kulturellen Neubeginn zu einer wichtigen Kraftquelle werden. Allerdings nur dann, wenn sich die Menschen in vollem Wachbewußtsein in die eigentliche geistige Dimension dieses Impulses zu erheben vermögen, um ihn in entsprechende Gedanken und Taten umzusetzen, die der modernen Lebenswelt gerecht werden. Zugleich wird man verstehen müssen, warum gerade aufgrund der tiefen Verankerung dieses Impulses dämonische Versuchungen, die zur Abirrung und Verkehrung des eigentlichen Wesens führen, in bestimmter Gestalt herangetreten sind und auch in Zukunft noch herantreten können. Diesen Menschen ertönt noch immer der hoffnungsfrohe Ruf des Zarathustra aus den Gâthâs: "Auch der Weiseste unter uns Ich weiß nur, daß bei den Lehren jener Sollen sie bleiben, wie sie sind, Du, o Gott, weißt -- nur weil ich die Menschen liebe, |
[24] Der Schriftsteller Maksim Gor'kij schrieb 1922: "Die Klagen aus dem Dorf über die eigene geistige Finsternis werden immer zahlreicher, klingen immer besorgter." Gor'kij zitierte Beispiele für die Seelenstimmung unter der Bauernschaft: "Einer weiß alles und der andere gar nichts. Das ist ja eben der ganze Jammer! Wie kann ich etwas glauben, wenn ich nichts weiß." -- "Die Städter sind ja ein schlaues Volk, und die Leute im Dorf sind noch dumm und lassen sich leicht übers Ohr hauen." -- "Man müßte die 'Gebildeten' alle von der Erde vertilgen, dann wäre für uns dumme Kerle das Leben leichter. Aber so -- ganz auf den Hund gebracht habt ihr uns!" Maksim Gor'kij: O russkom krest'janstve. Berlin 1922, S. 30-35.
[25] Vgl. Mikhail Agursky: L'aspect millénariste dans la révolution bolchevique. In: Cahiers du monde russe et soviétique 29 (1988), S. 487-513, hier S. 492.
[26] Rabocee dvizenie v Rossii; zit. ebenda, S. 498. [27] V.I. Lenin: Nasa programma und Projekt programmy nasej partii; zit. ebenda, S. 499.
[28] Delo pavlovskich krest'jan, zit. ebenda, S. 500.
[29] Vgl. Sarkisyanz: Rußland und der Messianismus des Orients (Anm. 15), S. 53-63.
[30] A. Roscin: Cto takie sektanty. Moskva 1930; zit. ebenda, S. 103.
[31] Aleksandr Blok: Izbrannye Socinenija. Moskva 1988, S. 544f. Vgl. Mikhail Agursky: The Third Rome. National Bolshevism in the USSR. Boulder/Col.-London 1987, S. 170-184.
[32] Aleksandr Blok: Dnevnik, 14. November 1911, in: Sobranie socinenij. Bd. VII, Moskva 1963, S. 89.
[33] Andrej Belyj: Peterburg. Ausgabe Moskva 1994, S. 240.
[34] Aleksandr Blok: Izbrannye Socinenija. Moskva 1988, S. 546ff. Aleksandr Blok durchlebte anscheinend die dichterische Vision einer geistigen Realität. Am 15. Juli 1921 beschrieb Rudolf Steiner, wie das westliche, naturwissenschaftlich-technische Denken "östlich und westlich vom Gebiete des Ural und der Wolga" mit der magischen Naturzauberei des asiatischen Schamanismus in einer dämonischen "kosmischen Ehe zwischen Magismus und Bolschewismus" verschmolz. Rudolf Steiner: Kulturphänomene. Drei Perspektiven der Anthroposophie (GA 225). Lenin war gewissermaßen die physische Verkörperung dieser 'kosmischen Ehe': in seiner Person trafen strengster Rationalismus auf magische Suggestions- und Willenskraft (und tatarisches Aussehen!).
[35] P.G. Sofinov: Ocerki istorii Veceka. Moskva 1968, S. 82; zit. nach Michail Heller, Aleksandr Nekric: Geschichte der Sowjetunion. Frankfurt/M. 1985, Bd. I, S. 93.
[36] Poslednie novosti, 19. April 1930, zit. nach Heller/Nekric: Geschichte der Sowjetunion I, 93.
[37] Die grundlegende Studie zur Zerstörung des Bauerntums in der Sowjetunion stammt von Robert Conquest: Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929-1933. München 1988.
[38] Wovon z.B. M.P. Gerasimovs Gedicht Èlektrifikacija ('Elektrifizierung', 1924) handelt. Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917-1921). Dokumente des 'Proletkult'. Hrsg. v. Richard Lorenz. München 1969, S. 99.
[39] Nach N.A. Setnickij könne "die Tatsache der Einbalsamierung und Aufbewahrung des Leichnams von V.I. Lenin [...] nur mit dem Gedanken an eine notwendige und unausbleibliche Auferweckung" erklärt werden. Und eine Figur in A.P. Platonovs Novelle Kotlovan (1929-30) verlieh der Überzeugung Ausdruck: "Der Marxismus kann alles. Warum liegt denn Lenin unversehrt in Moskau? Er wartet auf die Wissenschaft, er will auferstehen." Zitate nach Michael Hagemeister: Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung. München 1989, S. 265f.
[40] V.T. Kirillov: Zeleznyj Messija ('Der eiserne Messias', 1918), in: Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (Anm. 38), S. 90.
[41] Yasnâ XXXII:7-16, nach der großartig-kongenialen Wiedergabe durch Paul Eberhart: Das Rufen des Zarathushtra (Die Gathas des Awesta). Ein Versuch ihren Sinn zu geben. Jena 1913, S. 16-18. |
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