Mittel-Europa zwischen Ost und West

 

Rudolf Steiners Entwurf von Mitteleuropa als zu schaffenden Ausgleichsraum

Vortrag, gehalten in der Akademie der Wissenschaften in Prag (Tschechische Republik) am 30. März 2000
im Rahmen des tschechisch-polnisch-deutschen Kompaktseminars
"Von Herder zu Huntington, oder: Das Widergespiegelte Europa.
Ost und West in kulturhistorischen Vorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts"

(c) 2000 Celtoslavica
All Rights Reserved!

Der Geistesforscher und Lehrer der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861-1925), kam als Sohn einer aus dem niederösterreichischen Waldviertel stammenden Bahnbeamtenfamilie in Kraljevac zur Welt, einer kleinen kroatischen Gemeinde im damaligen Königreich Ungarn. Seine Jugend und Studienzeit (Naturwissenschaften und Philosophie) verbrachte er in und um Wien, wo er die Problematik des Vielvölkerreiches Österreich-Ungarn mit reger Anteilnahme miterlebte. Nach seiner Mitarbeit an der Weimarer Sophienausgabe von Goethes Werken (1890-1897) und erkenntnistheoretischen Promotion über das Thema 'Wahrheit und Wissenschaft' (1891/92) arbeitete Rudolf Steiner bis zur Jahrhundertwende als Herausgeber und Redakteur des 'Magazins für Litteratur' in Berlin; ferner übte er bis 1904 eine Lehrtätigkeit an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Berliner Arbeiterbildungsschule aus. Seit 1901 war es ihm möglich, in Berlin im Rahmen der Deutschen Theosophischen Gesellschaft Forschungsergebnisse darzulegen, die Rudolf Steiner zufolge aus einer übersinnlichen, jedoch auf wissenschaftlicher Methodik aufbauenden Erkenntnis gewonnen wurden. Hieraus erwuchs die Grundlage für das, was er nach 1912 »anthroposophische Geisteswissenschaft« nennen sollte.[1]

Rudolf Steiner ging grundsätzlich von der Annahme aus, daß die Menschheitsverhältnisse zu Beginn des 20. Jhs. über den gesamten Planeten hin in Richtung einer Umbildung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu einem einheitlichen Wesen im Rahmen einer universalen menschheitlichlichen Weltzivilisation verliefen. Antriebskraft dieser Entwicklung sei der Emanzipations- und Individualisierungsprozeß des Menschen, der in den einzelnen Weltregionen eine unterschiedliche Geschwindigkeit einnehme. Gerade diese Entwicklung verlange danach, daß,

    »wie auch immer sich die sozialen Gestaltungen über die Erde hin umwandeln, in diesen sozialen Gestaltungen Menschen leben, die sich als Menschen verständigen müssen, wenn sie miteinander in ein Wechselverhältnis treten wollen. Zur Menschenverständigung gehört aber Vertrauen. Und zum Vertrauen gehört in einem gewissen Sinne wirklich eine Art Hineinsehen in die Seelen der anderen.«[2]

Daneben erfordere es eine vertiefte Erkenntnis in die Gesetzlichkeiten der Erde als einem lebendigen Organismus.

Rudolf Steiner verwies auf eine polare Gliederung des Planeten (auf den Achsen Ost/West, Nord/Süd), die man in meteorologisch-klimatischen, geophysikalischen und biologischen Bedingungen vorfinde. Im mittleren Europa treffen die ozeanischen Kräfte der Weltmeere -- des atlantisch-baltischen und des mediterran-pontischen -- mit den kontinentalen Kräften der eurasischen Steppenlandschaft zusammen. Dies war in der damaligen Zeit auch ein Thema der in Entstehung befindlichen Geopolitik (Mackinder, Mahan), war dort jedoch zuvorderst mit machtpolitischen Erwägungen verbunden.[3] Für Rudolf Steiner ist es in erster Linie eine Kulturfrage, die ihre Auswirkungen in die Politik erstreckt. Die polaren Zonen der Erde treffen auf der Ost-West-Achse in Zentraleuropa aufeinander, im Raum zwischen Burgund, den heutigen Benelux-Staaten bzw. Ostmittel- und dem nördlichen Südosteuropa. In ihrer jeweiligen polaren Ausrichtung bedürfte es einer Zone der Vermittlung und des Gleichgewichts: ein Mittel-Europa.

Auch hier schlug Rudolf Steiner durchaus eine Brücke zu der damaligen Diskussion unter zahlreichen Wissenschaftlern, darunter besonders Geographen.[4] Der österreichische Geograph Hugo Hassinger beispielsweise hatte 1917 diesen Vermittlungscharakter der Landschaft des östlichen Mitteleuropa charakterisiert als einen

    »Kampfplatz der ozeanischen und kontinentalen Kräfte in der Luft und auf der Erde, wo Pflanzen, Tiere und Menschen und deren Kulturen im Widerstreit zueinander stehen, aber auch miteinander darauf angewiesen sind, einen Ausgleich zu suchen, so daß man dieses Mitteleuropa ebenso als einen Ausgleichsraum bezeichnen könnte.«[5]

Dies entsprach der Verzahnung und Ineinanderschiebung von verschiedenem Volkstum und verschiedenen Kulturformen, ja sogar dem Aufeinandertreffen von europäischem und asiatischem Menschheitswesen. Daher erforderte dieses Mischungsgebiet von West- und Ostkultur einen »besonderen politischen Baustil«, der weder aus dem Osten noch aus dem Westen Europas übertragen werden konnte[6]. Diese Auffassung wurde auch von Rudolf Steiner vertreten, der 1917 versuchte, mit der »Dreigliederung des sozialen Organismus« auf diese realen Bedingungen einzugehen (s.u.)

Der zentrale Raum Europas sollte hierbei eine potentiell angelegte, sozial jedoch erst noch zu schaffende Waagefunktion einnehmen, mit der Kulturaufgabe, zwischen beiden Weltpolen des Westens und Ostens zu vermitteln. Im größeren Zusammenhang sah Rudolf Steiner diese Notwendigkeit einer Mittelstellung für ganz Europa als Balance zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten Amerikas und Asiens.

Gerade der europäische Raum zwischen Baltik, Schwarzem Meer und Adria sei ein Gebiet der Welt, in dem alle wichtigen Menschheitsströme mit ihren religiösen, kulturellen, ethnischen, sprachlichen und sozialen Besonderheiten aufeinandertrafen. Das Bild der zusammenwachsenden Menschheit und des zukünftigen, sich aller Abstammungsfesseln befreienden Individuums schwebte als geistige Aufforderung über der unmittelbaren Erlebniswelt der Bewohner dieser Gebiete. Sicherlich: Diese Vielfalt an ethnischen, sprachlichen, religiösen oder sozialen Gemeinschaften, die sich oft erst an der Wende des 19./20. Jhs. als solche bewußt wurden, ließ eine ebensolche Vielfalt an Reibungspunkten, Gegensätzen, Konflikten und Antipathien entstehen. Doch auf den heranwachsenden Menschen übte eine solche Umgebung eine unvergleichliche Anregung, Stimulation und Herausforderung aus. In dieser Buntheit konnte das Individuelle eines jeden einzelnen Menschen besonders deutlich hervortreten und dabei jene Toleranz entfalten, die in der täglichen Begegnung wuchs und erübt wurde. Gleichzeitig waren die Bedingungen solche, das sie an die Bewußtseinskräfte des Einzelmenschen appellierten; der Mensch mußte erkennend in dieses Vielvölkermysterium eindringen.

Das Erwachen der menschlichen Persönlichkeit vollzog sich seit dem späten Mittelalter in ganz Europa, aber gerade im ostmittel- und südosteuropäischen Raum wirkten die Bedingungen dahingehend, daß hier das individuelle Menschen-Ich, abgelöst von jedem staatlichen Rahmen, mit seinem Mitmenschen potentiell in eine unmittelbare Beziehung treten konnte. Nicht Staat oder Kirche konnten hier das Gemeinwesen stiften (obwohl sie es natürlich versuchten), sondern auf Dauer allein das Du-suchende und Du-sprechende Individuum.

Die Mitte ist folglich kein Naturprodukt, sondern etwas, was durch die Bewußtseinsanstrengung der Menschen erschaffen wird. In der Mitte liegt das Prinzip des »Strebens nach Individualität«, die erst errungen werden muß.

    »Es liegt in dem Streben der Bewohner Mitteleuropas [...], etwas zu 'werden' und nicht etwas zu 'sein', so daß in diesem Mitteleuropa der Mensch, der sich selbst versteht, sich eigentlich auflehnen müßte dagegen, jemals unter irgendeinen Begriff notifiziert zu werden. [...] Es ist das Sein im Werden, das Zu-etwas-hinstreben, das Erblicken in weiter Ferne desjenigen, was man eigentlich sein will. [...] Es ist in Mitteleuropa durchaus alles darauf angelegt, den Menschen aus dem Nationalen herauszuholen, den Menschen an sich geltend zu machen. [...] Wenn wir nach einem Worte suchen, daß wir setzen müssen an Stelle des Wortes Nationalität für die mitteleuropäische Kultur, so finden wir, schon rein angesichts der geographischen Notwendigkeit, das Wort: Streben nach Individualität.«[7]

Dies betraf insbesondere die deutsche Kultur und die angrenzenden slavischen auf dem Boden der Habsburgermonarchie sowie die ungarische und rumänische.

Dabei stellte sich die insbesondere die Kulturfrage, wie ein kulturell-geistiger Kontakt zu der östlichen europäischen Hälfte, dem ostslavisch-orthodoxen Bereich erfolgen könnte, der sich in der Zeit der Mongolenherrschaft immer weiter vom Westen fortbewegt habe. Der Osten hatte den Beginn der Renaissance nicht nachvollzogen. Steiner charakterisierte die Frage als Problem, in welcher Weise die abendländisch-westliche Entwicklung nach Osten dringen könne, um der Seelenhaltung der ostslavischen Menschen angemessen zu sein. Mit dem Ziel, daß dann das, was der Osten nicht mitvollzogen habe, in gewisser Weise doch schrittweise aufgenommen und assimiliert werden konnte. In diesem Zusammenhang kritisierte Steiner die einseitige Verwestlichung, die sowohl durch Peter den Großen als auch durch Lenin in Rußland vollzogen wurde, da sie der Seelenlage jeweils nicht angemessen war und dadurch destruktiv wirken mußte.

In der Ost-West-Frage sah er nicht nur eine geopolitische oder kulturell-nationale, sondern auch eine soziale. Auch hier könne man die Neigung zu verschiedenen polaren Tendenzen beobachten:

    »Daher war für die orientalische soziale Ordnung das primäre, das erste Ziel, den Menschen herauswachsen zu lassen aus der sozialen Gebundenheit, aus dem Gemeinschaftsleben; der Mensch sollte, wenn er zu einem höheren Geistesleben aufrücken wollte, eben seine Ichheit finden. Der europäische Mensch der späteren Zeit hatte diese Ichheit, und er mußte nun diese Ichheit hineingliedern in die soziale Ordnung. Er mußte genau den umgekehrten Weg gehen als den, der im Orient gegangen worden ist.«[8]

Dies gelte sowohl im europäischen Verhältnis selbst zwischen lateinischer und griechischer Kultursphäre, als auch im Weltmaßstab zwischen anglo-amerikanischer Sphäre und asiatischer Welt.

Im Jahr 1910 versuchte Rudolf Steiner, erste Elemente eines auf übersinnlicher Erkenntnis gegründeten geistigen Verstehens der europäischen Völkerzusammenhänge in die Kulturwelt einfließen zu lassen.

Die Wolken des Ersten Weltkriegs standen bereits am Horizont. Die Emanzipation des sich befreienden Individuums war die eine Seite, doch das Erwachen des Individuellen in Mitteleuropa benötigte bis zu einem gewissen Grad das gesunde Zusammenklingen des Völkerlebens. Rudolf Steiner wies 1918 rückblickend auf seine Gründe hin, die ihn zu den Vorträgen über die »Mission einzelner Volksseelen« veranlaßten:

    »Für eine wirkliche Psychologie der Völkercharaktere kann die anthropologische, ethnographische, selbst die historische Betrachtung der gewöhnlichen Wissenschaft keine ausreichende Grundlage geben. [...] Wie man bei dem einzelnen Menschen vom Leibe zur Seele fortschreiten muß, wenn man sein inneres Leben kennen lernen will, so muß man für die Völkercharaktere zu dem ihnen zugrundeliegenden Seelisch-Geistigen vordringen, wenn man eine wirkliche Erkenntnis derselben anstrebt.«[9]

Steiner unterschied allerdings die seelische Schicht, wo das Menschenwesen den Zusammenhang mit dem Volkselement herstellt, von der geistigen Individualität des Menschen, die über dem Volkszusammenhang steht und sich daraus in die allgemeine Humanität zu erheben vermag. Diese seelische Schicht wiederum schilderte er als durchdrungen von der Wirksamkeit übermenschlicher geistiger Wesen, die er als Engel und Erzengel ansprach. In dieser seiner Darlegung knüpfte er an die Vorstellungen der althebräischen Religion (Erzengel als Fürsten der Völker, etwa bei Daniel 10:21), des Apostels Paulus, der Hierarchienlehre des Dionysios Areopagites sowie der Engellehre der christlichen Hermetik etwa eines Petrus de Abano oder Johannes Trithemius von Sponheim an und entwickelte sie weiter.

In Europa habe die Menschheitsentwicklung einen besonderen Verlauf genommen, weil hier das, was sich seit dem 15. Jahrhundert allmählich als Volksindividualitäten herauskristallisierte, eben nicht mehr auf dem Blutszusammenhang gegründet war. Das Besondere an den europäischen Völkern bestehe gerade darin, daß sie ihrem Wesen nach die Stufe der Blutsgemeinschaft hinter sich gelassen hatten. Die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Volk sollte in Europa auf einem seelischen Element, einer seelischen Gemeinschaftlichkeit beruhen, und es sei die Aufgabe der Europäer, sich dieser individuellen seelischen Qualitäten bewußt zu werden, einander auch in ihrer besonderen Volksseelenkonfiguration zu erkennen.[10] Umgekehrt betonte Rudolf Steiner immer wieder, wohin die »völkisch-rassische«, an das leibliche Blutprinzip gebundene Denken führen müsse:

    »Durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.«[11]

Am 7. Juni 1910 wies er darauf hin, warum gerade in einer Zeit, in der das Individuelle immer maßgeblicher wird, ein tieferes Verständnis der Volkszusammenhänge angestrebt werden muß:

    »Es ist aus dem Grunde von einer ganz besonderen Wichtigkeit, weil die nächsten Schicksale der Menschheit in einem viel höheren Grade, als das bisher der Fall war, die Menschen zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen werden. Zu dieser gemeinsamen Mission werden aber die einzelnen Volksangehörigen nur dann ihren entsprechenden freien, konkreten Beitrag liefern können, wenn sie vor allen Dingen ein Verständnis haben für ihr Volkstum, ein Verständnis für dasjenige, was man nennen könnte 'Selbsterkenntnis des Volkstums'.«[12]

Früh hatte er an der gedanklichen und politischen Konzeptlosigkeit der Regierungen der Mittelmächte Kritik geübt. Anstatt eine dem geistigen Wesen des Vielvölkerraums entsprechende politisch-soziale Gestaltung anzustreben, hätte sich generelle Verständnislosigkeit, Dahinwursteln, Militarismus oder gar Volkstumskampf durchgesetzt. In diesem Zusammenhang kommentierte er 1897 Theodor Mommsens »Offenen Brief an die Deutschen in Österreich«[13], der in den böhmischen Ländern viel böses Blut erzeugt hatte:

    »Wenn die Glieder einer Gemeinschaft einig sein sollen, dann müssen sie es in dem Inhalt ihrer Ziele sein, in den Gedanken, die ihrer Wirksamkeit zugrunde liegen. Über den Inhalt dieser Ziele, über die Gedanken, aus denen die Deutschen Österreichs die Kraft zu ihrem Vorgehen schöpfen sollen, steht in dem Mahnruf Mommsens nichts. Das muß an ihm zunächst auffallen. Die Auslassungen Mommsens sind bemerkenswert durch das, was sie nicht sagen. Denn gerade dadurch sind die Deutschen Österreichs in der letzten Zeit aus ihrer bevorzugten Stellung innerhalb der Monarchie verdrängt worden, weil ihnen das fehlte, wovon auch Mommsen nicht redet: ein großer politischer fruchtbarer Gedankeninhalt. Wer in Österreich regieren will, muß imstande sein, dem Staate eine Aufgabe zu stellen und für die Lösung dieser Aufgabe inhaltvolle, wirksame Ideen mitbringen. Das Verfassungswesen Österreichs so zu regeln, daß die verschiedenen Nationen sich ihren Fähigkeiten und Wünschen gemäß entwickeln können; wirtschaftliche Reformen durchführen, nach denen das Volk schreit, und die Fragen zu lösen, die Österreich durch seine Weltstellung aufgegeben sind: dies muß derjenige verstehen, dem in Österreich die Führerrolle zukommen soll.«[14]

Während des Ersten Weltkriegs entstand die Möglichkeit, selbst einen Entwurf zur Neugestaltung Mitteleuropas in die Öffentlichkeit zu tragen. Verzweifelt über die inhalts- und konzeptlose Politik der Mittelmächte, wandte sich Otto Graf Lerchenfeld, der über seinen Onkel, den bayerischen Gesandten bei der Reichsregierung Hugo Graf Lerchenfeld, Zugang zu Regierungskreisen hatte, im Juni 1917 an Rudolf Steiner mit der Frage, ob man nicht eine tragfähige, zukunftsweisende Perspektive für die innere Ordnung der mitteleuropäischen Staaten finden könne. Rudolf Steiner hatte im Rahmen seines Wirkens für die Anthroposophische Bewegung bereits seit 1914 zahlreiche öffentliche Vorträge gehalten, in denen er die die Menschen in Deutschland zu einer neuerlichen Besinnung auf die Ideen und Ideale der Goethe-Zeit aufforderte. Wollten sie die ihnen übertragenen Aufgaben ergreifen, so mußten sie jenen Strom des Geisteslebens fortentwickeln, den sie im Laufe des 19. Jahrhunderts fast vollständig versiegen ließen. Er erachtete es für notwendig, daß die Deutschen innehielten und der tiefen Kluft gewahr würden, die sich zwischen der Gedankenwelt der hervorragendsten Repräsentanten des deutschen Kulturlebens und der ernüchternden Realität des wilhelminischen Reiches aufgetan hatte.

Steiner konnte er der Bitte Graf Lerchenfelds entsprechen, indem er in den folgenden drei Wochen in groben Zügen ein »mitteleuropäisches Programm« erarbeitete, das in erster Linie auf die Bedingungen eines künftigen Zusammenlebens der verschiedenen Volksgruppen eingehen wollte. Dies war der Keim zu einem viel umfassenderen Konzept, das unter der Bezeichnung »Dreigliederung des sozialen Organismus« Ende 1918 an die Öffentlichkeit getragen wurde.[15]

In zwei Memoranden wollte Rudolf Steiner seine Grundgedanken den verantwortlichen Staatsmännern nahebringen. Das erste Memorandum vom 21./22. Juli 1917 ließ Ludwig Polzer-Hoditz, ein Vertrauter Steiners, am 24. Juli seinem Bruder Arthur übermitteln, der in seiner Eigenschaft als österreichischer Kabinettschef den Inhalt der Denkschrift Kaiser Karl zu unterbreiten hatte. In diesem Memorandum legte Rudolf Steiner dar, daß die österreichisch-ungarische Politik seit 1879 zum Scheitern verurteilt war, weil man in erster Linie »der Slawenfrage nicht Herr werden« konnte, wobei man hätte erkennen müssen, daß diese »den Grund enthält für die Entstehung dieses Krieges«. Man dürfe deshalb Rußland und den Alliierten nicht die alleinige Initiative in diesem entscheidenden Punkt überlassen.

Wolle Österreich-Ungarn als Staat überleben, dürfe es

    »nicht zurückschrecken vor der völligen Freiheit im Sinne der Autonomisierung und Föderalisierung des Volkslebens. Diese Föderalisierung ist vorgebildet im deutschen bundesstaatlichen Leben, das gewissermaßen das von der Geschichte vorgebildete Modell ist für dasjenige, was in Mitteleuropa fortgebildet werden muß bis zur völligen föderalistisch-freiheitlichen Gestaltung aller derjenigen Lebensverhältnisse, die ihren Impuls in dem Menschen selber haben, also nicht unmittelbar, wie die militärisch-politischen, von den geographischen, und, wie die wirtschaftlichen, von den geographisch-opportunistischen Verhältnissen abhängig sind. Die Gestaltung dieser Verhältnisse wird nur dann in gesunder Weise erfolgen, wenn das Nationale aus der Freiheit, nicht die Freiheit aus dem Nationalen entbunden wird. [...] Will man das letztere, so [...] legt [man] den Grund zu neuen Konflikten und Kriegen.«[16]

Dem Schlagwort vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« solle der Gedanke entgegengehalten werden, daß die »Völkerbefreiung durch die Menschenbefreiung« erfolgen müsse, also durch die Befreiung des Menschen als Individuum, welches dann seine ethnisch-nationale Zugehörigkeit frei bestimmen solle. Denn das Nationalitätsprinzip an sich ordnet die Selbstbestimmung des Individuums dem fiktiven Willen eines Kollektivs unter:

    »Die Völkerbefreiung ist möglich. Sie kann aber nur das Ergebnis, nicht die Grundlage der Menschenbefreiung sein. Sind die Menschen befreit, so werden es durch sie die Völker.«[17]

Dies erfordere von den Verantwortlichen allerdings ein grundlegendes Umdenken in allen anderen Bereichen, denn für eine Gesundung der mitteleuropäischen Verhältnisse sei es in Zukunft notwendig, den kulturellen, den politisch-rechtlichen und den wirtschaftlichen Bereich des öffentlichen Lebens auf verschiedene Grundlagen zu stellen.

    »1. [...] Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Untergrundes.

    2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nur dem Wirtschaftsparlamente verantwortlich.

    3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiet hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. [...] Der Staat überläßt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überläßt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen.«[18]

Was die Dreigliederung von anderen Vorstellungen unterschied -- beispielsweise von den Plänen des Prälaten Ignaz Seipel, der auf die katholische Erneuerung eines übernationalen Heiligen Römischen Reiches setzte, oder von denen der österreichischen Sozialdemokraten Karl Renner und Otto Bauer, deren Föderalisierungsvorschläge in den konventionellen Kategorien des Einheitsstaates befangen blieben -- war gerade der Gedanke, daß das neuzeitliche Staatswesen, welches alle Bereiche der menschlichen Existenz zu umfassen beanspruchte, nicht mehr mit den Lebensbedingungen der gegenwärtigen Menschheit übereinstimmte. Der geistig-kulturelle Lebensbereich und das Wirtschaftsleben verlangten nach einer solchen rechtlichen Gestaltung, die es ihnen ermöglichte, sich aus der ihnen eigenen Gesetzmäßigkeit heraus frei zu entfalten -- nicht im Sinne des Ständestaates, sondern im Rahmen von Zusammenschlüssen, die der Tatsache Rechung tragen sollten, daß jeder individuelle Mensch heute in allen drei Bereichen tätig war.

    »Der serbisch-österreichische Konflikt, der am Ausgangspunkt der Weltkriegskatastrophe steht, ist das vollgültigste Zeugnis dafür, daß die politischen Grenzen dieses Einheitsstaates von einem gewissen Zeitpunkte an keine Kulturgrenzen sein durften für das Völkerleben. Wäre eine Möglichkeit vorhanden gewesen, daß auf sich selbst gestellte, von dem politischen Staate und seinen Grenzen unabhängige Geistesleben sich über diese Grenzen hinüber in einer Art hätte entwickeln können, die mit den Zielen der Völker im Einklange gewesen wäre, dann hätte der im Geistesleben verwurzelte Konflikt sich nicht in einer politischen Katastrophe entladen müssen. Eine dahin zielende Entwickelung erschien allen, die in Österreich-Ungarn sich einbildeten, 'staatsmännisch' zu denken, als eine volle Unmöglichkeit, wohl gar als der reine Unsinn. Deren Denkgewohnheiten ließen nichts anderes zu als die Vorstellung, daß die Staatsgrenzen mit den Grenzen der nationalen Gemeinsamkeiten zusammenfallen. Verstehen, daß über die Staatsgrenzen hinaus sich geistige Organisationen bilden können, die das Schulwesen, die andere Zweige des Geisteslebens umfassen, das war diesen Denkgewohnheiten zuwider. Und dennoch: dieses 'Undenkbare' ist die Forderung der neueren Zeit für das internationale Leben.«[19]

Der Ausbruch der Weltkriegskatastrophe auf dem Balkan war darum auch darauf zurückzuführen, daß sich in dieser Region wirtschaftliche, machtpolitische und kulturelle Interessen, die wegen ihrer jeweils innewohnenden Gesetzmäßigkeit nach unterschiedlichen Lösungsansätzen verlangten, zu einem einzigen Knäuel verschlungen hatten. Österreich-Ungarn würde sich als lebensfähig erweisen, wenn es in Hinkunft die Forderungen der Zeit erkannte und berücksichtigte.

    »Rudolf Steiner wollte zum Beispiel, daß die Italiener von Triest, welches damals zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte, eine italienische Universität erhielten. Auf politischem Gebiet wollte er, daß die Staatsgrenzen nur für polizeiliche und militärische Zwecke Grenzen blieben. Einzelpersonen sollten jedoch das Recht haben, sich als außerterritorial zu erklären. Ein Franzose im Rheinland oder ein Deutscher im Elsaß würden deshalb ihre Zugehörigkeit zum einen oder anderen Staat frei bestimmen können. Und sie könnten frei entscheiden, ob sie ihre Kinder auf eine deutsche oder eine französische Schule schicken wollen.«[20]

Als vorrangig bezeichnete es Rudolf Steiner, daß die Mittelmächte endlich vor der Welt ein Programm verkündeten, das den mitteleuropäischen Verhältnissen entsprach und gleichzeitig eine anziehende Kraft ausstrahlte. Anstelle militärischer Offensiven müßten Initiativen im Wettstreit der Ideen ergriffen werden. Denn

    »die Entente und Wilson sagen, wofür sie zu kämpfen vorgeben.[21] Ihre Worte haben Werbekraft. Ihre Werbekraft wird immer bedenklicher. Es gibt Menschen in Mitteleuropa, die gewiß nicht eingestehen wollen, daß sie Wilson nachsprechen, deren Ideen aber dessen Worten nicht unähnlich klingen. [...] das real Aussichtsvolle dieses Programmes -- neben seinem moralisch Blendenden -- liegt darin, daß es die Instinkte der mittel und osteuropäischen Völker dazu benützen will, diese Völker durch moralisch-politische Überrumpelung in wirtschaftliche Anhängigkeit von dem Anglo-Amerikanismus zu bringen. Die geistige Anhängigkeit würde dann nur die notwendige reale Folge sein.«[22]

Drei Jahre später schrieb Rudolf Steiner im Rückblick:

    »Wilsons Politik war nur eine abstrakte Zusammenfassung der alten Staatsgedanken. Die Menschen sollten sich in einer gewissen Art Staatsgebilde schaffen. Dadurch sollten die Kriegsursachen aus der Welt geschafft werden. Aber diese Art war eben die, welche die Kriegsursachen hervorgebracht hatte. Meine Absicht im Jahr 1917 war, den vierzehn Punkten Wilsons dasjenige entgegenzustellen, was an die Stelle dieser Art jenes andere setzt, die den Kräften des Geites und Wirtschaftslebens die Selbstverwaltung gibt, deren Nicht-Vorhandensein in die Verwirrung getrieben hat.«[23]

Im Sommer 1917 hätte sich dem Habsburgerreich »möglicherweise die letzte Chance seines Fortbestandes«[24] geboten. Kabinettschef Arthur Polzer-Hoditz, der nach Auffassung Steiners die Nachfolge von Graf Czernin im Amt des Außenministers hätte anstreben sollen, ließ nach dem Erhalt des ersten Memorandums wertvolle Zeit verstreichen, weil er mit dem Zweifel rang, ob der Dreigliederungs-Gedanke nicht von vornherein an den althergebrachten Gewohnheiten und Gedanken der Politiker scheitern müßte; so machte er den jungen Kaiser erst am Tag seines von Czernin erzwungenen Rücktritts am 27. November 1917 mit dem Inhalt des Memorandums vertraut. Und erst am 17. Februar 1918 konnte Polzer-Hoditz eine Ausarbeitung der Denkschrift überreichen.[25]

Doch Kaiser Karl, der zu diesem Zeitpunkt noch auf den günstigen Ausgang von Geheimverhandlungen über einen Separatfrieden mit den Westmächten hoffte, delegierte das weitere Vorgehen an Ministerpräsident Ernst von Seidler; dieser kehrte die Angelegenheit stillschweigend unter den Tisch. Ein letzter, verzweifelter Versuch des Kaisers, am 16. Oktober 1918 wenigstens die Föderalisierung des cisleithanischen Teils seiner sterbenden Monarchie zu erwirken, war zum Scheitern verurteilt. Die Propaganda der Alliierten und die soziale Verelendung nach vier Kriegswintern hatten die nationalen Forderungen radikalisiert; seit dem Frühjahr des Jahres 1918 strebten die Völker des Reichs nach sozialer Revolution, nach ihrer staatlichen Unabhängigkeit. Am 11. November dankte Kaiser Karl ab. Die Monarchie hatte aufgehört zu existieren.

Auf eine ähnlich ablehnende Haltung trafen die Initiativen Rudolf Steiners in Deutschland. Ende Juli oder Anfang August 1917 führte er eine Unterredung mit dem neuen Außenminister Richard von Kühlmann.

    »Ich habe Kühlmann dazumal gesagt: Sie haben die Wahl, entweder jetzt Vernunft anzunehmen und auf das hinzuhorchen, was in der Entwicklung der Menschheit sich ankündigt als etwas, was geschehen soll [...], oder sie gehen Revolutionen und Kataklysmen entgegen.«[26]

Doch blieb diese Bemühung genauso ohne Folgen wie das Gespräch mit Prinz Max von Baden am 7. Januar 1918, der zu diesem Zeitpunkt bereits für das Amt des Reichskanzlers im Gespräch war. Rudolf Steiner schilderte:

    »[...] von seiten dieser Persönlichkeit [wurde] bemerkt [...], wie notwendig es eigentlich sei, eine Psychologie, eine Seelenkunde der europäischen Völker zu haben, denn das große Chaos, in das man hineinsegelt, werde fordern, daß diejenigen, die einigermaßen führend sein wollen, sich auskennen in der Wirksamkeit, in den Kräften der europäischen Volksseelen. Und es wurde von dieser Persönlichkeit sehr bedauert, daß eigentlich keine Möglichkeit sei, bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten so etwas wie eine Seelenkunde der Völker zugrunde legen zu können. Ich erwiderte, daß ich über diese Seelenkunde der europäischen Völker hier in Kristiania [Oslo] einen Vortragszyklus gehalten habe[27], und ich habe dann dieser Persönlichkeit diesen Vortragszyklus mit einer aus der damaligen Situation -- Januar 1918 -- heraus geschriebenen Vorrede geschickt. [...] Genützt hat es allerdings nichts.«[28]

Der Abschluß des Friedensvertrages von Brest-Litovsk Anfang März 1918, der alle Kolonialgelüste der Obersten Heeresleitung in Osteuropa widerspiegelte, wurde von Rudolf Steiner als politische und geistige Katastrophe bewertet. Er hatte gehofft, daß Außenminister Kühlmann den Dreigliederungsgedanken in Brest als Programm der Mittelmächte und als Gegenposition zu den Selbstbestimmungsparolen eines Wilson und Lenin verkünden würde, wodurch nach Ansicht Steiners der Verlauf der Ereignisse eine andere Wendung genommen hätte. Er verzichtete fortan darauf, seine Gedanken an Vertreter der Reichsführung heranzutragen, und unterstützte private Initiativen, um eine Dreigliederungs-Bewegung auf breiter gesellschaftlicher Grundlage anzuregen.

Am 28. April erschien Rudolf Steiners Buch 'Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft', in der er den Dreigliederungs-Gedanken in einem breiteren Rahmen darstellte. Erneut mahnte er, daß die deutsche Gesellschaft einer Selbstbesinnung nicht aus dem Weg gehen dürfe:

    »Unglaube an die Einsicht aus geschichtlich wirkenden Kräften heraus; Abneigung hinzusehen auf solche aus Erkenntnis geistiger Zusammenhänge sich ergebender Impulse: das hat die Lage Mitteleuropas hervorgebracht. [...] Soll das Denken über dasjenige, was geschehen muß, heute gegenüber der sozialen Frage ebenso auf dem Nullpunkt angelangen, wie die mitteleuropäische Politik für ihre Aufgaben 1914 angekommen war?«[29]

Bis 1922 wies Rudolf Steiner (er verstarb im März 1925) in öffentlichen Vorträgen und Ansprachen darauf hin, daß keines der drei Glieder des sozialen Lebens -- Geistes und Kulturleben, Staatswesen, Wirtschaftsleben -- für sich allein, unter Ausschluß der beiden anderen Glieder, in fruchtbarem Sinn neu geordnet werden könne. 1922 hielt er es für sinnlos, den Dreigliederungsimpuls im politischen Leben noch weiter zu propagieren, da der Moment der möglichen Umsetzung verstrichen war und sich andere Kräfte durchgesetzt hatten. Er ging jedoch davon aus, daß die sozialen Nöte in späterer Zeit den Dreigliederungsgedanken in neuer Form aufleben lassen würden.

 

[1] Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner. Eine Biographie. 2 Bde. Stuttgart 1997; Gerhard Wehr: Rudolf Steiner. Wirklichkeit, Erkenntnis und Kulturimpuls. Freiburg/B. 1982; Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner und die geistige Aufgabe Deutschlands. Geschichte einer Hoffnung. In: Die Drei Heft 12 (1989), S. 880-905.

[2] Vortrag vom 8. Juni 1922, West-Ost-Kongreß Wien, in: Rudolf Steiner: Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. Dornach 3. Aufl. 1981 (Gesamtausgabe Bd. 83), S. 197.

[3] A. T. Mahan: The Influence of Sea Power upon History. London 1890; W.H. Parker: Mackinder: Geography as Aid to Statescraft. Oxford 1982; Halford J. Mackinder: The Geographical Pivot of History. In: Geographical Journal 23 (1904); Geoffrey Parker: Western Geopolitical Thought in the 20th Century. London 1985.

[4] Henry Cord Meyer: Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945. The Hague 1955; Jacques Droz: L'Europe centrale. Évolution historique de l'idée de «Mitteleuropa». Paris 1960; Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Richard G. Plaschka / Horst Haselsteiner / Arnold Suppan / Anna M. Drabek / Brigitta Zaar. Wien 1995 (= Zentraleuropa-Studien 1).

[5] J. Partsch: Mitteleuropa. Gotha 1904; Hugo Hassinger: Das geographische Wesen Mitteleuropas. In: Mitteilungen der geographischen Gesellschaft Wien 60 (1917), S. 437-493; Eduard Hanslik: Österreich als Naturforderung. Wien 1917; Hugo Hassinger: Österreichs Wesen und Schicksal, verwurzelt in seiner geographischen Lage. Wien 1949 (= Wiener Geographische Studien 20), S. 7f.

[6] Hassinger: Österreichs Wesen und Schicksal, S. 8.

[7] Rudolf Steiner, Vortrag vom 19. Oktober 1914. In: Der Dornacher Bau als Wahrzeichen geschichtlichen Werdens und künstlerischer Umwandlungsimpulse. 2. Aufl. Dornach 1985 (Gesamtausgabe Bd. 287).

[8] Vortrag vom 9. Juni 1922, West-Ost-Kongreß Wien, in: Rudolf Steiner: Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit, S. 239.

[9] Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanischnordischen Mythologie. 5. Aufl. Dornach 1982 [=Gesamtausgabe, Bd. 121], Vorrede.

[10] Steiner stand hier vollkommen auf dem Boden der idealistischen Auffassung, die drei Generationen zuvor der Slovake Ján Kollár unter dem Einfluß von Herder und Goethe in die Worte faßte: »Menschen und Völker, im schönsten Sinne des Wortes, werden erst durch die Anschauung des Ganzen der Menschheit, ohne welche die einzelnen Menschen nur Kinder, die Völker und Stämme nur Barbaren bleiben. Stämme und Völker die sich den Einflüssen und Berührungen mit anderen verschliessen, sind wie Wohnungen, in welche keine frische Luft kommt. [...] Das Leben der Menschheit ist Entwicklung der Vernunft oder Entfaltung der inneren Welt im Menschen. Völker sind Formen in denen sich die Menschheit entwickelt und gestaltet.« Ján Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation (1836), hrsg. von Milos Weingart: Rozpravy o slovanské vzájemnosti. Praha 1929, S. 87.

[11] Vortrag vom 26. Oktober 1917, in: Der Sturz der Geister der Finsternis (GA 177).

[12] Die Mission einzelner Volksseelen, Vortrag vom 7. Juni 1910.

[13] »Und nun sind die Apostel der Barbarisierung am Werke, die deutsche Arbeit eines halben Jahrtausends in dem Abgrunde ihrer Unkultur zu begraben. [...] Österreich ist, solange der deutsche Kitt es zusammenhält, [...] ein großer Staat. [...] Seid hart! Vernunft nimmt der Schädel der Tschechen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich! [...] Es geht um alles; Unterliegen ist Vernichtung.« An die Deutschen in Österreich«, Neue Freie Presse vom 31. Oktober 1897; zit. nach Jirí Koralka: Vsenemecky svaz a ceská otázka koncem 19. století. Praha 1963, S. 48.

[14] Magazin für Literatur, Jhg. 66, Nr. 45, 13. November 1897. [Hervorhebung im Original.]

[15] Hierzu vor allen Dingen Albert Schmelzer: Die Dreigliederungsbewegung 1919. Rudolf Steiners Einsatz für den Selbstverwaltungsimpuls. Stuttgart 1991; Hans Kühn: Dreigliederungszeit. Dornach 1978.

[16] Rudolf Steiner: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921. Dornach 1961 [=Gesamtausgabe Bd. 24], S. 331.

[17] 2. Memorandum, ebenda, S. 370, 359

[18] 1. Memorandum, ebenda, S. 341ff.

[19] Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. 1. Aufl. 1919, 6. Aufl. Dornach 1976 [Gesamtausgabe Bd. 23], S. 117.

[20] Walter Johannes Stein: Lebenserinnerungen, in: Derselbe: Der Tod Merlins. Das Bild des Menschen in Mythos und Alchemie. Dornach 1984, S. 51.

[21] Den dahinterliegenden Gedanken glaubte Steiner am 15. Januar 1917 folgendermaßen charkterisieren zu können: »Europa soll so eingerichtet werden, daß die kommerziell-universale Monarchie begründet werden kann. [...] Ich sagte: Die kommerzielle Weltherrschaft -- denn man braucht nicht gleich vom Anfange an all die Territorien auch wirklich zu besitzen, sondern es genügt, sie so zu arrangieren, daß sie, wie man sagt, in die Einflußsphäre fallen. [...] Will man [...] eine kommerzell-industrielle Weltherrschaft begründen, so muß man das Hauptgebiet, auf das es ankommt, zunächst in zwei Teile teilen. Das hängt zusammen mit der Natur des Kommerziell-Industriellen. [...] Es fordert dasjenige, was auf der Welt des physischen Planes geschieht, immer eine Zweispaltung. [...] So kann auch nicht ein Kommerzium da sein, ohne ein Gebiet, das einem Kommerzium gegenübersteht. Daher muß ebenso, wie auf der einen Seite das britische Kommerzium begründet wird, der russische als der dazugehörige gegensätzliche Pol geschaffen werden. Damit sich die entsprechende Differenzierung ergibt zwischen Einkauf und Verkauf, damit sich die Zirkulation ergibt, braucht man diese zwei Gebiete. Man kann nicht die Welt zu einem einheitlichen Reiche machen; da würde man nicht ein kommerzielles Weltreich begründen können. [...] Es ist ein weltgigantischer Gedanke, den Gegensatz zu schaffen, gegenüber dem alles andere als eine Kleinigkeit erscheint, diesen Gegensatz zwischen dem britischen Kommerzimperium und demjenigen, was sich aus dem Russischen heraus ergibt.« Vortrag vom 15. Januar1917. Rudolf Steiner: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Bd. II. 2. Aufl. Dornach 1983 [=Gesamtausgabe, Bd. 174], S. 162ff.

Bereits im Jahr 1900 formulierte die US-amerikanische Zeitschrift The Outlook einen Standpunkt, der unter anglophonen Staatsmännern der damaligen Zeit -- etwa Theodore Roosevelt und Lord Salisbury -- verbreitet war: »[...] as the issue of the past was between Anglo-Saxon and Latin civilization, so the issue of the future is between Anglo-Saxon and Slavic civilization.« Bradford Parkins: The Great Rapprochement: England and the United States, 1895-1914. New York 1968, p. 77. Diese Feststellung wurde von Winston Churchill 1932 in einem Vortrag in den USA der Zeit angepaßt und umformuliert: »The two great opposing forces of the future [...] would be the English speaking peoples and Communism«, hier das »ewige« slavische Rußland. Fraser J. Harbutt: The Iron Curtain. Churchill, America, and the Origins of the Cold War. Oxford 1988, pp. 17, 24. Und der 'Vater der Geopolitik' Halford Mackinder schrieb 1904 über das zarische Rußland, als er die polare Gegenüberstellung zwischen Seemacht (die englischsprachige Welt) und Herzland (Rußland) verdeutlichen wollte: »Russia is more or less apart, inaccessible to world commerce. It is impossible for Russia to be fused with with West. [...] Russia replaces the Mongol Empire. [...] In the world at large she occupies the central strategical position held by Germany in Europe. [...] [It is not likely] that any possible social revolution will alter her essential relations to the great geographical limits of her existence.« Halford J. Mackinder: The Geographical Pivot of History. Geographical Journal 23 (1904). Cf. W. H. Parker: Mackinder. Geography as an Aid to Statescraft. Oxford 1982, p. 156, 436. Aus dem Umkreis der anglikanischen Hochkirche sprach C.G. Harrison im Jahr 1893 in London in einer Reihe von Vorträgen, daß das russländische Zarenreich sterben müsse, damit das russische Volk leben könne. Nach dem Sturz des Zarentums sei es reif für ein 'Experiment': » We need not pursue the subject further than to say that the national character will enable them to carry out experiments in Socialism, political and economical, which would present innumerable difficulties in Western Europe.« -- C. G. Harrison: The Transcendental Universe. Six Lectures on Occult Science, Theosophy, and the Catholic Faith. Delivered before the Berean Society. London 1894, Neuausgabe London 1993, S. 99.

[22] 2. Memorandum, Steiner: Aufsätze über die Dreigliederung 355.

[23] Steiner: Aufsätze über die Dreigliederung 181f. Als Trockij am 22. Dezember 1917 das Selbstbestimmungsrecht als universelles Prinzip der sozialistischen Revolution nicht nur für die Völker »Elsaß-Lothringens, Galiziens, Posens, Böhmens und der südslavischen Provinzen«, sondern auch für die Völker »Irlands, Ägyptens, Indiens, Madagaskars, Indochinas etc.« einforderte, fürchtete nun selbst Wilson das revolutionäre Potential des Selbstbestimmungsrechts, das als realitätsferne Phrase doch einen so »edlen« Klang besaß: »[...] in point of logic, of pure logic, this principle which was good in itself would lead to the complete independence of various small nationalities now forming part of various empires. Pushed to its extreme, the principle would mean the disruption of existing governments, to an undefinable extent [...].« Victor S. Mamatey: The United States and East Central Europe 1914-1918. A Study in Wilsonian Diplomacy and Propaganda. Princeton 1957, S. 174. Auch US-Außenminister Lansing hatte am 30. Dezember 1918 in einem vertraulichen Memorandum gewarnt: » The more I think about the President's declaration as to the right of 'selfdetermination', the more convinced I am of the danger of putting such ideas into the minds of certain races. [...] It is bound to [...] create trouble in many lands. What effect will it have on the Irish, the Indians, the Egyptians, and the nationalities among the Boers? Will it not breed discontent, disorder and rebellion? [...] The phrase is simply loaded with dynamite. It will raise hopes which can never be realized. It will, I fear, cost thousands of lives. In the end it is bound to be discredited, to be called the dream of an idealist who failed to realize the danger until too late to check those who attempted to put the principle into force.« N. Gordon Levin: Woodrow Wilson and World Politics. America's Response to War and Revolution. New York 1968, S. 247.

[24] So urteilt jedenfalls Robert A. Kann: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Bd. I: Ideen und Pläne zur Reichsreform. Graz-Köln 1964, S. 249.

[25] Vgl. Arthur Polzer-Hoditz: Kaiser Karl. Aus der Geheimmappe seines Kabinettschefs. Zürich-Leipzig-Wien 1919, S. 521, 533ff.

[26] Rudolf Steiner rückblickend am 21. April 1919, in Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen. Dornach 1964 [=Gesamtausgabe, Bd. 192], S. 16f.

[27] Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanischnordischen Mythologie. 5. Aufl. Dornach 1982 [=Gesamtausgabe, Bd. 121].

[28] Vortrag vom 24. November 1921, in: Rudolf Steiner: Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse. 2. Aufl. Dornach 1982 [=Gesamtausgabe, Bd. 209], S. 9f.

[29] Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage, S. 123. Vgl. hierzu auch S. 121f. »Niemand wollte [in Deutschland] einsehen, wie man an den Stellen [Regierung, Heeresleitung], bei denen die Entscheidung lag [Kriegseintritt 1914], keinen Sinn hatte für weltgeschichtliche Notwendigkeiten. Wer von diesen Notwendigkeiten etwas wußte, dem war auch bekannt, wie die englischsprachigen Völker Persönlichkeiten in ihrer Mitte hatten, welche durchschauten, was in den Volkskräften Mittel- und Osteuropas sich regte. Man konnte wissen, wie solche Persönlichkeiten der Überzeugung waren, in Mittel- und Osteuropa bereite sich etwas vor, was in mächtigen sozialen Umwälzungen sich ausleben muß. In solchen Umwälzungen, von denen man glaubte, daß in den englisch sprechenden Gebieten für sie weder schon geschichtlich eine Notwendigkeit, noch eine Möglichkeit vorlag. Auf solches Denken richtete man die eigene Politik ein. In Mittel- und Osteuropa sah man das alles nicht, sondern orientierte die Politik so, daß sie 'wie ein Kartengebäude zusammenstürzen' mußte.« (Zur deutschen Staatsführung, S. 119:) »Man kam [...] immer mehr dazu, die äußere Welt-Machtstellung des Reiches auf Formen gründen zu wollen, die aus den ausgelebtesten Arten des Vorstellens über die Macht und den Glanz der Staaten heraus gebildet waren. Man gestaltete ein Reich, das ebenso wie das österreichisch-ungarische Staatsgebilde dem widersprach, was in den Kräften des Völkerlebens der neueren Zeit sich geschichtlich ankündigte. Von diesen Kräften sahen die Verwalter dieses Reiches nichts. Das Staatsgebilde, das sie im Auge hatten, konnte nur auf der Kraft des Militärischen ruhen. [...] Durch ihr Nicht-Verstehen der neuzeitlichen Forderungen des Völkerlebens war 1914 die deutsche Politik an dem Nullpunkte ihrer Betätigungsmöglichkeit angelangt. Sie hatte in den letzten Jahrzehnten nichts bemerkt von dem, was hätte geschehen sollen [...].« (Über die Habsburgermonarchie, S. 117f.:) »Statt das 'staatsmännische' Denken in eine Richtung zu bringen, welche den neuzeitlichen Forderungen entsprochen hätte, war man bestrebt, Einrichtungen zu bilden, welche den Einheitsstaat gegen diese Forderungen aufrechterhalten sollten. Dieser Staat wurde dadurch immer mehr zu einem unmöglichen Gebilde. [...] Durch die Teilnahme vieler Völkerschaften an dem österreichisch-ungarischen Staatsgebilde wäre diesem die weltgeschichtliche Aufgabe gestellt gewesen, den gesunden sozialen Organismus vor allem zu entwickeln. Man hat diese Aufgabe nicht erkannt. Diese Sünde wider den Geist des weltgeschichtlichen Werdens hat Österreich-Ungarn in den Krieg getrieben.«

 


| Bibliothek | CeltoSlavica Home |