Europa!

Aber wo liegt es?

 

Eine liebevoll-polemische Betrachtung




von Markus Osterrieder








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Letztes Update: 10. März 2005
Gekürzte Druckversion erschienen in: Die Drei, Jhg. 73, Nr. 7-8 (2003), S. 12-24




»Europa? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das geistige beginnt, hört das politische auf.«

Wie nahe es doch liegt, die Weimarer Xenie von 1796, die sich auf ein imaginäres Deutschland bezog, auf die heutigen Verhältnisse frei umzudeuten.

Ja, was ist dieses Europa überhaupt, um dessen Wesen und Identität schon viel länger gerungen und gekämpft wurde als um die leidige Frage nach der Identität der Deutschen. Die heutige internationale, politisch korrekte Sprachregelung hat es geschafft, die Vorstellung von »Europa« in solch hohem Maß mit dem wirtschaftspolitischen Gebilde der Europäischen Union zu verbinden, das eine andere Deutungsmöglichkeit kaum mehr in das Bewußtsein treten kann.

»Europa ist eine Tatsache, die dadurch wird, dass man sie schafft.« So der Schweizer Literat Adolf Muschg. Um im nächsten Satz zu behaupten: »Fraglos ist Europa nur als Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft«. Was nun: War es mal, ist es schon, wird es erst? »Europa ist das, was Europa wird.«[1] Die Feuilletons in der europäischen Presselandschaft sind zur Zeit voll von solchen nichtssagenden Feststellungen, die mehr den fortgeschrittenen Niedergang des europäischen Geisteslebens dokumentieren, als irgendeine gehaltvolle Vision einer gemeinsamen europäischen Zukunft.

Doch ist da nicht noch die Achse Berlin-Paris? Die postmodernen Herren Habermas und Derrida geben sich philosophisch: »Eine attraktive, ja ansteckende ›Vision‹ für ein künftiges Europa fällt nicht vom Himmel. Heute kann sie nur aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit geboren werden.« Nun, Habermas und Derrida scheint diese Ratlosigkeit nicht weiter zu beunruhigen, reden sie doch munter von der Umsetzung der Visionen, mit denen diese Dame »Europa« (gemeint ist natürlich – prosaischer – die EU) bekanntlich scheinschwanger geht: »Europa muß sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren. Auf Weltwirtschaftsgipfeln und in den Institutionen der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sollte es seinen Einfluß bei der Gestaltung des Designs einer künftigen Weltinnenpolitik zur Geltung bringen.«[2]

Gestaltung des Designs (welch aussagekräftige Worte!) der Weltinnenpolitik, die Franzosen sprechen en franglais treffend von le look – ja, das klingt als Ziel bescheiden genug für diese aufgeklärten universalistischen Europäer, die »mit dem wachsenden Abstand von imperialer Herrschaft und Kolonialgeschichte […] »die Chance erhalten [haben], eine reflexive Distanz zu sich einzunehmen« (!) und die selbstverständlich auch schon wissen, wie sich diese Weltinnenpolitik unter »europäischem« Einfluß gestalten wird: Form über Inhalt. Denn »die EU bietet sich schon heute als eine [Designer-?]Form des ›Regierens jenseits des Nationalstaates‹ an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen könnte.«

Natürlich, falls man die Zukunft des Regierens unter weitgehendem Ausschluß der unaufgeklärten Öffentlichkeit, der »irrationalen dummen Massen«, in der Rückkehr zum vorrevolutionären Ancien Régime des aufgeklärten Absolutismus sucht, wie das in der Europäischen Union immer noch, trotz Verfassungsentwurf, gängige Praxis ist. Zurück also zur Gestalt des aufgeklärten Präsidialherrschers à la Konventpapst Valéry Giscard d’Estaing, der sich wie mit einer ebensolchen aufgeklärten, neo-enzyklopädischen Designerelite von Habermässern und Derridianern umgibt, welche uns postmodern erklärt, wie man sich den gestylten Entwurf eines »friedlichen, kooperativen, gegenüber anderen Kulturen geöffneten und dialogfähigen Europas« vorzustellen hat, während die europäischen Gesellschaften immer stärker von »irrationalen« Ängsten heimgesucht werden, die durch den »rationalen« Gestaltungswahn der Elite ausgelöst werden.

Ist es vielleicht das verborgene Ziel dieser europäischen Integration, den europäischen Raum kulturell, politisch und sozial in das Zeitalter vor der Französischen Revolution zurückzuwerfen, eben in den aufgeklärten Absolutismus anno 1770, mit einigen plebizitären Einspengseln, aber bitte nicht zu vielen? Aus Angst vor der Emanzipation mündiger Bürger, die gar den Wunsch haben könnten, als Menschen zu erwachen?

Denn auch hierzulande nimmt man sich die Ratschläge zu Herzen, die ein transatlantischer Aufklärer, Harvard-Professor Samuel Huntington, seiner Regierung bereits 1975 in der Studie The Crisis of Democracy gab: »Die Verwundbarkeit der demokratischen Regierung […] beruht in erster Linie nicht auf äußerer Bedrohung, […] sondern auf der inneren Dynamik der Demokratie selbst in einer hochgradig gebildeten, mobilisierten und teilnehmenden Gesellschaft. […] Einige der heutigen Probleme des Regierens […] stammen aus einem Übermaß von Demokratie. […] Benötigt wird hingegen ein größerer Grad an Mäßigung in der Demokratie. […] Die wirkungsvolle Funktionsweise eines demokratischen politischen Systems benötigt ein gewisses Maß an Apathie und Nichtbeteiligung auf seiten einiger Individuen und Gruppen.«[3]

Denn handelt es nicht etwa darum, »eine Aristokratie des Geistes und des Charakters« zu fördern, »deren Mitglieder sich der Aufgabe widmen, die Demokratie zum Besten zu gestalten, ob es der Pöbel will oder nicht«?[4] Weil, wie der angelsächsische Insider Lionel Curtis schon 1919 bemerkte, »die öffentliche Meinung auf den richtigen Weg geführt werden müsse. […] Das ist die Aufgabe einiger weniger Männer, die in wirklichem Kontakt mit den Tatsachen stehen.«[5] Weil, wie Curtis’ Freund, der amerikanische Journalist Walter Lippmann wenig später schrieb, die Demokratie nur funktionieren könne ohne die »unerträgliche und undurchführbare Fiktion, daß jeder von uns eine kompetente Meinung über öffentliche Angelegenheiten erwerben müsse.« Politische und soziale Fragen sollten vielmehr eigens trainierten »Experten« vorbehalten bleiben, die sich durch ihre rationale »Wissenschaftlichkeit« über die gesellschaftlichen »Stereotypen« hinweggesetzt hätten. In zu diesem Zweck geschaffenen Instituten und Einrichtungen könnten sie die Informationen untersuchen, ihr Rat solle das Urteil der Regierenden vorformen, und die Regierung solle das Urteil der Öffentlichkeit zur Zustimmung oder Ablehnung vorlegen. »Das allgemeine Interesse entzieht sich zum größten Teil vollständig der öffentlichen Meinung, und kann nur von einer spezialisierten Klasse gehandhabt [managed] werden.« Der Außenstehende könne zwar den Experten befragen, ob er alle Faktoren berücksichtigt habe, doch ein eigenes Urteil über die ausschlaggebenden Tatsachen stehe ihm nicht zu.[6]

In diesem Licht gesehen, wäre das Thukydides-Zitat im EU-Verfassungsentwurf[7] (»unsere Verfassung wird Demokratie genannt, weil die Macht nicht in den Händen einer Minderheit liegt, sondern in denen der größten Zahl«) blanker Zynismus.

Aus solch erleuchteten oligarchischen Reihen, die auf beiden Seiten des Atlantik längst Wirklichkeit sind, wird wahrscheinlich auch der Europäische Kulturminister kommen, der sein Füllhorn ausschüttet (oder vielmehr das, was die bereits eingeforderte »friedliche, kooperative, dialogfähige« Europäische Rüstungsagentur[8] einmal davon übrig lassen wird) über die subventionierten elitären Initiativen zur Rettung der europäischen Identität. Es läßt sich herrlich über »Weltinnenpolitik« philosophieren, solange die wechselseitige Unkenntnis, wie etwa die eines Portugiesen über Lettland oder die eines Deutschen über die Slovakei (selbst Altbundeskanzler Helmut Schmidt hatte noch im Jahr 2000 in staatsmännischer Arroganz »einige Zweifel« angemeldet, ob man die Slovaken zum europäischen  Kulturkreis rechnen dürfe) das charakteristische verbindende Merkmal der Bewohner der Europäischen Union bleibt.

Dem könnte man ja abhelfen durch die Erstellung eines von den Erleuchteten abgesegneten Lesekanons der »großen Bücher Europas« für Schulen und Universitäten, ähnlich dem Grand Narrative, der den jungen Amerikanern vierzig Jahre lang das Gehirn wusch, um ihnen beizubringen, wer sie nun eigentlich seien.[9] Auf diese Weise kann die Vergötzung der »reinen Vernunft« gestern wie heute als ein verstecktes oligarchisches Herrschaftsmittel über das Bewußtsein der Menschen dienen, – als ein Macht- und Herrschaftsmittel, welches die westlichen Gesellschaften in der öden Debilität der Talk Shows und des tititainment (Zbigniew Brzezinski), in Ideenlosigkeit, geistigem Konformismus und »politischer Korrektheit« zu fesseln sucht, welches von »stärkerer demokratischer Partizipation« tönt, aber in Wirklichkeit politische Resignation und Enthaltung meint.[10]

Dieses Problem ist nicht neu, und es ist nicht auf Europa beschränkt. In mehrfacher Hinsicht ist die gegenwärtige Rivalität zwischen den USA und »Old Europe« ein Scheingefecht, denn die Waffen entspringen demselben rationalistisch-utilitaristischen Quell der triebgesteuerten Begierden-, Lust-, Glücks- und Wünschewelt. Die Gedanken der amerikanischen Machtelite entstammen der europäischen Aufklärung, und die Ideen der europäischen Machtelite entstammen dem amerikanischen Wirtschaftsliberalismus, weswegen Transatlantiker gern darauf verweisen, daß »die Triebkraft europäischer Erneuerung […] jene angewandte Aufklärung sein [muß], die Europa und Amerika verbindet«[11]. Wird deswegen von den USA als Mars und von Europa als Venus gesprochen, die sich nicht mehr verstehen könnten[12], so liegt in dem dahinterstehenden mythischen Bild doch das verborgene Ziel der synthetischen Liebesheirat verborgen, die sich zwischen Venus und Mars vollzieht, vielleicht in Gestalt der längst ins Auge gefaßten Transatlantischen Freihandelszone (TAFTA). Darauf konnte sich auch EU-Chefdiplomat Javier Solana beziehen, als er in Harvard daran erinnerte, daß aus dieser Vereinigung von Mars und Venus die Göttin Harmonia hervorging.[13]

Denn einer der wahren »Väter Europas«, der US-Außenminister (1953-1959) John Foster Dulles, stellte bereits 1956 fest – ein Jahr vor Unterzeichung der Verträge von Rom, daß sich die Westeuropäer nie vereinen würden, wenn nicht die Amerikaner dabei Nachhilfe leisteten, indem sie durch ihr Verhalten eine emotionale »Dosis Anti-Amerikanismus« unter den Europäern schüren.[14]

Was nützt so gesehen das letzlich inhaltsleere, »empörte« Gezeter über den amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, wenn dieser wiederholt vom Alten Europa spricht und dabei (bewußt?) den Europäer Tomáš G. Masaryk zitiert, den späteren ersten Präsidenten der Tschechoslovakischen Republik, der in seiner Schrift Das Neue Europa 1917 den »alteuropäischen« Deutschen vorwarf, sie wollten unter der Maske von »Mitteleuropa« einen großen Teil der »Alten Welt« Europas und Asiens zu ihrem Vorteil ausbeuten? Masaryk meinte damals, man müsse dem Alten Europa der Mittelmächte eine »innerliche, geistige Amerikanisierung« entgegenstellen, die auf den Prinzipien der Unabhängigkeit, Freiheit und Humanität gründe und eine einheitliche Organisation der gesamten Menschheit nach den »politischen Prinzipien der Neuen Welt« [USA] mit sich bringen werde, »durch welche […] die politischen Probleme in ihrer Gesamtheit gelöst werden.«[15] Entgegengestellt wird heute ein Neues Europa, das sich in der sogenannten Vilnius-10-Gruppe wiederfindet, den postsozialistischen Staaten Albanien, Bulgarien, Kroatien, Estland, Lettland, Litauen, Makedonien, Rumänien, Slovakei und Slovenien. Jenen Staaten also, die Präsident Chirac »infantil« nannte und das Wort verbot, wollten sie noch nach »Europa« zurückkehren (»je crois qu’ils ont manqué une bonne occasion de se taire«[16]).

Aus der Sicht der »Großen« in der EU – darunter vor allem Frankreich, Deutschland und das Vereinigte Königreich – tritt eine Haltung gegenüber den östlichen Beitrittskandidaten hervor, die in jenen Ländern allzuoft wirtschaftsgeographische und geopolitische Verschiebemasse sieht, ihre kulturelle Eigenheit geflissentlich ignoriert.[17] Und nicht zuletzt wegen der im Vorfeld des Irak-Krieges geschmiedeten Achse Paris-Berlin-Moskau – dem alten Traum aller Anhänger der Eurasischen Idee[18] oder gar der LaRouchianer – stieg in den Hauptstädten der Vilnius-10-Gruppe die Sorge, ob nicht sogar die alte imperiale Auffassung wiederkehren könnte, daß »das Kleinstaatengerümpel, das heute noch in Europa vorhanden ist, so schnell wie möglich liquidiert werden muß«.[19]

Die zuerst in Moskau eingeübte und nun dem neuen »Großen Bruder« in Washington entgegengebrachte Unterwürfigkeit vieler postsozialistischer Staaten entspringt nicht zuletzt einem tiefverwurzelten, »alteuropäischen« Kulturproblem, einem Mißtrauen gegenüber den wahren Intentionen der westeuropäischen Nachbarn. Denn schließlich waren es die westlichen Aufklärer, welche die Vorstellung des »Ostens« als einem minderwertigen, barbarischen, nicht mehr in die tradierten europäischen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen passenden kulturellen und geographischen Raum erfanden und prägten[20]. Ganz in diesem Tenor schreibt der Historiker Hans-Ulrich Wehler, »verbindende Traditionen und Erfahrungen bedürfen jetzt der Mobilisierung, damit die politische Einheit Europas verwirklicht werden kann«, weswegen so suspekte, »nicht europakompatible« Staaten wie Weißrußland, Ukraine, Moldavien [aber nicht Rumänien und Bulgarien?], Rußland und »erst recht« die Türkei, die alle »nie Bestandteile des historischen Europa gewesen« seien, gleich vor der Tür blieben…[21]

Wie der ukrainische Prosaist und Lyriker Jurij Andruchovyč einmal geistreich bemerkte, finde ein Schriftsteller, der aus Ostmittel- oder Osteuropa in den Westen komme, dort literarisch gesehen eine ideale Situation vor: Er kann über sein Land, über seinen Teil des Kontinents fantastische Geschichten erzählen, sie als die reinste Wahrheit verkaufen und sich danach zur Ruhe begeben, denn seine Erzählungen werden nie verifiziert werden. Einerseits, weil die Öffentlichkeit denkt, dort könne wirklich alles geschehen, andererseits, weil diese Länder den Westen eher an eine literarische Fiktion als an real existierende Staaten erinnern.[22]

Generell ist auffallend, wie selten in den gegenwärtigen europäischen Identitätsdebatten von der Kraft der Kultur oder gar des Geisteslebens die Rede ist, sofern man nicht die allerdings vielbeschworenen »Traditionen« meint.[23] Vielleicht, weil Geistesleben im Wesen individuell entsteht, im Wesen Opposition gegen das Herrschende ist (deswegen die Versuche des Staates, es zu kontrollieren oder ganz zu ersticken). Vielleicht, weil dort die Urwunde der europäischen Krankheit verborgen eitert. Denn von diesem europäischen Geistesleben wollen die meisten Debattanten nur noch das gelten lassen, was man im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch RRE nennt: Renaissance, Reformation, Enlightenment, und letzteres – die Aufklärung – endet im deutschen Kulturraum bekanntlich bei Kant: »[…] als Vordenker einer europäischen Union hat er durchaus seinen Platz. Ja, wir sind Kantianer!«[24]. Für den späten Lessing und seiner »Erziehung des Menschengeschlechtes«, für Fichte oder Novalis ist da schon kein Platz mehr.

Das große Schreckgespenst dieser Identitätsdebatten verbirgt sich unter dem Stichwort »Irrationalismus«, worunter man alle Anschauungen einreiht, die davon ausgehen, daß es selbst in Politik und Wirtschaft gestaltende Kräfte geben könnte, die mit dem menschlichen Intellekt allein nicht zu fassen, geschweige denn zu beherrschen sind. Denn aus solch »irrationalen« Wurzeln gespeist, so meinen die Priester des reinen Rationalismus und der positivistisch-frommen Denkungsart, hätten schließlich die europäischen Totalitarismen den Kontinent in den Untergang gerissen. Nur solange die Metaphysik so profund ist wie der Ernährungswert einer Currywurst, wie auf Kirchentagen und Papstreisen, oder wenn seine ›Heiligkeit‹ der Dalai Lama im coolen ›Jesus liebt dich‹ T-Shirt das »Streben nach dem Glücklichsein« zum »wichtigste[n] Ziel in unserem Leben« erhebt (da die neurotischen abendländischen Ohren sowieso nichts anderes mehr zu verstehen scheinen?), richtet sie in den Augen der »aufgeklärten« europäischen Intelligenzkaste, den Urenkeln Francis Bacons und Kants[25], keinen sozialen »Schaden« an, dient sie doch höchstens als sedatives Placebo einer geistlichen Love Parade.

–– Genug der Polemik, die der Trauer entspringt und dem Zorn über die epidemisch grassierende Verblödung, aber auch (und vor allem) der lebenslangen, bitteren Liebe zur rodzinna Europa (Czesław Miłosz), der heimatlichen, von ihren Kindern vergewaltigten und zerstückelten Königin, der innigen, verzehrenden Liebe zu diesem unversöhnten Reichtum an Sprachen, Kulturen, Seelenlandschaften, Denk- und Gesinnungsweisen, diesem einmal unversiegbar scheinenden Quell potentieller Individualwerdung, zu dieser Mutter des modernen Menschen in all seiner Abscheulichkeit und all seiner Herrlichkeit, am krisenhaften Scheideweg der Geister. Alles hat die Königin Europa gekannt, die heimatliche, alles, von allem gekostet, und hat mit ihren Gedanken und Taten die Welt überzogen wie mit den Pollen einer Blüte, aus denen sie beide quellen, selig-unselig: der Baum des Lebens ebenso wie der Baum des Todes, Erlösung wie Verfluchung.

Über Europa metaphysisch zu denken, die Frage nach der spirituellen Verortung des europäischen Kulturraums innerhalb des Weltgefüges zu stellen, ist heute ein nicht ungefährliches Unterfangen. Das Feld der ernsthaften Debatte darüber überlassen die Feuilleton-Apostel der funktionellen Rationalität leider!! weitgehend Vertretern der Neuen Rechten (wie Alain de Benoist oder Robert Steuckers) und des hermetischen Traditionalismus, die sich auf Evola, Guénon, Tomberg, den Eranos-Kreis oder gar auf Johannes Paul II. berufen. Aber auch das ist System, will man jegliche ernsthafte Suche nach spiritueller Wandlung mit dem Verweis auf »Faschismusverdacht« im Keim ersticken. Dabei liegt gerade darin die zentrale Frage der Selbstbesinnung, die jeden nachdenklichen Europäer bewegen könnte: Was gibt es denn hier in der Alten Welt eigentlich überhaupt noch an geistiger, kulturschaffender Kraft jenseits der »Traditionen«, was auf Angehörige anderer Kulturen ernst zu nehmend, attraktiv, ja anziehend wirken könnte, so daß man selbst auf fernen Kontinenten zu dem Schluß kommen könnte, frei nach František Palacký: »Wahrlich, existierte dieses Europa nicht schon längst, man müßte im Interesse der Welt, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, es zu schaffen.«[26]

Oder leben wir in Europa nur noch aus den kraftlosen Resten des Vergangenen und Vergammelten, in Verweigerung jener spirituellen Erneuerung und Metamorphose, ohne die »der Untergang des Abendlandes besiegelt« ist, wie der große Europäer Rudolf Steiner in düsterer Voraussicht bereits 1921 bemerkte und hinzufügte: »Wofür in Europa bisher eine Art von Mittelpunkt war, das hat im Grunde genommen aufgehört. Wir leben heute innerhalb seiner Reste.«[27] In diesem Fall würden jene Stimmen Recht behalten, die gegenwärtig ganz andere Töne einschlagen und der EU jede weitere Lebensfähigkeit absprechen: »Auf die Liste der politischen Gebilde, die ausersehen sind, im Urinal der Geschichte runtergespült zu werden, müssen wir auch die Europäische Union und Frankreichs Fünfte Republik setzen. Die Frage ist nur, wie unerquicklich ihre Auflösung werden wird«[28]. Werden die Europäer endgültig zu geistig kastrierten Helotenvölkern herabsinken, zu denen sie sich mit dem Rasiermesser der Aufklärung selbst verstümmelten, oder werden sie, durch kommende, schwere soziale und andere Katastrophen veranlaßt, doch noch »zur Suche nach einem Neuen Indien aufbrechen, das nicht im Raume existiert; in Schiffen, ›gebaut aus dem Stoff, aus dem die Träume sind‹«? Werden sie dann noch die spirituelle Kraft finden, ihrer »wahren, höchsten Bestimmung« nachzukommen, »von der das Werk der Seefahrer lediglich eine dunkle, vorweggenommene fleischliche Nachahmung war«, wie ein anderer großer Europäer, der Portugiese Fernando Pessoa zu Beginn des 20. Jahrhunderts es noch erhoffte, suchend nach der Verwirklichung der unsichtbaren Sphäre des Geistes im Inneren des Menschen[29]?

Jedenfalls ist das kulturelle europäische Erbe vergangener Jahrhunderte längst verzehrt. Aus einem museal aufbereiteten Geistesleben, aus konservierten Traditionen heraus läßt sich nicht mehr länger leben. Kluge Europäer hatten schon vor Jahrhunderten begriffen, wie die Weltentwicklung dahin führen mußte, daß die europäische Expansion nach Ost und West eine polare Weltgegensätzlichkeit der Seelenhaltungen entstehen ließ, zwischen denen Europa vollständig aufgesogen zu werden drohte. Baron Friedrich Melchior von Grimm (1723-1807), gebürtiger Regensburger, aufgeklärter Mitarbeiter an der Encyclopédie und seit 1776 als Gesandter des Herzogs von Sachsen-Gotha am französischen Hof, kommentierte die Emanzipation der USA nach der Unabhängigkeit 1776 in einem Brief an die rußländische Zarin Katherina II. vom 31. Dezember 1790 in den prophetischen Worten: »Zwei Reiche werden dann alle Vorteile des Geistes, der Wissenschaften, Künste, Waffen und Industrie unter sich teilen: Rußland von der östlichen Seite und Amerika, in unseren Tagen freigeworden, auf der westlichen, und wir anderen Völker des Kerns Europas, wir werden zu degradiert, zu erniedrigt sein, um durch eine vage und stupide Tradition etwas anders zu wissen als das, was wir gewesen sind.«[30]

Der Aufbruch der Europäer zu Beginn der Neuzeit führte, in eigentümlicher Parallelität, im Westen zur Eroberung der Weltmeere, im Osten zur Eroberung der Landmasse des eurasischen Siberien. Nur drei Jahrhunderte nach Vasco da Gama und Vasilij Timofeevič Ermak zeichnete sich ab, daß sich die neuzeitlichen Seelenhaltungen und instinktiven Neigungen in Ost und West wie in einer polaren Gegensätzlichkeit entfaltet hatten. Diese Gegensätzlichkeit der Seelenqualitäten, die durch die Äthergeographie der Erde mitbedingt wird, war zwar schon in den älteren Epochen angelegt, doch wurde der Aufstieg Amerikas und Rußlands durch die expansive Dynamik der europäischen Entwicklung eingeleitet und wirkte entsprechend auf die innereuropäischen Verhältnisse zurück, bis zur Teilung Europas im Jahre 1945, wie es die außereuropäischen Kulturen ihrerseits nicht vermocht hätten. Das Aufkommen der Polarität führte bald in die politische Rivalität: 1791 hatte der englisch-rußländische Gegensatz in dem sogenannten Russian Armament seinen ersten Höhepunkt erfahren; 1823 trat der amerikanisch-rußländische Gegensatz offen zutage, als US-Präsident James Monroe die gleichnamige Doktrin über die Grenzen der Westlichen Hemisphäre formulierte, die sich gegen Rußland als Vormacht der Heiligen Allianz richtete, da das Zarenreich von Alaska in Richtung Oregon-Territorium expandierte.

Der Münchner Historiker Joseph Edmund Jörg (1819-1901) sah in dieser Polarität 1853 den Beginn »einer so grandiosen Katastrophe […], wie sie selbst im Sturze des alten Römerreiches nur annähernd da war.« Denn die west-östliche Gegensätzlichkeit, in welcher der Ausgangsort Europa nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen begann, war eben auch eine Konfrontation von geistig-seelischen Anschauungen und Neigungen der modernen Menschheit schlechthin. Jörg mutmaßte bereits, »ob das rechte Heerlager der Kommunisten nicht einst Rußland heißen wird?«, weil dort sich die Neigungen zu sozialistischer Gemeinschaftlichkeit ebenso abzeichneten wie der Drang nach individuellem Glückstreben in der westlichen Hemisphäre. »Vielleicht noch wir selbst, jedenfalls unsere Kinder, werden einem erstaunlichem Drama im Osten zusehen. […] Und gleichzeitig mit diesem Drama im Osten, wird den Gegensatz das [Drama] im Westen spielen. Rußland vor dem Urstand des instinktiven Sozialismus, Nordamerika von dem vollendeten Atomismus des egoistischen Individualismus – beide müssen nach der rechten Mitte hinstreben, oder sie überschlagen in das eine Gegenteil beider.«[31] Die Hoffnung auf die rechte Mitte war gleichbedeutend mit der Frage nach dem geistig-kulturellen Überleben eines rundum regenerierten Europas. Der hochgebildete Konservative Jörg konnte sich diese ausgleichende Mitte zwischen protestantischem Westen und schismatischem Osten allerdings nicht anders vorstellen als in der Wiedererstarkung der Römischen Kirche in einer Europa catholica.

In seiner klugen Prognose blieb Jörg nicht allein. Der Liberale Julius Fröbel (1805-1893), der sich selbst als »Kosmopolitiker« bezeichnete, erst Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche, dann nach seiner Verurteilung zum Tode durch die Regierung in Wien im Jahr 1848 für einige Jahre in die USA emigriert, stellte 1855 fest: »Amerika und Rußland sind die beiden Pole der politischen Welt geworden, und zwischen ihnen liegt das westliche Europa als Übergang in der Mitte. Rußland und Amerika, geographisch an die beiden Extreme der zivilisierten Welt gestellt, repräsentieren zugleich in sittlicher Beziehung zwei Extreme, welche beide in gleichem Grade in der menschlichen Natur begründet sind, beide ihre gleich notwendige Entwicklungsgeschichte hinter sich und vor sich haben und mit ihrer Wechselwirkung einen Teil der kommenden Geschichte ausfüllen müssen.«

Fröbel führt weiter aus, daß zwischen Amerika und Rußland auf der einen Seite die indisch-chinesische Welt liege, auf der anderen Seite Europa. »Die indisch-chinesische Welt wird der Tummelplatz der drei großen politischen Mächte oder Gruppen von Mächten werden, in die sich der aktive Teil der Menschheit zu gliedern begonnen hat. Das westliche Europa dagegen wird zwischen den beiden Extremen seine selbständige Rolle spielen.« Es sei, so Fröbel, der Wechselwirkung zwischen beiden Hemisphären ausgesetzt, und hieraus »müssen mit Notwendigkeit soziale Gestaltungen hervorgehen, welche einen neuen Charakter entwickeln und einen eigentümlichen Fortschritt des Menschengeschlechtes bezeichnen.« Europa werde somit für die politische Welt von neuem ein Mittelpunkt, weil Kampfplatz der Extreme in ihrer Suche nach Ausgleich.[32]

Diese Einschätzung Fröbels ist in der Tat scharfsinniger und vor allem weitaus aktueller als das postmoderne Gelehrtengeschwätz über »Weltinnenpolitik« und »Traditionsmobilisierung«. Europa hat als alte Mitte abgedankt. Seitdem fehlt im Weltgeschehen eine zwischen den immer stärker hervortretenden Weltgegensätzen vermittelnde Ausgleichskultur. Auch ein »Neues Europa« wird dieser Aufgabe keineswegs gerecht, solange es sich nicht an Haupt und Gliedern geistig und kulturell erneuert, solange sich die Menschen in Europa nach jener statischen, rational überschaubaren Stabilität der bürgerlichen Existenz zurücksehnen, die den geistigen Tod bedeutet, solange sie den Aufbruch in den labilen Schwebezustand durch die zunehmende Instabilität aller Institutionen und Werte von ihrem alten Betrachtungsstandpunkt, dem Gefängnis der Ängste, nur als Bedrohung wahrnehmen können, anstatt zu begreifen, daß dynamische Instabilität zum Wesen des Lebendigseins gehört, daß Strukturauflösung Raum für die Schaffung neuer Formen eröffnet.[33]

Der leise Hauch einer Ahnung zog in den Jahren 1989-90 durch den Kontinent, als der Eiserne Vorhang in sich zusammenfiel. Aber der Moment der kreativen Instabilität wurde zum großen Teil verschlafen, weil man im Westteil des Kontinents in der Bequemlichkeit der eigenen Denk- und Empfindungsgewohnheiten im Wohlstand verharrte. Hat sich an dieser Bequemlichkeit seither etwas verändert? Hat man begriffen, was der Untergang des alten Jugoslavien kulturell für Europa bedeutet? Hat man begriffen, was für ein kulturelles Ereignis ersten Ranges es darstellt, ein Land wie Polen in die EU aufzunehmen? Mitnichten. Ist man bereit, sich von einer neokarolingisch-absolutistischen EU zu Tode verwalten zu lassen, die dereinst an ihren bestehenden unaufgelösten inneren Widersprüchen ebenso jämmerlich zugrundegehen könnte wie damals die Habsburgermonarchie? Wird man dann aufgehen entweder in einem Atlantischen Imperium im Westen oder einem Eurasischen Imperium im Osten, die beide längst im Entstehen sind? Schon eher. So drohen die weiter bestehenden Weltgegensätze das geistige und kulturelle Europa zu überwältigen, wenn sich die Europäer ihrer eigenen Situation nicht bewußt werden wollen. Tritt jedoch der geistige Tod ein, ist auch jegliches wirtschaftliche Weitervegetieren ohne Sinn.

Würde man es wagen, nach der spirituellen Dimension der gegenwärtigen Vorgänge zu fragen, könnte die Frage entstehen, ob die Europäer nicht auch vor einer schweren Schicksalsprüfung stehen, als Folge von »Traditionen«, deren Ursprünge in das frühe Mittelalter zurückreichen. Denn damals, im 8./9. Jahrhundert, hatten Europäer unter der Führung der Römischen Kirche weitreichende Maßnahmen getroffen, um sich nach West wie Ost abzugrenzen. Es war der große irische Mönch Columbanus, der im Jahr 600 erstmals den Begriff »Europa« als kulturell-spirituelle Größe gebrauchte: Europa war für ihn gleichbedeutend mit dem Einzugsbereich der christlichen Kirchen; der Papst zu Rom hingegen sei das Haupt aller Kirchen Europas.[34] Dieses junge, damals sich gerade erst bildende Europa müsse man gegen die dämonischen Einflüsse aus dem Westen schützen, denn die Dämonen bewohnten nach alter, antik-keltischer Kosmographie ebenso wie die Todeskräfte den Occidens und galten sogar als identisch mit dem Occidens, gaelisch iar. Niemand wußte das damals genauer als die Bewohner von Irland, Erin, Eri-innis oder Iar-innis, der Insel im Westen, von wo aus man entlang der Western Seaways[35] damals noch Transatlantikfahrten unternahm[36], die nicht zuletzt dem Zweck dienten, in Nordamerika Krankheiten zu studieren, die mit dem Phänomen des Erdmagnetismus in Zusammenhang stehen[37], weil in diesem Land die magnetischen Kräfte »auf den Leib in derselben Weise einwirken wie der Magnet auf Eisen wirkt«.[38] Um die zarte Pflanze des Christentums auf europäischem Boden zu schützen, unterstützten die irischen Mönche den Kult des Erzengels Michael, welcher nicht nur Archistrategos der himmlischen Herrscharen, sondern auch der gläubigen Menschen war, deren Schlachtfeld die Erde ist. Darum erschien Michael den keltischen Christen im Westen auf steilen Bergen und entlegenen Inseln, um dem Dunkel des Occidens Einhalt zu gebieten; den im Osten der Kirchen gelegene Hauptaltar schützte ein dem Erzengel geweihtes Turmwerk im Westen, der dem Übel den Eintritt in den Sakralraum verwehren sollte.[39]

Der irische Einfluß läßt sich auch nachweisen, als unter der Herrschaft Karls des Großen in karolingischen Schriftstücken und Dokumenten erstmals der Begriff imperium Europae Verwendung fand. Europa wiederum wurde inoffiziell zum Namen der einen irdischen civitas Dei, deren herrscherliches Haupt Karl der Große war: der »König, Vater Europas« (rex, pater Europae),[40] dem Recht nach Herr ganz Europas (de jure totius Europae).[41] Nicht nur den Occidens, auch den Oriens wollte man damals in Europa zurückdämmen, in der Absicht, sich vom griechischen Byzanz politisch und religiös deutlich abzusetzen, um eine eigene, lateinisch-fränkische Identität zu schaffen.[42] Vor diesem Hintergrund verdammten die fränkischen Theologen unter der Federführung von Ratramnus von Corbie in dem Traktat Contra Graecorum Opposita die ostkirchliche Auslegung der Filioque-Frage als Häresie. Dieser Schritt stand am Anfang der polemischen Literatur, die die Feindseligkeiten zwischen Orthodoxen und Lateinern auf Jahrhunderte nähren sollte.[43] Aeneas von Paris gebrauchte etwa zur selben Zeit in seinem Werk Liber adversos Greacos erstmals die Gegenüberstellung des Begriffspaares Asia und Europa für die griechische und lateinische Hemisphäre anstelle der alten, aus der römischen Reichsteilung stammenden Unterscheidung Oriens-Occidens.[44]

Alle diese Maßnahmen gipfelten in dem letzten, IX. Ökumenischen Konzil von 869/70, auf dem die römischen Parteigänger eine ältere dogmatische Formel des Jahres 382 aus dem Zusammenhang rissen und in verfälschender Absicht so zitierten[45], daß sie den wichtigsten Teil der alten Formel einfach wegließen, – jenen Abschnitt nämlich, der sich auf den Vorgang der zweiten Wandlungstaufe durch Feuer und den Heiligen Geist bezogen hatte (Joh. 3:3-8)[46]. Durch diese Auslassung wurde 870 in Europa der Mensch als potentieller Träger des höheren Geistwesens sozusagen dogmatisch »abgeschafft« (wie es Rudolf Steiner häufig formulierte), indem die denkende Seele und der Leib in ihren Betätigungen auf den irdischen Bereich gelenkt wurden. Übrig blieb der vernünftige und denkfähige Mensch, der zukünftige Aufklärer eben, dem die dogmatisch festgesetzten »Grenzen der Erkenntnis« den Weg in die innere Verwandlung versperrten. Europas Kultur ging daraus hervor, in ihrer ganzen Größe und Beschränktheit, aber diese tradierte Kultur hat sich heute überlebt und wird nur weiter in den Niedergang führen.

Europas Geburt vollzog sich also durch Abwehr und Unterdrückung von Einflüssen aus West und Ost. Was damals tiefgründige, einschneidende Maßnahmen waren, ist heute aus Ängsten und Minderwertigkeitsgefühlen geborener, unreflektierter und polarisierender Wiederholungsreflex, der keine fruchtbare europäische Zukunftsidentität entstehen läßt. Weder läßt sich Amerika im Westen als alleinige Quelle aller Weltübel verstehen, noch darf man den »barbarischen Osten« aus Europa fernhalten, und zwar aus besagten schwerwiegenden Gründen, die oben bereits Julius Fröbel andeutete: Europa hat im Lauf seiner langen Geschichte eine Atmungsbewegung vollzogen, die Weltwesten wie Weltosten mitumschloß und mitbeeinflußte. Es befindet sich heute zwischen polaren Extremen, die es selbst verursacht hat und deren Ausgangspunkt es war. Diese Extreme sind nicht durch Rückgriff auf Vergangenes aufzuheben – Europa würde dadurch endgültig seine Daseinsberechtigung verlieren –, sondern nur durch die eigene kulturelle und spirituelle Verwandlung, durch die Preisgabe der erstarrten Traditionen, Verhaltensmuster und polarisierenden Kulturreflexe, welche den Weg öffnen könnte zu neuen, heilend-ausgleichenden Erkenntnissen und Einsichten. Niemand wird den Europäern diese Um- und Verwandlung ihrer selbsterzeugten kulturellen Schicksalsfolgen abnehmen.

Ob jedoch die Europäer in genügender Zahl dazu noch Kraft aufbringen werden, bleibt dahingestellt. Es handelt sich hierbei nämlich um einen Bewußtseinsprozeß, der nur individuell vollzogen und in keiner Verfassung festgeschrieben werden kann. Ganz gewiß nicht von dem neuen Europäischen Verfassungsentwurf, der zwar Griechen, Römer und die Aufklärung bemüht, nicht aber das Christentum und das gesamteuropäische Kulturerbe der Kelten, deren Wesen im Geheimnis der Metamorphose wurzelt.







Anmerkungen

[1]   Adolf Muschg: «Kerneuropa». Gedanken zur europäischen Identität. Neue Zürcher Zeitung, 31. Mai 2003.
[2]   Jacques Derrida und Jürgen Habermas: Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai 2003.
[3]   Michael J. Crozier, Samuel Huntington, Joji Watanuki: The Crisis of Democracy. Report on the Governablity of Democracies to the Trilateral Commission. New York 1975, S. 113f.
[4]   Bruce Bliven, in: Atlantic, Nr. 11 (1927), zit. nach Ronald Steel: Walter Lippmann and the American Century. New York 1980, S. 214.
[5]   British Institute of International Affairs, Rules and List of Members (1920); zit. nach Robert D. Schulzinger: The Wise Men of Foreign Affairs. The History of the Council on Foreign Relations. New York 1984, S. 4.
[6]   Walter Lippmann: Public Opinion. New York 1922, Neuauflage New York 1997, S. 3-23.
[8] EU will gemeinsam aufrüsten. Im Konkurrenzkampf mit den US-Waffenriesen geht es für die EU-Rüstungsindustrie ums nackte Überleben – Eine Waffenagentur muss her. Der Standard (Wien), 23. März 2003. Vgl. auch Gerald Oberansmayr: Auf dem Weg zur Supermacht. Die Militarisierung der Europäischen Union. Wien 2004. – Europäische Think Tanks wie das u.a. von Bertelsmann finanzierte Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP) in München verkünden bereits in wilhelminisch-schriller Tonlage: »Die Supermacht Europa verabschiedet sich endgültig von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik.« Franco Algieri, Janis A. Emmanouilidis, Roman Marhun: Europas Zukunft – 5 Szenarien. München, CAP 2003.
[9]   David Grees: From Plato to Nato. The Idea of the West and Its Opponents. New York 1998, Kap. 1.
[10]    Man lese hierzu John Ralston Saul: Voltaire’s Bastards. The Dictatorship of Reason in the West. New York-London 1992, Teil I, Kap. 1.
[11]    Ralf Dahrendorf, Timothy Garton Ash: Die Erneuerung Europas. Antwort auf Habermas. Süddeutsche Zeitung, 5./6. Juli 2003.
[12]    Robert Kagan: Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order. New York 2003.
[13]    Javier Solana: Mars and Venus Reconciled: a New Era for Transatlantic Relations. Kennedy School of Government, Harvard University, 7. April 2003.
[14]    »Unfortunately, it is the fact that great movements such as the federation of separate sovereignties rarely occur purely as a result of logic, but mainly as a result of emotion, largely generated by a sense of fear and of weakness. Western European unity will, I am afraid not come about so long as each Western European country feels that it can in all respects count on US support because we are NATO 'allies'. The knowledge of such countries that they cannot count on such support irrespective of our independent judgment will naturally irritate them and create a measure of anti-United States feeling. But that may be the only atmosphere in which the momentous step of European union will be advanced.« – Telegramm von J.F. Dulles an den US-Botschafter in Frankreich D. Dillon am 4. Oktober 1956, in: Foreign Relations of the United States 1956-1957, Bd. XVI, Suez Crisis, Nr. 298, S. 634-637.
[15]    Tomáš G. Masaryk: Das Neue Europa. Der slawische Standpunkt. Berlin 1922, S. 24.
[17]   16 small European states unite against the big. EUObserver, 3. April 2003.
[18]    Ziel ist ein geopolitischer und wirtschaftlicher Zusammenschluß der chauvinistischen »Vaterländer« zwischen Kontinentaleuropa und Rußland, der dem anglo-amerikanischen Einfluß entgegengestellt werden soll. Vgl. den programmatischen Sammelband Osnovy Evrazijstva. Hrsg. v. Arktogeja-Centr und Političeskaja Partija Evrazija. Moskva 2002.
[19]    Tagebuch von Joseph Goebbels, 8. Mai 1943; zit. nach Lothar Gruchmann: Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer »deutschen Monroe-Doktrin«. Stuttgart 1962, S. 120.
[20]     Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment. Stanford, Cal. 1994.
[21]    Hans-Ulrich Wehler: Europas Erbe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juni 2003.
[23]    Anders als derzeit in Rußland, wo man im Pendelschlag zum vorherigen marxistischen Extrem nun die Kultur als alleinbestimmende Größe wiederentdeckt hat, allerdings auch nur »staatstragend«, unter dem Gesichtspunkt der vererbten Traditionen und Normen. Vgl. Jutta Scherrer: Kulturologie. Rußland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität. Göttingen 2003.
[24]    Dahrendorf, Ash: Die Erneuerung Europas. SZ, 5./6. Juli 2003.
[25]    J.R. Saul: Voltaire’s Bastards, Teil I, Kap. 3.
[26]    Der tschechische Historiker Palacký hatte 1848 in einem Schreiben an den Fünfziger-Ausschuß des Paulskirchen-Parlaments formuliert: »Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.« Zit. nach Slavische Geisteswelt. West und Südslaven. Bd. I: Staatlichkeit und Volkstum. Hrsg. v. St. Hafner, O. Tureček, G. Wytrzens. Baden Baden 1958, S. 179-182.
[27]    In einem Vortrag in Kristiania (Oslo) am 24. November 1921, in: Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse (GA 209).
[28]    »To the list of polities destined to slip down the Eurinal of history, we must add the European Union and France's Fifth Republic. The only question is how messy their disintegration will be.« Mark Steyn, Jewish World Review, 1. Mai 2002.
[29]    Fernando Pessoa: Obra poética e em prosa. Hrsg. v. António Quadros. O Porto 1986, Bd. II, S. 1195; vgl. auch Fernando Pessoa: Sobre Portugal. Introdução ao problema nacional. Lisboa 1978, S: 246f.
[30]    Sbornik imperatorskago istoričeskago obščestva, Bd. XXXIII, S. Peterburg 1867, S. 293f. Vgl. Dieter Groh: Rußland im Blick Europas. 300 Jahre historische Perspektiven. Frankfurt/M. 1988, S. 98.
[31]    Historisch-Politische Blätter für das katholische Deutschland, Bd. XXXIII, München 1853, S. 783, 800.
[32]    Julius Fröbel: Die europäischen Ereignisse und die Weltpolitik (1855), in: Kleine politische Schriften. Bd. I, Stuttgart 1866. Vgl. Die Idee Europa 1300-1946. Hrsg. v. Hellmut Foerster. München 1963, S. 213-216.
[33]    Hierzu Hans-Peter Dürr: Für eine zivile Gesellschaft. Beiträge zu einer Zukunftsfähigkeit. München 2000.
[34]    Jürgen Fischer: Oriens–Occidens–Europa. Begriff und Gedanke «Europa» in der späten Antike und im frühen Mittelalter. Wiesbaden 1957, S. 47f.
[35]    Emrys G. Bowen: Britain and the Western Seaways. London 1972, S. 30f.; vgl. Emrys G. Bowen: Saints, Seaways, and Settlements in the Celtic Lands. Cardiff 1969.
[36]    Ein irischer Mönch hinterließ zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert in einer Höhle in West Virginia (USA), in gaelischer Ogam-Schrift in den Fels geritzt, eine Weihnachtsinschrift: »Es ist die Zeit der Ankunft unseres Erlösers, des Herrn Christus. Siehe, Er ist geboren aus Maria, einer Frau.« Barry Fell: America B.C. Ancient Settlers in the New World. New York 1989, S. 327. Vgl. auch Barry Fell: Saga America. New York 1980; Frederick J. Pohl: Atlantic Crossings before Columbus. New York 1961; Geoffrey Ashe: Land to the West. St. Brendan’s Voyage to America. London 1962; Hjalmar R. Holand: Explorations in America before Columbus. New York 1962; Louis Kervran: Brendan, le grand navigateur celte du VIe siècle. Paris 1977; Louis Kervran: La vraie découverte de l’Amérique du Nord par les Européens. Paris 1978.
[37]    Rudolf Steiner, Vortrag vom 16. November 1917 in St. Gallen, in: Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen (GA 178).
[38]    Albertus Magnus: De naturâ locorum; zit. nach Eleanor C. Merry: The Flaming Door. The Mission of the Celtic Folk Soul. Edinburgh 21982, S. 49.
[39]    Fischer: Oriens–Occidens–Europa, S. 68
[40]     Monumenta Germaniae Historica (MGH), Poetae Aevi Carolini, Bd. I, S. 366ff.
[41]     MGH, Scriptores, Bd. III, S. 436. Deswegen natürlich auch das ständige Einschwören der führenden westeuropäischen Politiker auf Karl den Großen und sein Karolingisch-Neurömisches Reich nach 1946, wobei die Katholische Kirche dabei den maßgeblichen Einfluß ausübt. So schrieb Papst Johannes Paul II. am 14. Dezember 2000 an Kardinal Antonio María Javierre Ortas anläßlich des 1200. Jahrestag der Kaiserkrönung Karls des Großen durch Papst Leo III.: »Auf der Suche nach seiner Identität darf Europa nicht darauf verzichten, mit aller Kraft das kulturelle Erbe zurückzugewinnen, das von Karl dem Großen hinterlassen und mehr als ein Jahrtausend lang bewahrt wurde.«
[43]     Francis Dvorník: Photius, Nicholas I and Hadrian II. In: Byzantinoslavica 34 (1973), S. 32-50, hier S. 44; vgl. Richard Haugh: Photius and the Carolingians. The Trinitarian Controversy. Belmont/Mass. 1975, S. 102-108.
[44]     Fischer: Oriens–Occidens–Europa, S. 94.
[45]    Das bezieht sich auf die Verdammung der Lehren des Patriarchen von Konstantinopel Photios, wobei es im XI. Kanon der Konzilsbeschlüsse u.a. heißt: »Obwohl das Alte und das Neue Testament lehren, der Mensch habe eine einzige vernünftige und verständige Seele [unam animam rationabilem et intellectualem] und alle aus Gott lehrenden Väter und Lehrer der Kirche eben diese Meinung bekräftigen, sind einige, auf die Erfindungen der Bösen eingehend, zu solcher Frevelhaftigkeit herabgesunken, unverschämterweise den Lehrsatz vorzutragen, er habe zwei Seelen [duas eum habere animas] […].« Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Hrsg. v. Peter Hünermann. 37. Aufl. Freiburg/B. 1991, S. 299-306, hier Nr. 657, S. 303f.; vgl. auch Osterrieder: Sonnenkreuz und Lebensbaum, S. 236-243.
[46]    Auf der Synode von Rom hieß es 382 anläßlich der Verurteilung des Apollonarios von Laokideia: »7. Wir belegen mit dem Anathema die, welche sagen, das Wort Gottes habe anstelle der vernünftigen und verstandesbegabten Seele [anima rationabili et intelligibili] des Menschen im menschlichen Fleisch geweilt, obwohl doch eben der Sohn und das Wort Gottes nicht anstelle der vernünftigen und verstandesbegabten Seele in seinem Leib war, sondern unsere (d.h. die vernünftige und verstandesbegabte) Seele ohne Sünde angenommen und erlöst hat.« Denzinger, Nr. 152-180, S. 86. – Mit dieser vernünftigen und verstandesbegabten Seele vereinigt sich in der Jordantaufe das höhere Geistwesen, in diesem Fall durch die Verkörperung Christi in Jesus von Nazareth. Das Verstehen dieses spirituellen Geschehens wurde 870 dogmatisch verdunkelt. Vgl. Markus Osterrieder: Verschweigen des Geistes. Einige Anmerkungen zur geistesgeschichtlichen Bedeutung des Konzils von 869/70.


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