Europäische Zukunft

und die russische Sprache

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Vor rund zehn Jahren, als die von Michail Gorbacev eingeleiteten Reformmaßnahmen im Zeichen von Perestrojka und Glasnost' die Sowjetunion in ungeahntem Ausmaß und Tempo veränderten, erfuhr auch der Russisch-Unterricht in Deutschland einen beträchtlichen Aufschwung. Nie war in der breiten Öffentlichkeit das Interesse für die kulturellen und sozialen Phänomene auf russischem Boden größer gewesen. Doch leider war dieses Interesse eine Modeerscheinung und nicht von langer Dauer. Mitte der 90er Jahre war die Zahl der Interessenten für den russischen Sprachunterricht bereits abgeflaut. Mitbedingt durch die recht einseitige Berichterstattung in den westlichen Medien, wich die Faszination dem Unverständnis und der Abneigung für ein Land, das außer sozialer und wirtschaftlicher Misere, Kriminalität, Niedergang und Krieg nichts zu bieten scheint. Mit dem Nachlassen des Interesses schwinden jedoch auch die Hoffnungen auf eine neue Annäherung der beiden Kultursphären Europas, der lateinisch-westlichen und der orthodox-östlichen, die man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hegen konnte. Das Gegenteil ist eingetreten: Wie gebannt blickt die Bevölkerung Europas heute nach Westen, über den Atlantik, und so ist der europäische Osten heute für viele in noch viel weitere Ferne gerückt ist als zu Zeiten des Kommunismus.

Dabei war der deutsche Sprachraum seit Jahrhunderten in enger kultureller Wechselbeziehung mit Rußland gestanden. Nicht nur die russische Seite empfand die kulturelle Begegnung als tief anregend, fruchtbar und gewinnbringend, wenngleich sie wiederholt von politischen Spannungen und Ereignissen überschattet wurde. Es waren deutsche Gelehrte, deren bahnbrechende Arbeiten die Entstehung der modernen russischen Schriftsprache wesentlich förderten. Viele Deutsche standen im Dienst der russischen Zaren als Diplomaten, Erzieher und Universitätsprofessoren, deutsche Philosophen und Künstler fühlten sich von der russischen Sprache und ihrer immensen Gestaltungskraft angezogen und herausgefordert.

Dennoch hatte es das Russische im deutschen Sprachraum bis auf den heutigen Tag schwer, sich als anerkannte Kultursprache in demselben Maß durchzusetzen, wie das etwa in Frankreich der Fall war. Insbesondere nach 1945 hatte die Zurückhaltung oftmals politische Beweggründe: Russisch war entweder die Sprache des ideologischen Feindes (in Westdeutschland) oder aber gleichfalls ideologisch auferlegte Pflichtsprache (in Ostdeutschland). In Frankreich hingegen blickte man seit dem 19. Jh. in erster Linie auf den Reichtum der russischen Kultur, vor allem auf die im gesamteuropäischen Zusammenhang herausgehobene Bedeutung der russischen Literatur, die sich erst mit dem Erlernen der Sprache ganz zu erschließen beginnt. Den besonderen Stellenwert des Russischen erkennt man daran, daß es an französischen Gymnasien Tradition ist, gerade begabte Schüler in Russisch zu unterrichteten — nicht nur, weil diese Sprache für einen Franzosen schwerer zu erlernen ist als etwa Spanisch, sondern weil man es mit einer Erweiterung des kulturellen Horizonts verbindet. Etwas anderes kommt hinzu, wofür man vielleicht in Frankreich eine deutlichere Empfindung hat als im deutschen Sprachraum: Gerade weil im Französischen eine starke Formengebundenheit anzutreffen ist, die zwar »ästhetisch«, aber manchmal zugleich »leblos« wirkt, wird das Russische in seiner lautlichen und grammatikalischen Dynamik mitunter wie ein befreiender Gegenpol erfahren.

In den letzten Jahren hat sich die Verwestlichung des wiedervereinigten Deutschland deutlich beschleunigt. Die Verbreitung von Computer und Internet unterstützt den Siegeszug des Englischen als neuer lingua franca der Völker, die mit zahllosen Lehnwörtern in das Deutsche einfließt. Mit der Verwestlichung ist jedoch zugleich ein stärkere Materialisierung, Abstrahierung und Austrocknung des allgemeinen Sprachvermögens verbunden. In der heutigen westlichen Welt reduziert sich Sprache im täglichen Umgang dadurch zu einer bloßen Ansammlung kommunikativer Zeichen und Chiffren. Viele Menschen haben im Erlernen der russischen Sprache empfunden, daß diese Sprache in ihrer charakteristischen, rhythmisch-musikalischen Ausprägung, in ihrem weiten lautlichen Klangspektrum, noch wie in eine unmittelbare Jugendkraft getaucht ist, daß sie ihr eigentliches Leben, ihre kulturell-geistige Schöpferkraft erst noch vor sich hat, ja daß wir Menschen heute noch gar nicht das spirituelle Potential vollständig be- und ergreifen können. Der westliche Mensch vermag dabei zu erkennen, was ihm an innerer geistiger Kraft und Jugend im Lauf der letzten Jahrhunderte verloren gegangen ist. Im Russischen ist jedoch nicht einfach etwas Vergangenes konserviert, was der westliche Mensch bereits vermißt, sondern im Gegenteil Zukünftiges angelegt und zurückgehalten. Nicht nur Rußland braucht darum den Westen, auch die Menschen des Westens sind auf die lebendige Begegnung mit Rußland angewiesen.

Nun zielt die politische und wirtschaftliche Stoßrichtung der westlichen Welt auf ein immer engeres Zusammenwachsen der sogenannten »atlantischen Gemeinschaft«, der auch Deutschland angehört. In dieser »Wertegemeinschaft« wird Englisch das dominierende Sprachmedium sein. Die Auswirkungen zeigen sich nicht nur im Unterricht des Russischen und anderer slavischen Sprachen in Deutschland, sondern auch in der Verbreitung des Deutschunterrichts in den slavischen Ländern. Das Erlernen der Sprache ist heute nur zu oft mit dem Blick auf den unmittelbar zu ziehenden wirtschaftlichen Nutzen verbunden, und der scheint mit Blick auf Rußland eher gering. Die Kluft zwischen deutscher und slavischer beziehungsweise russischer Welt wird dadurch immer größer. Schon vor über einem Jahrhundert war sich einer der schärfsten Kritiker der deutschen Reichsgründung von 1871, der konservative Föderalist Constantin Frantz, bewußt, welche fatalen Folgen eine solche Entfremdung für Europa haben würde; deshalb forderte er schon damals die obligatorische Einführung einer slavischen Sprache an allen Gymnasien und Realschulen in Deutschland.

Diese auseinanderstrebende Entwicklung — sollte sie anhalten — wird die geistig-mentale und kulturelle Spaltung des Kontinents vertiefen. Der Riß würde weitreichende Auswirkungen haben. Denn für Europa würde das eine Amputation der eigenen kulturell-geistigen Zukunftsmöglichkeiten bedeuten. Die materielle Not Rußlands ist nämlich nur ein Aspekt der Krise, hinter der sich eine tiefere Dimension verbirgt. Es wurde bereits betont: Sprachenlernen führt zu Begegnung, nicht nur mit den Menschen, die diese Sprache als die ihre verwenden, sondern auch mit den spirituellen Kräften, die sich durch eine Sprache hindurch manifestieren. Dostojevskij nannte einmal den »russischen Menschen« einen vse-celovek, einen All-Menschen, einen potentiellen Repräsentanten der gesamten Menschheit, in ihren Freuden, insbesondere jedoch in ihren mit dem Erdenziel verbundenen Leiden. In diesem Sinn ist die »russische Sprache« vielleicht so etwas wie ein vse-jazyk, eine All- oder Menschheitsprache. Nicht als Medium einer weltumfassenden Kommunikation wie das Englische (obwohl auch Russisch mit rund 250 Millionen Sprechern — Mutter- und Zweitsprachlern — einen ganzen Kontinent umfasst), sondern als Ausdrucksmedium einer künftigen weltumfassenden kulturellen Regeneration und Respiritualisierung. Denn so seltsam es in unserer nüchternen Welt von heute klingen mag: In den Lauten und Formen des Russischen (wie auch in anderen slavischen Sprachen) schwingen kosmische Geheimnisse und Wirksamkeiten, in die in den alten Zeiten der iranisch-persischen Hochkultur als erster der Menschheitslehrer Zarathustra seine Schüler unterwiesen hatte. Im Wesen der russischen Sprache selbst ruht eine spirituelle Potenz, wie sie früher in anderer Form in sakralen Sprachen wie Sanskrit oder dem Avesta gegenwärtig war. Diese Potenz ruht, um von Menschen allmählich verstanden und bewußt ergriffen zu werden. In diesem Sinn wartet auf die russische Sprache eine große, weit über den eigentlichen Volkszusammenhang hinausgehende Zukunft, die uns alle betrifft.

Last Update: 22 Aug 2000

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