Markus Osterrieder
 

SONNENKREUZ

UND

LEBENSBAUM

 

Irland, der Schwarzmeer-Raum und die
Christianisierung der europäischen Mitte

 


Geschichte des 9. Jahrhunderts
als Spiegel von Konflikten
und Entwicklungsmöglichkeiten
unserer eigenen Gegenwart


368 Seiten, mit 10 Karten und 50 Abbildungen
auf Tafeln, gebunden mit Schutzumschlag
DM 78,- / öS 569,- / sFr 73,-
ISBN 3-8251-7031-4
http://www.urachhaus.com

 

 

 

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Aus dem Inhalt
I / Geist und Wesen des Keltentums • Druiden und Kelten; Entwicklung durch Verwandlungskraft; Das irokeltische Christentum; Peregrinatio

II / Die Kelten als Erzieher der Germanen • Kelten als Mysteriengesandte; Kelten als Missionare; Erziehung des Ich

III / Der Untergang der irokeltischen Germanenmission • Die Vernichtung der Mysterien; Arianer und Athanasianer; Der Arianismus und die Germanenvölker; Bonifatius als Gesandter Roms; Die Romanisierung der Franken; Tassilo III. und Virgil von Salzburg; Die gefällte Irminsûl

IV / Ein West-Ost-Konflikt im 9. Jahrhundert: Die Franken, Rom und Byzanz · Die Franken und das Filioque; Papst Nicolaus I. und sein Berater Anastasius; Patriarch Photios von Konstantinopel

V / Die Slavenmission • Salzburg und die Karantanen; Das Mährische Reich; Die Glagolica; Die »rus'ischen« Buchstaben

VI / Pontische Mysterien • Die Völkerwiege; Das Goldene Vlies; Die tönende Licht-Sprache; Die Krone der Herrlichkeit und der Baum des Lebens; Demetrios und die Rus'ische Erde; Europas Mitte als Begegnungsraum

VII / Die Slavenlehrer Kyrill und Method • Konstantin als Sprachschöpfer; Die Bulgaren-Mission; Verteidigung der slavischen Schriftsprache; Konstantin und Method in Rom

VIII / Zwischen West und Ost • Der Tod Konstantin-Kyrills; Das Konzil von 869; Method als Erzbischof von Pannonien; Die Verschwörung der »Camorra«; Das »Filioque«; Die Vertreibung

Epilog: Von jenseits der Jahrhunderte

 


 

Der Autor
Markus Osterrieder, geboren 1961 in München. Studium der Neueren und Osteuropäischen Geschichte, Slavistik, Politischen Wissenschaft und Volkswirtschaft in München, Toulouse und Warschau. Markus Osterrieder arbeitet zur Zeit als Historiker in München.

 


 

Zum Thema des Buchs
Nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs« stellt sich heute drängender denn je die Frage, auf welchen geistigen Grundlagen eine fruchtbare Begegnung der Menschen aus dem östlichen und westlichen Europa erfolgen kann. Wird Europa und damit auch die übrige Welt einer fundamentalistischen Versuchung erliegen, die erneut spalten will, die die religiöse und kulturelle Mannigfaltigkeit als trennenden Abgrund und als »Kampflinien der Zukunft« (so der amerikanische Politologe Samuel Huntington) festzuschreiben versucht, indem sie z. B. die historische Bruchlinie zwischem »westlichem« Abendland und »östlicher« Orthodoxie in Bosnien und in der Ukraine hervorhebt? Markus Osterrieder legt dar, daß schon vor Jahrhunderten in Europa die Voraussetzungen für eine Begegnung im Sinne einer höheren Humanität geschaffen wurden, als im 9. Jahrhundert im Wiener Becken ein okzidentalischer, irokeltischer und ein orientalischer, griechisch-persischer Geistesimpuls aufeinandertrafen. Das Christentum, das die Iren den Germanen brachten, und das Christentum, das durch die beiden Brüder Kyrill und Method zu den Slaven gelangte, sollten einander ergänzend und wechselseitig befruchtend zusammenwirken, um Europa seine tieferen geistigen Grundlagen zu schenken.

Durch die Begegnung dieser zwei christlichen Ströme, die wie Verkörperungen einer uralten Menschheitspolarität wirkten, wurde damals keimhaft ein drittes, neues Element veranlagt: die Mitte als Geisteskind von Orient und Okzident, die diese beiden Weltsphären versöhnt, in sich vereint und erhöht. In ihr sollte die freie Individualität des Menschen eine besondere Entfaltungsmöglichkeit finden. Der Autor zeichnet anhand der Quellen ein fesselndes und beeindruckendes Panorama der Geistes- und Bewußtseinsgeschichte, das sich von Irland bis nach Rußland, von den Pyrenäen bis in den Kaukasus erstreckt und das in seiner Fülle und Vielschichtigkeit immer wieder veranschaulicht: Religionen und Kulturen sind lediglich Gestaltungsformen der einen sich entwickelnden Menschheit.

Doch Markus Osterrieder zeigt auch, wie erbittert diese beiden Geistesströme bereits im 9. Jahrhundert von den damaligen »Großmächten« verfolgt und unterdrückt wurden, wie ein Kampf gegen die Entfaltung der geistigen Individualität, gegen das erwachende menschliche Ich-Bewußtsein begann, der bis in die Gegenwart fortdauert. Dieser Kampf hatte verheerende Auswirkungen nicht nur auf die allgemeine Entwicklung in den christlichen Kulturräumen, sondern insbesondere auch auf das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Deutschen und Slaven. Denn er steht hinter jenem tiefsitzenden und spaltenden »Nicht-verstehen-Können«, das in die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts führte - in den Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Jene Mächte, die diesen Kampf auch heute noch fortsetzen, wollen die Polarität zwischen Ost und West als dauerhaften, kulturell-religiösen und geopolitischen Faktor der Spaltung vertiefen. So kann das 9. Jahrhundert als Spiegel von weltpolitischen Konflikten unser eigenen Gegenwart erlebt werden.

 


 

Pressestimmen

»... ein großer Wurf und ein hochaktuelles Buch! Man möchte ihm nicht nur Käufer, sondern vor allem Leser wünschen! Denn es ist nicht nur mit dem Kopf, sondern vor allem auch mit warmem Herzen geschrieben und reiht sich damit ein in eine der besten Traditionen deutsch-mitteleuropäischer Kultur: Vermittler, ja Anwalt für ein Verständnis der anderen zu sein!«

Joachim von Königslöw, Die Drei


»... ein außergewöhnliches Stück Geschichtsbetrachtung ..., weil hier eine herrliche Fülle von geschichtlichem Material belebt wird, mit Liebe und Verständnis.«

Neues Volksblatt, Linz


» eine bemerkenswerte Leistung Die Bedeutung des Buches liegt darin, eine historisch fundierte Schilderung der vielschichtigen Konflikte aus geisteswissenschaftlicher Sicht zu geben. Trotz der strengen wissenschaftlichen Forschungsarbeit ist es ein spannendes und gut zu lesendes Buch mit einem Reichtum farbiger Schilderungen der Geisteskämpfe, der Gralssuche und dem Ringen um den wahren christlichen Glauben.«

Sibylle Alexander, Das Goetheanum


»Das Ringen um den Menschen, das in der Vergangenheit stattgefunden hat, muß man kennen, um die Entwicklungen, die sich heute in ähnlicher Weise vollziehen, beurteilen zu können. Dieses kenntnisreich geschriebene Buch bietet dafür eine Fülle von Material. Es regt zum eigenen Nachdenken und Weiterforschen an.«

Claus Rasmus, Stil - Bilden und Bauen


»[Der Verfasser] schöpft aus einer fast unglaublichen Fülle von Quellen. Das Buch ist so anschaulich, leicht lesbar und spannend geschrieben, daß ich es kaum aus der Hand legen konnte. Der mir vorher ferne slawische Raum und seine Geschichte sind mir jetzt viel vertrauter. Klar geworden ist mir die Verantwortung, die alle europäischen Völker und Menschen haben für die neueren Geschehnisse in Osteuropa und dafür, daß ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural, wieder zu einem dierenzierten Ganzen zusammenfindet.«

Philip Jacobson, Mitteilungen (CH)

 


 

Leseproben (ohne Fußnoten)
 

Aus dem Vorwort


Jedesmal, wenn ich vor dem Stacheldraht des »Eisernen Vorhangs« stand und dabei einen Blick auf die Landkarte warf, schien es mir, als ob sich hinter der Zweiteilung des Kontinents auch die historische Rätselfrage verbarg: Warum glichen die kulturellen und politischen Grenzen von Europa in den Jahren 1945-1989 so sehr jenen zur Zeit Karls des Großen? Die Vermutung, es müsse zwischen beiden Epochen irgendein Zusammenhang bestehen, ließ mich nicht mehr los. Man konnte damals - die Perestrojka befand sich gerade in ihren Anfängen - noch nicht voraussehen, mit welch unerhörter Geschwindigkeit sich wenig später die Verhältnisse im mittleren und östlichen Europa verändern sollten. Und zwar in einer Weise, die immer deutlicher machte, daß vieles von dem, was man als Augenzeuge selbst miterleben konnte, ursächlich-schicksalhaft mit Geschehnissen aus dem 9. Jahrhundert verknüpft war.

Es ist in diesem Zusammenhang keineswegs Zufall, daß seit 1990 versucht wird, im Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit die suggestive Vorstellung zu verankern, der Ost-West-Konflikt der Ideologien werde in den kommenden Jahrzehnten unausweichlich durch eine Konfrontation der Kulturräume »Euro-Amerika«, »Euro-Asien«, »Islamistan« und »Konfuziania« abgelöst. So hieß es erstmals im September 1990 in der britischen Wochenzeitschrift The Economist: »Dieses Euro-Amerika [einschließlich Finnen, Balten, Polen, Ungarn, Kroaten] ist von seinem nächsten Nachbar Euro-Asien, dem Raum von Leningrad und Belgrad bis Kamcatka und Vladivostok, durch eine schmale, aber häufig aufgewühlte Wasserfläche getrennt. (...) die Trennung [der beiden] trat vor ungefähr 500 Jahren ein. Südlich der beiden, jenseits eines etwas weiteren Meeres, liegt der muslimische Kontinent.« Diesem Konzept zufolge gehört die Europäische Union dem imaginären Kontinent Euro-Amerika an: »Auf der europäischen Seite wird die Akzeptanz vonnöten sein, daß das neue Gebilde, welches Europa zu schaffen versucht - sei es letzten Endes in Form einer Föderation, Konföderation oder weniger -, Teil eines anderen, größeren, loseren Gebildes sein wird, welches Nordamerika mit einschließt.«

Im Sommer 1993 publizierte der renommierte amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in der »meinungsbildenden« Zeitschrift Foreign Affairs einen vielbeachteten und heftig umstrittenen Aufsatz unter dem Titel The Clash of Civilizations? (»Der Konflikt/Zusammenprall/Unvereinbarkeit der Kulturen«), in dem er die Thesen aus The Economist »wissenschaftlich« zu untermauern suchte, als politikwissenschaftliches »Paradigma« und Leitfaden für zukünftiges politisches Handeln. Dabei vertrat er die Auffassung: »Der Samtene Vorhang der Kulturen hat den Eisernen Vorhang der Ideologien als bedeutendste Trennlinie (dividing line) in Europa abgelöst. Wie die Ereignisse in Jugoslavien zeigen, ist sie nicht nur eine Linie der Verschiedenheit, sondern beizeiten auch eine Linie blutigen Konflikts.« Die historische »Bruchlinie« zwischen »westlichem« Abendland und »östlicher« Orthodoxie verläuft, wie Huntington richtig feststellt, durch Bosnien, die Vojvodina, Siebenbürgen, die Ukraine und Weißrußland.

Doch Huntington sieht in dieser Bruchlinie ein unabänderliches »Naturgesetz«, weshalb er axiomatisch behauptet: »Das am stärksten Trennende in der Menschheit und die Hauptquelle von Konflikten wird die Kultur sein. Nationalstaaten werden die wichtigsten weltpolitischen Akteure bleiben, aber die grundlegenden Konflikte globaler Politik werden zwischen Nationen und Gruppen verschiedener Zivilisationen auftreten. Der Zusammenprall der Zivilisationen wird die globale Politik beherrschen. Die Bruchlinien zwischen Zivilisationen werden die Kampflinien der Zukunft sein.« Huntington gelangt zu seinen Schlußfolgerungen, weil er von der Annahme ausgeht, daß ein Bewohner eines bestimmten Landstrichs seine persönliche Identität auf der höchstmöglichen Stufe mit der Zivilisation, Kultur oder Religion identifizieren kann, der er infolge seiner Geburt angehört. Eine Identität erwähnt Huntington (bewußt?) nicht: das Menschsein. Von seinem Weltbild ausgehend, das den Menschen ausschließlich als Produkt des Vererbungsstromes und der Umwelteinflüsse definiert, nimmt er diese Identität nicht wahr, und so stellt er erst gar nicht die Frage: Was bin ich als Mensch? Was macht mich erst zu einem Menschen, zu einem Angehörigen der Menschheit? Er erwidert lediglich: »Wenn nicht Zivilisationen, was dann?«

Huntingtons Thesen wurden von Fundamentalisten aller Lager dankbar begrüßt, bot er ihnen doch eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung ihres spaltenden, zerstörerischen Tuns. Insofern formulierte er eine typische self-fulfilling prophecy, eine Prophezeiung, die gezielt und konzentriert (und zwar nicht nur in Gedanken) auf ihre eigene Verwirklichung hinarbeitet. Dahinter steckt die altbekannte, oft praktizierte Methode, die mit Hilfe der Polarisierung von Gegensätzen »Ordnung« zu schaffen glaubt. Die »ethnischen Säuberungen« in Bosnien und anderswo auf der Welt stellen die logische Konsequenz dar, die sich aus derartigen Gedanken ergibt.

Auch in Rußland fanden sich jene bestätigt, die im Zuge ihrer ungestillten Machtträume eine Erneuerung des alten Imperiums (auch ohne Kommunismus) fordern und die Unvereinbarkeit von »atlantisch-westlicher« und »eurasisch-rußländischer« (nicht russischer!) Welt postulieren. In diesem Sinne wurde 1993 eine »neue« Militärdoktrin erlassen, in der die rußländische Regierung eine Hegemonie über das »Nahe Ausland« (die GUS-Staaten) einforderte, da die Rußländische Föderation »die aktive und vollberechtigte Teilnahme als Großmacht an der Gestaltung der (...) Weltordnung« beansprucht. Um das neue imperiale Denken zu rechtfertigen, warnte Ende 1994 der liberale Kommentator Michail Leont'ev den Westen, daß »der erste Abschnitt der Umwandlung Rußlands - die Verwestlichung - vorbei« sei; im nun folgenden »patriotischen Abschnitt der Reform« wäre es für rußländische Staatsmänner politischer Selbstmord, weiter auf »Westler« zu hören, denn in diesem Fall könnten die »schlimmstmöglichen Kräfte«, die Fundamentalisten, die Macht ergreifen.

Aus der Sicht vieler westlicher Akteure wiederum scheint der »neue« Imperialismus des »eurasischen« Ostens voraussehbar und quasi unabwendbar. Der US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski orakelte im März 1994: »Unglücklicherweise deuten vielerlei Anzeichen darauf hin, daß die Aussichten für eine stabile russische Demokratie in naher Zukunft nicht sehr vielversprechend sind. (...) der imperiale Impuls bleibt stark und scheint sogar noch stärker zu werden.« Angesichts der Zerfallserscheinungen im westlichen Bündnis wird so manche Stimme laut, die ein Wiedererstarken des »Erbfeindes« sogar begrüßen würde. »Innerhalb des nächsten Jahrzehnts wird der russische Bär stark und hungrig und wird wieder knurren, darum müssen wir die westliche Allianz stärken, um einen Test durch Krieg zu vermeiden. (...) Rußland ist im Herzen autoritär und gewohnheitsmäßig expansionistisch. Mit einer ausgebildeten Bevölkerung und riesigen Ressourcen - nun unbehindert von kommunistischer Last - wird Rußland wieder zur Supermacht aufsteigen. Es ist eindeutig dazu bestimmt, nach Westen und Süden zu blicken, um seine irredentistischen Karieslöcher zu stopfen.«

Ein erneuerter Konflikt und ein neuer »Vorhang« zwischen West und Ost sind weder erstrebenswert noch unausweichlich, auch wenn die Huntingtons jeglicher Couleur - »atlantischer«, »eurasischer«, katholischer, protestantischer, orthodoxer, muslimischer oder sonsteiner - uns das einreden wollen. Doch eine von wechselseitigem Verstehen-Wollen getragene Annäherung kann sich, nach Jahrhunderten der Entfremdung, nicht »von selbst« vollziehen - sie verlangt den Menschen guten Willens eine innere Aktivität ab, eine persönliche Suche nach derjenigen geistigen Substanz, welche die Kraft enthält, Menschen unterschiedlichster Herkunft und Abstammung als Individuen zusammenzuführen. Diese Suche führt jeden früher oder später zu der Frage: Was ist der Grund und das Ziel meines Menschseins?

Dabei kann es sich als hilfreich erweisen, wenn man sich bewußt macht, daß in tieferen Schichten der Menschheitsentwicklung schon immer auf eine geistige Verbindung zwischen West und Ost hingearbeitet wurde. So trafen im 8./9. Jahrhundert in der Mitte Europas zwei christliche Strömungen aus Okzident und Orient aufeinander, um sich wechselseitig zu befruchten. Auf beider Grundlage sollte eigentlich die nachbarschaftliche Begegnung zwischen Deutschen und Slaven erfolgen, die damals ihren Anfang nahm. Die Christianisierungsversuche von Menschen, welche als historische Träger jener beiden Ströme wirkten, wurden aber gewaltsam abgebrochen. Gleichzeitig begann ein Kampf gegen das erwachende menschliche Ichbewußtsein, der bis in die Gegenwart fortdauert. Dieser Kampf hatte verheerende Auswirkungen nicht nur auf die allgemeine Entwicklung in den christlichen Kulturräumen, sondern insbesondere auch auf das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Deutschen und Slaven. Denn er steht hinter jenem tiefsitzenden, verdunkelnden und spaltenden Nicht-verstehen-Können, das in die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts führte - in den Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Das Zusammenwirken westlicher und östlicher Geistesströme zur Schaffung einer im menschlichen Selbst wurzelnden Mitte, die beide Elemente versöhnt, in sich vereint und erhöht, erfolgte vor einem Jahrtausend dennoch - fern allen äußeren Geschehens, im Verborgenen. Wolfram von Eschenbach deutete hierauf in seinen Versepen »Parzival« und »Titurel«. Äußerlich kulturbestimmend hingegen wurde seit dem 9. Jahrhundert die Trennung zwischen einem westlich-lateinischen und einem östlich-griechischen Kulturraum, die Kirchenspaltung zwischen Rom und Byzanz. Die Folgen dieser Trennung, die erst im Jahr 1054 förmlich eintrat, tatsächlich aber bereits im Jahr 870 geistig vollzogen wurde, gaben der Geschichte bis auf den heutigen Tag einen prägenden Verlauf. Ruft man sich jene fernen Ereignisse ins Bewußtsein, erscheint das gegenwärtige Geschehen in seiner wahren weltgeschichtlichen Dimension. Welche geistige Substanz die Strömungen aus Okzident und Orient enthielten, wie sie sich in der Mitte begegneten, was sie den Menschen zu geben versuchten, und auf welche Weise man sie zu zerstören trachtete: davon handelt dieses Buch.

 


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Kyrill und Method mit den Schutzheiligen Clemens und Andreas,
den Erzengeln Michael und Gabriel
Fresko in der Unterkirche von S. Clemente, Rom (9. Jh.)


 

Aus Kap. I
Alles befindet sich in Entwicklung, und die Welt der Götter ist davon nicht ausgeschlossen. So lautete einer der Grundgedanken der altkeltischen Jenseitsvorstellungen. Dies hat in überzeugender Weise der Franzose Lancelot Lengyel anhand der keltischen Numismatik und Mythologie dargelegt. Jener Gedanke beinhaltete »die Idee, daß Gott Bewegung ist, was impliziert, daß ebenso Schöpfung und letzten Endes auch Existenz Bewegung ist. (...) Bewegung, im Verständnis der Kelten, ist die aktive schöpferische Kraft der Durchdringung, der Umwandlung und der Erneuerung: sie ist Evolution in Reinkultur. (...) Die Essenz des Universums ist kosmogonische Bewegung. Sie umfängt Götter als Ströme, die aus der Quelle hervorgehen, nicht als die Quelle selbst.«

In Rhythmen, Harmonien und Disharmonien schwingende Bewegung durchdringt die Natur und ihre Elemente, die Menschen- und die Götterwelt gleichermaßen. Über die Rhythmen von Musik und Tanz inwendig mit der Elementarwelt und dem Kosmos verbunden, erlebte der Kelte seine Götter in steter Gestaltwandlung, die sich begrifflich nicht fixieren ließ, sondern innerlich immer wieder neu durchlebt und erfahren werden mußte. Somit erklärt sich die Reaktion des Keltenhäuptlings Brennos, als er die Statue des Apollon im Allerheiligsten zu Delphi erblickte: »Brennos brach in Lachen aus angesichts der Tatsache, daß man den Göttern menschliche Gestalten zugemutet und sie aus Holz und Stein hergestellt hatte.« (Diodoros von Sizilien: Bibliothkê istorikê XXII.) Für ihn war die gedanklich-künstlerische Fixierung eines Gottes lächerlich und unbegreiflich. Für das Heiligste der Griechen, die göttliche Vollkommenheit der menschlichen Körpergestalt, fehlte ihm jeder Sinn. Wenn die Kelten als Folge des Austauschs mit den Mittelmeerkulturen dennoch Götterstatuen fertigten, waren die Erzeugnisse willentlich verfremdet oder entstellt: »Den Götterstatuen mangelt es an künstlerischer Qualität, und sie zeigen die Häßlichkeit von verstümmelten Rümpfen«, schrieb Lucanus (Pharsalia III, 412). Dies lag nicht am mangelnden handwerklichen Können der keltischen Künstler, sondern an einer gänzlich anders gearteten Bewußtseinshaltung und Religiosität.

Was die Kelten in ihrer reichen Mythologie, in Musik, Poesie, Kunst und Handwerk zum Ausdruck brachten, waren nicht Abbildungen göttlicher Wesen, sondern rhythmische und formenschaffende Gesetzmäßigkeiten göttlicher Wandlung und Offenbarung. Der Wille zur Umbildung und Metamorphose drang nicht nur in den anschaulichen Formen der keltischen Kunst in den Vordergrund, sondern auch in ihrer Auffassung seelischer und geistiger Wesenheiten. Ein Wesen, ob Gott oder Mensch, war für sie niemals etwas Fertiges, Abgeschlossenes, sondern ewig im Werden, in Entwicklung begriffen.

Die führenden Vertreter des Keltentums wußten, daß auch Götter Taten vollbringen und eine Art von Schicksal besitzen, durch welches sie die Kraft zur Weiter- und Höherentwicklung erringen. Ewig unveränderliche Gottheiten, ein statischer Kosmos, waren dem keltischen Bewußtsein fremd. Während die Griechen zur selben Zeit die Grundlagen der abendländischen Philosophie, des analytischen und logischen Denkens schufen, entwickelten die Kelten eine andere, komplementäre Qualität. Für die Druiden schien es nichts Schlimmeres zu geben als feststehende Definitionen, wie Diodoros von Sizilien berichtet: »Wenn man sich mit ihnen unterhält, reden sie wenig; sie sprechen in Rätseln und zeigen in ihrer Ausdrucksweise eine Vorliebe dafür, das meiste erraten zu lassen. Übertreibungen gebrauchen sie häufig (...).« (Bibliothkê istorikê V, 31.)
Die Möglichkeit der Metamorphose und damit der Entwicklung war nach keltischer Auffassung kraft einer der Schöpfung zugrunde liegenden dualistischen Spannung der Gegensätze von Licht und Finsternis, von Leben und Tod, von Werden und Vergehen gegeben. Die Polaritäten wurden von den keltischen Priestern nicht in abstrakte moralische Kategorien wie »Gut und Böse« gefaßt, sondern als konkrete Seinszustände, Wesenssphären verstanden, die schöpferisch oder zerstörerisch wirken konnten und in ein kosmisches Gleichgewicht gebracht werden mußten.
Diese Lehre fand ihren Niederschlag in den keltischen Jahresfesten: Am 1. Mai wurde Beltaine gefeiert, das Lichtfest der erhabenen Gottheit Lug (kymrisch: Llew, gallisch: Belenus, der keltische Apollon). Es war die Zeit der großen Druidenversammlungen und der Feuerfeste, »Weltenmittag«: »Beltaine, Feuer des Bel, segenreiches Feuer, das heißt ein Feuer, welches die Druiden durch ihre Magie oder durch große Beschwörungen entfachten; und jedes Jahr trieb man die Herden [um sie] gegen die Seuchen [zu schützen] zu diesen Feuern. Sie trieben die Herden zwischen den Feuern hindurch.«

Sechs Monate später, am 1. November, der »Weltenmitternacht« und der Zeit des wichtigsten sakralen Festes Samain ('Vereinigung, Kommunion'), öffneten sich die Pforten der Tír nAill, der »Anderswelt«. Es war die Zeit der Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Göttern, Menschen und Dämonen. Die Festeszeit, in der sich alle an heiligen Orten versammeln mußten, begann drei Tage vor und endete drei Tage nach Samain. Diese sieben Tage waren im keltischen Bewußtsein jenseits der Zeit: sie leiteten Neujahr ein, gehörten nicht mehr zum alten Jahr und noch nicht zum neuen. An Samain herrschte die Finsternis: »Groß waren Dunkelheit und Schrecken dieser Nacht, und Dämonen pflegten immer in dieser Nacht zu erscheinen.« Der König erfuhr einen rituellen und symbolischen Tod, auch Götter und Helden starben. Alle Feuer wurden gelöscht. Doch an dem Tag, an dem die Mächte der Finsternis ihre größte Kraft entfalten konnten, wurde durch »den zeugenden Tod« der Keim zu neuem Leben, zur Auferstehung des Entschwundenen, zum Sieg des Lichtes über die Finsternis geschaffen. Samain war deshalb das »Osterfest der Heiden«, wie der christliche Aufzeichner der irischen Ordalien (Gottesurteile) bemerkte.

In den keltischen Sagen wurde zum Ausdruck gebracht, daß der Mensch nur mit Hilfe von Opfertaten und Verwandlungskraft in verschiedenen Daseinswelten zugleich bestehen kann. In der elementarischen Welt, so unterwiesen die Druiden ihre Schüler, herrscht das Gesetz der permanenten Wesensverwandlung sowie der Umkehrung oder Spiegelung physischer Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten. Wollte der einzuweihende »Held« in dieser verwirrenden Welt sein Selbst bewahren, mußte zuerst er die notwendige Seelenstärke erringen, um allen »Abenteuern« und »Gefahren« siegreich begegnen zu können.

Die in Irland äußerst beliebte Sagengattung der Immrama, der »Seefahrten«, umschrieb die Geschehnisse in der elementarischen und seelischen Welt, dem »wogenden Meer«, in imaginativen Bildern. So schildert die irische Sage Immram curaig Maíle Dúin (»Die Seefahrt des Bootes von Mæl Dúin«) das Gesetz der Wesensverwandlung: »Am frühen Morgen des dritten Tages nahmen sie eine andere Insel wahr, auf der eine metallene Palisade stand, welche die Insel in zwei Hälften teilte. Es gab dort viele Schafherden: eine schwarze Herde auf der einen Seite der Palisade und eine weiße Herde auf der anderen Seite. Und sie sahen einen riesigen Mann, der die Schafe trennte. Immer wenn er ein weißes Schaf über den Zaun zu den schwarzen Schafen warf, wurde jenes sofort schwarz. Ebenso wenn er ein schwarzes Schaf über den Zaun warf, wurde dieses sofort weiß.« Schließlich wirft Mæl Dúin einen schwarzen Zweig auf die Seite der weißen Schafe, wo er weiße Farbe annimmt; als er jedoch einen weißen Zweig zu den schwarzen Schafen wirft, wird dieser schwarz.

Auch dem walisischen Helden Peredur, einem Vorläufer des Parzival, begegnet auf seiner Queste, seiner inneren Suche, diese Imagination: »Und auf der einen Seite des Flusses konnte er eine Herde weißer Schafe sehen, und auf der anderen Seite eine Herde schwarzer Schafe. Und immer wenn ein weißes Schaf blökte, kam ein schwarzes Schaf über den Fluß und wurde weiß; immer wenn ein schwarzes Schaf blökte, kam ein weißes Schaf über den Fluß und wurde schwarz. Und er sah einen großen Baum auf dem Flußufer: Die eine Baumhälfte brannte von der Wurzel bis zur Krone, die andere Baumhälfte trug grünes Laub.«

In der Verwandlungsgabe, der Fähigkeit zur Metamorphose, erblickten die Druiden also eine Grundeigenschaft der göttlichen Schöpfung. Denn »Schöpfung« war ein ununterbrochenes Wirken der Götter, das vom geistig strebenden Menschen stets von neuem forderte, sich den dynamisch-veränderlichen Realitäten der übersinnlichen »Anderswelt« anzugleichen. In diesem Sinne stellte auch die Annahme des Christentums in den Augen der führenden Vertreter des Keltentums keinen Bruch mit der vorchristlichen Religion dar, sondern eine durch die kosmische Fortentwicklung notwendig gewordene geistige Erneuerung, da sich die Erde selbst durch das Opfer Jesu Christi verwandelt hatte. Darum konnte im 6. Jahrhundert n. Chr. der walisische Barde Taliessin die christliche Religion mit den vorchristlichen Lehren verbinden, um anzudeuten, wie die alten Kulte mit dem Erscheinen Jesu Christi ihre Erfüllung gefunden hatten: »Christus, das uranfängliche Wort, war uranfänglich unser Lehrer, und nie sind wir von Seiner Lehre abgewichen. Für Asien war das Christentum etwas Neues; aber zu keiner Zeit ließen die Druiden von Britannien von Seinen Lehren ab.« Dabei hätte sich Taliessin sogar auf den Kirchenvater Augustinus berufen können, der einmal den schönen Satz niederschrieb: »Was man gegenwärtig die christliche Religion nennt, bestand schon bei den Alten und fehlte nicht in den Anfängen des Menschengeschlechts, bis Christus im Fleische erschien, von wo an die wahre Religion, die schon vorher vorhanden war, den Namen der christlichen erhielt« (Retractationes, De vera religione I, 13.3).

In den heiligsten Mysterien des Westens erwartete man den kommenden Weltenerlöser und erzog auserwählte Vertreter des Keltentums in einer gemütdurchdrungenen Adventsstimmung. Die Saga Immram Brain mac Febail (»Die Seefahrt von Bran mac Febal«) schildert, wie dem irischen Helden Bran durch eine geheimnisvolle Frau »aus unbekannten Ländern« auf dem jenseitigen »Meer der Elemente« eine Offenbarung zuteil wird:

»Nach Jahrhunderten wird eine große Geburt erscheinen, aus den Höhen steigt Er hernieder: der Sohn einer Jungfrau ohne Gemahl, König wird Er sein über die vielen Tausend, König ohne Anfang und Ende; die ganze Welt hat Er erschaffen, Sein sind Land und See, wehe dem, der Seinen Zorn auf sich zieht. Er ist es, der die Himmel erschaffen, glückselig die reinen Herzens; reinigen wird Er die Scharen in einem heiligen Quell, Er ist es, der eure Krankheiten läutern wird.

Nicht an euch alle richtet sich meine Rede, obwohl ich große Mysterien enthülle. Unter den Scharen der Welt möge allein Bran lauschen, welche Weisheit ich ihm offenbare. (...) Ein edler Erlöser wird kommen, vom König, der die Himmel erschaffen; ein lichtes Gesetz wird über das Meer kommen, Gott und auch noch Mensch wird Er sein.«

Tatsächlich konnte man in den heiligsten Mysterienstätten des Keltentums das Erscheinen Christi in der Erdsphäre geistig wahrnehmen. Man erahnte die Größe der Opfertat, welche die Gottheit vollbrachte, um aus dem Weltenkosmos in die Aura der Erde einziehen zu können, um als Rí nan Dul (»König der Elemente«) die Elementarreiche zu durchstrahlen.

In dem Manuskript des Lebor Lagin (»Buch von Leinster«, um 1150) ist eine irische Sage erhalten (Version A nach Meyer), die dieses Erleben indirekt widerspiegelt. Die Sage Aided Conchobuir handelt vom Tod des Königs Conchobar von Ulster: Während einer Schlacht dringt Conchobar eine aus Hirn und Kalk gefertigte Kugel in den Kopf, die nicht mehr entfernt werden kann. Aus diesem Grund darf er sich nicht mehr erregen, da er sonst an der Verletzung sterben müßte. »So ging es bis zu dem Tag, an dem er hörte, daß [Jesus] Christus von den Juden gekreuzigt wurde. Dieses Verbrechen brachte die gesamte Natur zum Erbeben. Himmel und Erde bebten (...) »Was bedeutet dies Zeichen?», fragte Conchobar seinen Druiden. »Welch großer Frevel wird heute begangen?» [Und der Druide erzählt Conchobar, daß in diesem Moment in Palästina Jesus Christus gekreuzigt wird.] »Das Wesen, das gerade gekreuzigt wurde, ist in derselben Nacht wie du geboren, aber nicht im selben Jahr.» Da glaubte Conchobar an Jesus Christus. Er ist der eine von zwei Menschen in Irland, die sich vor der Ankunft des Glaubens zum Wahren Gott bekannten.« Conchobar gerät nun derart in Zorn über das Unrecht, das Jesus Christus angetan wird, daß er an seiner Verletzung stirbt.

Eine andere Version dieser Legende aus dem Manuskript Liber Flavus Fergusiorum (Version C nach Meyer) enthält eine bemerkenswerte Variante: Conchobar fragt den Druiden Bochrach aus Leinster um Neuigkeiten, woraufhin dieser antwortet: »Es gibt wahrhaft große Neuigkeiten, die sich im Osten der Welt zugetragen haben, nämlich die Kreuzigung des Königs von Himmel und Erde durch die Juden. Er ist es, den die Seher und Druiden verkündet haben« (is é rotirchansat fáidhi & dráidhthi). Der Druide erzählt Conchobar von Jesus Christus, woraufhin sich der König bekehrt. Danach schildert Version C jedoch fast entschuldigend den gleichen Hergang wie Version A, die offensichtlich die ursprüngliche Überlieferung wiedergibt, und ergänzt: »Von daher sagen die Gaelen, daß Conchobar der erste Heide in Irland war, der in den Himmel aufstieg, denn das aus seinem Kopf schießende Blut taufte ihn. Und dann fuhr Conchobars Seele zur Hölle, bis ihr Christus begegnete, als Er die gefangene Schar [der Menschenseelen] aus der Hölle befreite. So nahm Christus die Seele von Conchobar mit Sich in den Himmel. Man hat gegen diese Überlieferung oft eingewendet, daß es sich hierbei um den späteren Nachtrag eines Mönchs handeln könnte, der die irischen Helden in ein christliches Gewand hüllen wollte. Dies kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, aber es ist dennoch äußerst ungewöhnlich und für die Eigenart des irischen Christentums kennzeichnend, daß ein christlicher Mönch den heidnischen Druiden eine geistige Schau der Karfreitagsgeschehnisse zubilligt. Eine vergleichbare Tatsache, daß nämlich die Belehrung über das Zentralereignis der christlichen Religion aus dem Mund eines heidnischen Priesters ertönt, läßt sich in keiner anderen Überlieferung finden.

In einem Vortrag hat Rudolf Steiner auf den Kern dieser Legende gedeutet, hinter der sich die übersinnliche Schau eines Geschehens in der Aura der Erde verbirgt: »Was sich in Palästina wirklich zutrug, das trug sich in hundertfältiger Weise bildhaft zu, ohne daß das Bild das Andenken an Vergangenes war, auf der hibernischen [irischen] Insel. Auf der hibernischen Insel erlebte man in [übersinnlichen] Bildern das Mysterium von Golgatha gleichzeitig, während sich das Mysterium von Golgatha historisch in Palästina zutrug. (...) Das bedeutet die Größe alles dessen, was später gerade ausgegangen ist für die übrige Zivilisation von dieser hibernischen Insel.«

Daß dieser Vorgang ausgerechnet auf Irland eintrat, ist von Bedeutung. Denn die Insel blieb die einzige keltische Region, die von den Römern nicht erobert wurde, obwohl die Römer wiederholt mit dem Gedanken einer Invasion spielten. Tacitus etwa berichtete: »Ich habe oft die Ansicht gehört, daß man Hibernia mit einer einzigen Legion und einigen Hilfstruppen bezwingen und halten könnte. Diese Eroberung würde sich auch für Britannien als vorteilhaft erweisen, da man ihr durch die Allgegenwart der römischen Waffen sozusagen die Sicht der Freiheit entziehen würde« (Agricola XXIV). Die römischen Hegemonialpläne wurden nicht verwirklicht. Dadurch konnte es in Irland zu der einmaligen, weil unverfälschten Begegnung des Christentums mit einem noch intakten keltischen Druidentum kommen. Wandlungsstärke, Opfermut, willenhaftes Streben und tiefe Gemütskraft bildeten den geeigneten Boden für die Annahme eines Glaubens, der auf der »Grünen Insel« nicht in der Tradition, sondern in unmittelbarer geistiger Anschauung wurzelte.

 


 

Aus Kap. VIII
Im Sommer 869 tagte in St. Peter zu Rom eine Synode, auf der Photios sowie alle durch ihn geweihten Geistlichen verurteilt und abgesetzt wurden. Kirchliche Würdenträger, die noch von Ignatios geweiht worden waren und sich später Photios angeschlossen hatten, sollten nur dann in ihrem Amt bestätigt werden, wenn sie den von Rom ausgestellten libellus satisfactionis - ihren Unterwerfungseid und die Anerkennung des päpstlichen Primats - ohne Widerspruch unterzeichneten. Die Akten der Synode von 867, auf der Photios Papst Nicolaus abgesetzt hatte, wurden feierlich verbrannt.

Wenig später, am 25. September 869, trafen drei römische Legaten - der Diakon Marinus aus dem Kreis der »Camorra«, Bischof Donatus von Ostia und Stephanus von Nepi - zur Vorbereitung des VIII. Ökumenischen Konzils in Konstantinopel ein. Die Legaten hatten ausdrückliche Weisung, das Konzil dahingehend zu leiten, daß die römischen Beschlüsse vom Sommer bedingungslos zur Durchführung kämen. In diesem Sinne wurde die Versammlung am 5. Oktober 869 in der Hagia Sophia eröffnet, vor der mageren Kulisse von nur etwa dreißig Personen, da die geforderte Unterzeichnung des libellus auf größten Widerstand stieß.

Unsere Kenntnis vom Verlauf und Inhalt der Sitzungen geht zum großen Teil auf die persönlichen Aufzeichnungen des Anastasius Bibliothecarius zurück; er war an der Erstellung der Beschlüsse nicht beteiligt gewesen, reiste aber dennoch in Begleitung der kaiserlichen Vertrauten Suppo und Eberhard nach Konstantinopel, diesmal im Auftrag des Kaisers Ludwig II., um für dessen Tochter Ermengarde am byzantinischen Kaiserhof eine Heirat zu vermitteln. Dieser Umstand sollte sich als Schicksalsführung erweisen, da die offizielle päpstliche Gesandtschaft wahrscheinlich im Auftrag des byzantinischen Kaisers auf dem Rückweg von Seeräubern überfallen und all ihrer Dokumente beraubt wurde. Die erhaltene griechische Fassung der Konzilsprotokolle ist um 13 Canones gekürzt, vollständig erhalten sind lediglich die »Privataufzeichnungen« von Anastasius. »Hätten die Legaten Anastasius nicht gestattet, (...) von den Dokumenten eine Kopie anzufertigen, würden wir niemals erfahren haben, was sich in Konstantinopel in den Jahren 869/70 wirklich zutrug.«

Auf der fünften Sitzung des Konzils, am 20. Oktober, wurde Photios vorgeführt. Die päpstlichen Legaten fragten ihn: »Nimmst du die Beschlüsse der Päpste, insbesondere die des Papstes Nicolaus an?« Photios blieb stumm. »Anerkennst du die Bestimmung des Papstes Hadrianus?« Wieder gab der Befragte keine Antwort. Da schrien ihm die Legaten in höchstem Zorn zu: »Du bist ein Frevler und Ehebrecher.« Photios erwiderte nur: »Gott hört mich, auch wenn ich schweige.« - Die Legaten: »Dein Schweigen wird dich nicht retten!« - Photios: »Auch Jesus ist durch Schweigen der Verurteilung nicht entgangen.« Diese Antwort löste einen Sturm der Entrüstung aus. Bis zum Ende der Sitzung schwieg der Grieche.

Photios und seine Anhänger wurden im weiteren Verlauf gemäß den Vorlagen aus Rom in Grund und Boden verdammt. Im 21. Canon wurde der Vorrang der Römischen Kirche vor allen anderen festgeschrieben: » aber auch kein anderer soll Aufzeichnungen und Reden gegen den heiligsten Papst des älteren Rom verfassen und zusammenstellen unter dem Vorwand, bestimmte Vergehen gleichsam ruchbar zu machen (...).«Diesbezüglich war Anastasius zufrieden, gestand er doch selbst, daß er auf jenen Moment »sieben Jahre lang energisch« (per septennium ferme) hingearbeitet hatte (also seit 862/63). Auffallenderweise wurde auf dem Konzil die Frage über den Hervorgang des Heiligen Geistes - der Filioque-Streit - überhaupt nicht berührt. Die lateinischen Konzilsteilnehmer hüteten sich nicht nur davor, die Debatte um das Filioque zur Sprache zu bringen, sondern präzisierten sogar den griechischen Standpunkt.

Nahezu unbemerkt schlich sich in die Bestimmungen des Konzils ein Satz, der für die weitere Entwicklung der Christenheit wesentlich einschneidendere Folgen haben sollte als die Verurteilung des Photios. Indem die inzwischen 103 anwesenden Bischöfe die angeblich von Photios vertretene »Lehre von den zwei Seelen« als Häresie abstempelten, wurde damit - wenn nicht ausdrücklich, so doch der Intention nach - die Lehre von der menschlichen Trichotomie (die Unterscheidung von Leib, Seele und Geist als drei Wesensteilen des Menschen) aus dem christlichen Denken getilgt.

Als auf der entscheidenden zehnten Sitzung des Konzils am 28. Februar 870 Photios und die sogenannte »Zwei-Seelen-Lehre« mit dem Bannfluch belegt wurden, war Anastasius zugegen. Er hielt den Wortlaut der 27 Konzilsbeschlüsse fest; dort heißt es im XI. Kanon: »Während das Alte und das Neue Testament lehren, der Mensch habe nur eine denkfähige und vernünftige Seele (unam animam rationabilem et intellectualem) und alle gottesgelehrten Väter und Lehrer der Kirche eben diese Meinung bekräftigen, sind einige, auf die Erfindungen der Bösen eingehend, zu solcher Frevelhaftigkeit herabgesunken, unverschämterweise den Lehrsatz vorzutragen, er habe zwei Seelen (duas eum habere animas); weiterhin versuchen sie, in gewissen unvernünftigen Bemühungen mit Gelehrsamkeit, welche sich als töricht erwiesen hat, ihre eigene Häresie zu bekräftigen. Daher beeilt sich diese heilige und universelle Synode, diese nichtsnutzige Meinung, die da keimen will wie das übelste Unkraut, auszureißen, und indem sie in der Hand die Wurfschaufel der Wahrheit trägt und die ganze Spreu einem unauslöschlichem Feuer übergeben und die Tenne Christi rein machen will, verflucht sie die Urheber und Vertreter dieser Gottlosigkeit und alle, die in diesen Dingen Ähnliches gelten lassen, mit lauter Stimme. Sie bestimmt und gibt bekannt, daß hinfort niemand in irgendwelcher Weise die Grundsätze der Urheber dieser Gottlosigkeit besitzen und aufbewahren dürfe. Wenn aber einer sich herausnehmen sollte, im Gegensatz zu dieser heiligen und großen Synode zu handeln, so sei er verflucht und ausgeschlossen vom Glauben und Kult der Christen.«

Es handelte sich bei der sogenannten »Zwei-Seelen-Lehre« des Photios um nichts anderes als um die in der Urkirche bekannte und gebrauchte Unterscheidung des menschlichen Geistes (pneumatikos anthrôpos), der menschlichen Seele (psychikos anthrôpos) und des physischen Leibes des Menschen (sarkikos oder sômatikos anthrôpos), wie man sie beim Apostel Paulus wiederfindet (1. Kor. II, 14-15): »Der seelische Mensch kann nicht in sich aufnehmen, was aus dem Gottesgeist hervorfließt. Es ist für ihn Torheit; er kann es nicht erkennend aufnehmen, weil es nur mit Hilfe des Geistwesens erfaßt werden kann. Der geistige Mensch jedoch vermag alles zu erfassen, ihn aber vermag niemand zu erfassen.« Im 1. Brief an die Thessaloniker (V, 23) schreibt Paulus: »(...) es bleibe rein und ungetrübt euer Geist, eure Seele und euer Leib«. Und im Römerbrief (VIII, 15-16) formuliert er: »Ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, der Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! Euch ist der Geist der Sohnschaft gegeben. Er gibt uns das Recht, Gott als Vater anzurufen. Dieser Geist bestätigt es uns in Übereinstimmung mit unserem eigenen Geist, daß wir Gottes Kinder sind.«

Diese Unterscheidung wurde unter anderem auch vom hl. Irenaeus getroffen: »Denn etwas anderes ist der Hauch, der den Menschen beseelt, und etwas anderes der belebende Geist, welcher ihn vervollkommnet, bis er geistig wird« (V, 12), wie auch von Klemens von Alexandreia und dem frühen Augustinus: »Und drei sind die Teile, aus denen der Mensch besteht: der Geist, die Seele und der Leib« (De fide et symbolo, Kap. X), von Origenes und von Dionysios Areopagites. In gnostischen und manichäischen Gemeinden war die Trichotomie ohnehin selbstverständliches Allgemeingut. Sie war noch im 14. Jahrhundert den letzten Katharern vertraut: »Es gibt im Menschen zwei verständige Substanzen, das heißt zwei Seelen, oder: eine Seele und einen Geist. Erstere bleibt im Menschen, solange er lebt, aber die andere, der Geist, kommt und geht und bleibt nicht immer im Menschen.«

»Weil die Theologen diese Tatsache der biblischen Trichotomie natürlich kannten, wagten sie es nicht, durch Konzilsbeschluß einer Offenbarungslehre offen zu widersprechen. (...) Scheinbar verurteilt das Konzil nur die von Photios vertretene Lehre von zwei Seelen im Menschen. Wer aber wie Photios von der Zweiheit der Seelen sprach, der hatte nichts anderes dabei im Sinn als die Zweiheit von Seele und Geist, einerlei ob er dabei die Platonische Trichotomie oder den manichäischen Dualismus zugrunde legte. (...) Verdammt also das Konzil dem Wortlaut nach schlauerweise nur die Lehre von den zwei Seelen, so verketzert es dem Sinne nach nichts anderes als die Anerkennung des Geistes neben der Seele. (...) Tatsache ist, daß die Kirche seit jener Zeit nur noch von des Menschen Seele sprach und den Geist herausdrängte aus der Weltanschauung.«

Gerade das Wissen von dem verborgenen geistigen Wesenskern, dem höheren Selbst des Menschen, wollten führende Kreise innerhalb der Kirche aus dem Bewußtsein der Christenheit bannen - und eben dies wurde durch die Unterzeichnung des Kanon erreicht; seit diesem Zeitpunkt durfte im Rahmen der kirchlichen Lehre nicht mehr vom Menschen als einem geistigen Wesen gesprochen werden. Damit wurde indirekt bestritten, daß es dem Menschen möglich ist, ein höheres geistiges Selbst in sich zu erwecken. Durch den Konzilsentschluß offenbarte sich diesselbe finstere Macht, die zwei Jahrhunderte zuvor den »Impuls« der persischen Akademie von Gondesahpur ausgelöst hatte. Christliche Gemeinschaften, die noch um die Trichotomie wußten, wurden seit jenem Konzil zu Ketzern abgestempelt und notfalls mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Künftig sollten die kirchlichen Dogmen der Seele einen fest umrissenen Glaubensinhalt suggerieren. Denn wie Paulus wußte man, daß »der seelische Mensch nicht in sich aufnehmen kann, was aus dem Gottesgeist hervorfließt«, und an die Stelle des »alles erkennenden geistigen Menschen« sollten die dogmatischen Formeln treten.

 


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