Mykhailo Hrushevsky:

History of Ukraine-Rus’

Vol. 1:
From Prehistory to the Eleventh Century


Hrsg. v. Frank E. Sysyn, Andrzej Poppe und Uliana M. Pasicznyk. Übers. v. Marta Skorupsky
Edmonton: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press 1997. 602 S. ISBN: 1895571197




Buchrezension von Markus Osterrieder









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Letztes Update: 28 Oct 2005




Der ukrainische Historiker Mychajlo Hruševs’kyj gehört zu den großen Gestalten der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Und doch ist er selbst unter Historikern, sofern sie sich nicht auf die Geschichte des Ostslaventums im allgemeinen und der Ukrainer im besonderen spezialisiert haben, weitgehend unbekannt oder wird pauschal als 'Nationalist' abgetan. Er schuf bereits im Jahre 1904 ein alternatives Schema zur Geschichte der Ostslaven, das erstmals die Geschichte des rußländischen Staates von der Geschichte der drei ostslavischen Völker trennte. Obwohl Hruševs’kyj zahlreiche grundlegende Fragen aufwarf, die bei aller möglichen Kritik an seinen Schlußfolgerungen keineswegs an Bedeutung verloren haben, war die Wirkung seines monumentalen Schaffens auf die Geschichtsforschung eher gering. Zu stark wirkte die traditionelle, erst reichsorientierte rußländische, später sowjetische Geschichtsauffassung, deren Vertreter bis auf wenige Ausnahmen dem Werk Hruševs’kyjs gegenüber feindselig eingestellt waren. Denn bei der Beschäftigung mit den Thesen von Hruševs’kyj stößt man früher oder später unweigerlich auf die Probleme der Herrschaftsbildung und Macht, sie können nicht nur historische Sichtweisen verändern, sondern durch ihren föderativ-dezentralistischen und populistischen Grundton auch hierarchische politische Systeme erschüttern.

Einer der Zentralgedanken Hruševs’kyjs kreiste um den Begriff der "dynamischen Kraft der Entwicklung" als Ursache des geschichtlichen Fortschritts. Jedes Volk, jedes Wesen besitze ein Recht auf Entfaltung seiner Entwicklungspotentiale, die auf Dauer nicht aufgehalten oder rückgängig gemacht werden könnten. Grundlage des Fortschritts sei "die Heiligkeit der Arbeit". Als Ziel dieser Entwicklung sah er die "klassenlose Gesellschaft", in der Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen würden, wo die Menschenrechte, das Recht auf Grund und Boden und auf vollen Arbeitsertrag gesichert sind. Der Klassenstaat müsse dann verschwinden und den Platz räumen für eine Weltföderation der autonomen Gesellschaften. Gleichzeitig lehnte Hruševs’kyj die marxistische Klassenunterteilung ab, weil er sich gegen jede "künstliche" Atomisierung des geknechteten Volkes wandte. Hruševs’kyj war überzeugt, daß die Zwangsstaaten mechanische Gebilde ohne Dauer und Zukunft darstellten und von den freien, föderativen Gemeinden abgelöst werden würden. Das rußländische Imperium war ihm eine zufällig entstandene, sinnlose, räuberische Maschine, die allein der "bürokratischen Horde" Nutzen brachte, die das Reich regierte. Dagegen sah er in der Geschichte der Ukraine einen Musterfall für das stetige Streben eines Volkes nach Verwirklichung der Freien Gesellschaft. Dieser stark betonte Populismus wurde schon zu Lebzeiten Hruševs’kyjs auch von ukrainischen Historikerkollegen kritisiert, die ihre nationalistischen Sichtweisen erneut in einen zwar eigenständigen, jedoch ebenfalls staatsbetonten, hierarchisch gefügten Zusammenhang stellen wollten.

Hruševs’kyjs Lebenswerk, über 2000 bibliographische Einträge, kann man nur monumental nennen. Es gipfelt in der zehnbändigen Istorija Ukrajiny-Rusy, die zwischen 1898 und 1937 erschien (der letzte Band posthum); sie präsentiert und interpretiert die Geschichte der Ukraine-Rus' von der Vorgeschichte bis in die 1650er Jahre. Bereits 1906 erschien in Leipzig eine deutsche Übersetzung des ersten Bandes, die jedoch keine große Beachtung fand. In dem breitangelegten, nicht nur synthetisierenden, sondern in weiten Bereichen durch die Einbringung eigener Forschungsergebnisse bahnbrechenden Werk versuchte Hruševs’kyj seine These zu untermauern, die er 1904 in dem Aufsatz "Das traditionelle Schema der 'russischen' Geschichte und das Problem einer rationalen Gliederung der Geschichte der Ostslaven" dargelegt hatte: Das dynastisch bezogene Schema der Moskoviter Chronisten sei von den späteren Historikern mit der Geschichte des Volkes, seiner sozialen Struktur und Kultur vermengt worden. In Wirklichkeit, so betont Hruševs’kyj, sei das Kiever Reich die Schöpfung eines Volkstums, der Rus'-Ukrainer gewesen, während die nordöstlichen Fürstentümer auf dem Territorium eines anderen Volkstums, der Großrussen, entstanden seien. Dementsprechend müßte eine geschichtliche Darstellung der Kiever Rus' bei dem Volkstum weitergeführt werden, das "genetisch" und territorial mit dem Gebiet der Kiever Rus' und ihren Traditionen verbunden blieb: bei den Ukrainern. Überhaupt habe man der Rolle des "Staates" im Verlauf der "russischen Geschichte" eine zu große Aufmerksamkeit geschenkt. Hruševs’kyj forderte im Sinne seiner politischen Überzeugungen, daß man den Schwerpunkt der Darstellung von der Beschreibung des Staates und seiner Herrscher auf die Geschichte des "Volkes und der Gesellschaft" verlagern müsse. In seiner Istorija vollbrachte Hruševs’kyj dies mit solcher Gründlichkeit und stupender Gelehrsamkeit, das das Werk auch noch heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.

Umso verdienstvoller ist das Bemühen, das Hauptwerk des ukrainischen Historikers durch eine Übersetzung ins Englische einer breiteren westlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Rahmen des Hrushevsky Translation Project des Canadian Institute of Ukrainian Studies unter der Leitung von Frank E. Sysyn liegt nun der erste Band der neuen Übersetzung vor. Er behandelt den Zeitraum von der Frühgeschichte bis zur Konsolidierung des ersten Kiever Reiches. Und man kann sagen, daß die englische Ausgabe im Geiste Hruševs’kyjs um große Detailgenaugkeit und Gründlichkeit bemüht ist. Text und Anmerkungen wurden ungekürzt übertragen, die Übersetzung von Marta Skorupsky ist gut zu lesen und zugleich eng dem Original folgend. Die Herausgeber des ersten Bandes, Andrzej Poppe und Frank E. Sysyn, sowie ein größerer Stab von Mitarbeitern versuchten alle bibliographische Verweise Hruševs’kyjs durch eigene Sichtung nachzuprüfen, um daraus eine alphabetisierte Bibliographie zu erstellen, die den Horizont des Historikers eindrücklich dokumentiert.

Ebenso vorbildlich ist die Erstellung des ausführlichen, fast 40seitigen Registers. Hruševs’kyjs Text wurde an mehreren Stellen von den Herausgebern in eigenen Fußnoten vorsichtig kommentiert und falls erforderlich ergänzt. In einer Hinführung zur Gesamtausgabe der Istorija skizziert Frank E. Sysyn den turbulenten Werdegang Hruševs’kyjs und seine Bedeutung für die Neuausrichtung der ukrainischen Geschichtswissenschaft in der postsowjetischen Zeit. Andrzej Poppe geht in seinem Vorwort zum ersten Band auf den Vergleich der Arbeit mit dem heutigen Forschungsstand ein; ferner verdeutlicht er, daß Hruševs’kyj im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen trotz seiner Vorliebe für eine "nationale", ethnisch betonte Sichtweise des Geschichtsprozesses keine völkischen oder gar biologistisch-rassistischen Standpunkte vertrat, was sich zum Beispiel an der Vorliebe für die anthropologische Methodik eines Rudolf Virchow zeigte. Poppe betont auch, wie "modern" die Istorija auch noch heute anmutet und wie sie dem heutigen Forschungsstand wesentlich besser entspricht, als die 1981 erschienene, von einem ganzen Wissenschaftlerteam erarbeitete, ideologisch überfrachtete Istorija Ukrainskoj SSR.

Natürlich darf man nicht übersehen, daß Hruševs’kyjs Werk auch seine methodischen Schwächen hat, die im wesentlichen zeitbedingt sind. So wird gerade anhand der Vor- und Frühgeschichte deutlich, daß sehr oft die Denk- und Vorstellungswelt des späten 19. bzw. frühen 20. Jhs. der Darstellung übergestülpt wird, was sich beispielsweise am unreflektierten Gebrauch des Begriffs deržava und den Ableitungen in neuzeitlicher Semantik (in der englischen Übersetzung noch extremer state, statehood, etc.) äußert. Das Ringen der ukrainischen Intelligenz an der Jahrhundertwende um eigenständige nationale und staatliche Strukturen spiegelt sich hierbei zu deutlich in der Interpretation der Herrschaftsbildung im Dnipro-Becken vom 8.-10. Jh. Der Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. ist ein wesentlicher methodischer Gewinn erwachsen, als man begann, auch die Veränderungen von Wahrnehmung und Bewußtsein oder zeitlich, kulturell bzw. geographisch bedingte mentale Prozesse einzubeziehen. Hiervon ist bei Hruševs’kyj verständlicherweise wenig bis gar nichts zu finden. Deswegen kann seine Schilderung wechselseitiger Kulturbeeinflussung (z.B. der hellenischen Kultur auf die Skythen, der skytho-sarmatischen Kultur auf die Protoslaven) trotz der ausgezeichneten Quellenkenntnis heute nicht ganz befriedigen. Auch seine Darstellung der Taufe der Rus' unter Fürst Volodymyr ist stark von der "aufgeklärten" Haltung des 19./20.Jhs. bestimmt:

    "Leaving aside such spiritual, Providential interpretations of Volodymyr's conversion, we need to seek out more realistic and concrete motives for Volodymyr's actions as a ruler and a politician. [...] Over the span of several years, he succeeded in rebuilding a desintegrated Rus' state. [...] Consequently, without wholly disregarding the moral elements that might be involved, [...] in such consummate politicians, reasons of state always lie at the heart of every undertaking." (S. 384.)

Derartige Feststellungen können der mentalen Welt der Menschen des 10. Jhs. nicht gerecht werden. Hier kann man Hruševs’kyj nicht zuletzt als politischen Didaktiker erkennen, der seinem Volk nationale Geschichte vermitteln wollte, die auf ein säkularisiertes, aber doch teleologisches Ziel gerichtet ist: staatliche Selbstbestimmung und Selbständigkeit.

Diese Einwände aus der heutigen Perspektive schmälern nicht die ungeheuere Leistung des Historikers, die akribische Gründlichkeit, den Atem seiner Darstellungen und die intelligente Neudeutung des Verlaufs der osteuropäischen Geschichte, die kein Fachkollege übergehen dürfte. Denn noch immer wird die Geschichte Osteuropas zu einseitig aus der Perspektive der jeweiligen Herrschaftszentren gedeutet, was nicht nur für die Geschichte der Völker in diesem Raum Konsequenzen hat, sondern auch für die wechselseitigen Beziehungen Osteuropas zu Mittel- und Westeuropa. Daß Hruševs’kyjs Hauptwerk durch die vorliegende Übersetzung in einer vorbildlich gestalteten, der Bedeutung der Istorija angemessenen Ausgabe erscheint, die ihn weiten Kreisen der westlichen Öffentlichkeit zugänglich macht, ist nur zu begrüßen, ebenso wie die Tatsache, daß ukrainische und polnische Historiker gemeinsam an der Herausgabe gearbeitet haben.


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