Völkische »Nibelungei«

 

Das Wiederaufleben der »Nibelungenströmung«
in der deutschen Kultur des 19. Jahrhunderts



© 2002 Markus Osterrieder / CeltoSlavica
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Letztes Update: 20. Februar 2003
Gekürzte Druckversion erschienen in: Erziehungskunst, Jhg. 66, Nr. 1 (2002), S. 3-10


Als 1807 das Nibelungenlied nach mehreren Jahrhunderten des Vergessens in der neuhochdeutschen Übersetzung F.H. von der Hagens einem breiteren Lesepublikum im deutschen Kulturraum bekannt wurde, traf es den Nerv der vaterländischen Gefühle, die nach der preußischen Niederlage 1806 gegen Napoleon nach einem ›nationalen‹ Epos verlangten, das die ›deutschen Tugenden‹ widerzuspiegeln vermochte. Doch ebenso stark erklangen Stimmen, die aus einer gewissen inneren Distanz heraus feststellten, daß die im Nibelungenlied zum Ausdruck gebrachte Seelenhaltung einer Epoche entstammte, in der man sich als ›moderner‹ Deutscher kaum wiederzufinden vermochte. So vermerkte Hegel 1818/20 in seiner Ästhetik: »In dem Nibelungenlied z.B. sind wir zwar geographisch auf einheimischem Boden, aber die Burgunder und König Etzel sind so sehr von allen Verhältnissen unserer gegenwärtigen Bildung und deren vaterländischen Interessen abgeschnitten, daß wir selbst ohne Gelehrsamkeit in den Gedichten Homers uns weit heimatlicher empfinden können.«[1] In der heutigen Geschichtsforschung wird der Frage nach der Entwicklung und dem Wandel menschlicher Bewußtseinszustände weiterhin viel zu wenig Beachtung geschenkt, wenn man sie nicht überhaupt ignoriert. Doch für ein tieferes Verständnis der Bewußtseinskatastrophe, die sich im deutschen Kulturraum in dem Jahrhundert von 1845 bis 1945 vollzog, ist dieser Wandel mit einzubeziehen.

In den vorchristlichen Kulturen des nördlichen Europa etwa konnten die Gemeinschaftsbildungen unterschiedliche Formen des Zusammenlebens annehmen (Blutsverwandschaft; künstliche Verwandschaft, Wahlbrüderschaft und Adoption; territoriale Gemeinschaft; Wirtschaftsgemeinschaft), doch bestand ihr wesentliches Merkmal in dem Einheitsbewußtsein des Geschlechts, Sippenverbandes oder Stammes, der aus diesem Bewußtsein heraus auch als Kollektiv auftrat und handelte. Das Ergreifen eines Ich-Gefühls oder Ich-Erlebens konnte in vorchristlicher Zeit zunächst nur von auserwählten Angehörigen des aristokratischen Herrscherstandes vollzogen werden, die von den Priestern durch Erziehung und Einweihung darauf vorbereitet wurden. In der Person des Königs lebte damals das ›Ich‹ des Stammes. Erst in nachchristlicher Zeit löste sich unter der breiten Bevölkerung die Ich-Empfindung der Einzelperson allmählich aus dem Zusammengehörigkeitserleben des Stammesverbandes. ›Blutsbande‹ und Blutsverwandschaft spielten beim Ergreifen eines Ich-Gefühls unter Angehörigen des Herrscherstandes eine herausragende Rolle. Doch muß man bedenken, daß im damaligen, von mythisch-magischen Bildern geprägten Bewußtsein nicht die materielle, ›genetische‹ Eigenschaft des Blutes ausschlaggebend war, sondern seine Funktion als Träger von übermenschlichen Kräften, die von den Göttern verliehen wurden, wie überhaupt die gesamte Lebenswelt als Spiegel übersinnlicher Wesenheiten und ihrer Taten verstanden wurde. Wenn man diese Bewußtseinshaltung heute als ›irrational‹ abkanzelt und übergeht, urteilt man ahistorisch, und man wird dem Wirklichkeitsverständnis älterer Kulturen nicht gerecht.

Das um 1200 verfaßte Nibelungenlied ist in einer Zeit entstanden, in der sich die europäische Menschheit unter dem Einfluß des Christentums, aber auch durch die zivilisatorische Umgestaltung des Kontinents (Aufblühen der Stadtkultur), über diese ältere Bewußtseinshaltung hinauszuentwickeln bemühte. In diesem Sinn ist das Nibelungenlied wie ein großer künstlerischer Abschluß einer sehr viel älteren Epoche, in der Blutsloyalität, in einem strengen Verhaltenskodex fixierte Blutrache und Schicksalsglaube das Denken, die Gefühle und das Handeln gerade der Menschen germanischer Abstammung prägten.[2] Für die aufkommende bürgerliche Welt, die auf der Initiative des Einzelmenschen und seiner durch den individuellen Verstand geleiteten Tatkraft gründete, stellte das Festhalten an derartigen, von der Bewußtseinsentwicklung überwundenen Werten einen gefährlichen Anachronismus dar, ein Sich-Herausgliedern aus dem Entwicklungsstrom.

Es ist eines der größten Rätsel der Geschichte des deutschen Kulturraums, warum diese längst überlebten Bewußtseinsformen seit dem Mittelalter nicht zur Gänze überwunden werden konnten, sondern im Gegenteil nach dem Trägheitsprinzip als seelische Ablagerung auskristallisierten, obwohl sich auf der anderen Seite ein Kultur- und Geistesleben entfaltete, das auf der Höhe der europäischen Entwicklung stand und in der Goethe-Zeit kulminierte. Man mag politische und soziale Gründe als Erklärung vorbringen oder auf die vermeintliche ›Irrationalität‹ mancher deutschen Denker verweisen, doch die eigentlichen Ursachen liegen nach Ansicht des Verfassers wesentlich tiefer.

Als in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die materialistisch geprägte Weltanschauung und das Industriezeitalter Einzug hielten, begannen in ganz Europa jene seelischen Kräfte zu versiegen, die zur Ausbildung der Volkskulturen mit ihrem reichen Lied-, Märchen- und Sagenschatz beitrugen. Der Verlust seelischer Ausdrucksmöglichkeiten und die tiefe Unsicherheit bezüglich der eigenen kulturellen und ethnischen Identität mündeten gerade im mittleren Europa in dem als innere Reifung zu verstehenden Erkenntnisfrage, wie sich individuelle Persönlichkeit und kulturell bzw. sprachlich bestimmte Gemeinschaft zueinander verhielten. In dem Streben nach Individualität und menschheitlichem Weltbürgertum lag für viele der deutschen Idealisten der tiefere Sinn der deutschen ›Nationswerdung‹. Bedingung hierfür sei die Pflege und Entwicklung des individuellen Ich, des eigentlichen Wesenskerns des Menschen. Dieser humanitäre Individualismus konnte jedoch nicht als selbstverständliches, im ›Volk‹ verankertes Naturprodukt verstanden werden, sondern als etwas, was durch die Bewußtseinsanstrengung der Menschen in ihrem ›Streben nach Individualität‹ erst erschaffen werden mußte.[3] Diese Problematik zeichnete sich generell als eine zentrale Erkenntnisfrage für das Völkerleben im mittleren Europa spätestens in der Mitte des 19. Jahrhundert ab, als die materialistische Weltanschauung die gesamte Vorstellungswelt zu durchdringen begann. Die Gestaltung des europäischen Völkerlebens hätte dementsprechend seit diesem Zeitpunkt aus geistigem Erkennen heraus erfolgen müssen, ansonsten drohte das Versinken aus den seelischen Volkskräften in die überlebten physischen Blutinstinkte der Stammes- und Sippenbande, die sich als sozialer Sprengstoff auslebten.

Zugleich war jedoch das Seelengefüge wenn nicht aller, so doch allzuvieler Vertreter der alten Aristokratie der Territorialfürsten in Gedanken-, Empfindungs- und Vorstellungsformen verhaftet, die seit dem frühen Mittelalter keine wesentliche Wandlung erfahren hatten und oftmals von den inneren Qualitäten des Christentums so gut wie unberührt geblieben waren. Diese spätgeborenen ›Quasi-Nibelungen‹ mumifizierten ihr Seelenleben und betrachteten die sich wandelnden geistigen, politischen und sozialen Anforderungen der bürgerlichen Neuzeit mit Abscheu oder Ignoranz, sperrten sich gegen soziale Reformen und der Sehnsucht nach demokratischer Mitbestimmung, – ja standen nicht zuletzt auch der Kultur insbesondere des deutschen Idealismus und des Goetheanismus ihrem inneren Wesen nach fremd, teilnahmslos, ablehnend, furchtsam oder feindlich gegenüber.[4] Sie erlebten ihre Form von ›Deutschheit‹ nicht in der bewußt strebenden Suche nach dem höheren geistigen Selbst, sondern im Dumpf-Unterbewußten der im Blut wirkenden Kräfte.

Für die deutsche Kultur hatte es jedenfalls fatale Auswirkungen, daß jene ›völkisch‹ gestimmte Seelenart, die den Kräften des Blutes, dem Stammeserleben, dem ›kriegerhaften‹ Soldatentum und der absolutistischen Staatsverherrlichung verhaftet blieb, im Laufe des 19. Jahrhunderts bei einem nicht unbeträchtlichen Teil des bürgerlichen deutschen Mittelstandes immer mehr Anklang fand: In ›altväterlich-germanischer Gefolgschaftstreue‹ dem Herrscher ›nibelungentreu bis in den Tod‹ zueigen sein, wurde schließlich zur Tugend des nationalbewußten durchschnittlichen Kleinbürgers in der wilhelminischen Gesellschaft. Die Lehren Darwins trugen das ihrige dazu bei, denn sie gab jener ›Nibelungen‹-Auffassung, die das ›höhere Wesen‹ des Menschen in seinem biologischen Vererbungsstrom zu finden glaubte, einen pseudo-wissenschaftlichen Anstrich. Nicht in der freien Entfaltung einer zugleich individuellen und allgemein-menschlichen Humanität wie die großen Goetheanisten, sondern in der ›Züchtung und Vermehrung des artreinen Blutes‹ erblickten die Repräsentanten dieser Strömung den ›nationalen Beruf‹ des ›deutschen Wesens‹. Der sich ausbreitende ›Führer- und Elitemythos‹ war auch deshalb so erfolgreich, weil er das metaphysische Vakuum auszufüllen schien[5], welches die nicht vollzogenene Bewußtseinsanstrengung bei der Bewältigung der modernen Erkenntnisfragen hinterließ. Auch die ›völkische Nibelungelei‹ im Deutschen Reich war seelisch gesehen Décadence, im Verfall befindliches Seelenleben, doch im Vergleich zu den entsprechenden Kulturphänomenen etwa in England, Frankreich oder Italien von erschreckend primitiver Qualität und Armut.

Auf diese Weise griff man nach 1871, in der Reichsgründungs- und frühwilhelminischen Zeit, verstärkt auf den Nibelungen-Mythos mitsamt seiner teils pseudo-germanischen Symbolik zurück, als kulturellen Leitfaden zur Besinnung auf vermeintlich nationale Eigenschaften. Man betonte dabei charakteristischerweise dessen ältere, vorchristliche Schichten – das im trüben Licht des Sozialdarwinismus neu funkelnde Herausfordernd-Mutwillige der heidnischen Recken, deren ewige Treue und ewige Rache zur Unterstützung und Legitimation des wilhelminischen Imperialismus und Militarismus herangezogen wurden.[6] Doch dies war weniger dem Einfluß der literarischen Werke wie dem Nibelungenlied zuzuschreiben, sondern vielmehr der nicht erfolgten Einsicht über die Notwendigkeiten zeitgemäßer seelischer und geistiger Entwicklung des Menschen. So sangen dann die Neo-Nibelungen nach 1871: »Wo Mut und Kraft in deutscher Seele flammen / fehlt nie das blanke Schwert beim Becherklang«, oder: »Für Vaterland und Ehre / erheben wir die Wehr, / für Hermanns Erb und Gut / verspritzen wir das Blut«, während der schneidige Oberleutnant »Hans von Weckrode, den linken Arm, der leicht verwundet ist, in der Binde, sonst stramm zu Pferd, eine Führergestalt, die ernsten blauen Augen geradeaus gerichtet, den Helm tief in der Stirne, als Sieger« und Pseudo-Siegfried voranzog.[7]

Aus dieser dekadenten Seelenhaltung heraus prägte Bernhard Fürst von Bülow in einer Reichstagsrede am 29. März 1909 das Schlagwort von der unverbrüchlichen »Nibelungentreue« hinsichtlich der Bündnisverpflichtung zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Und auch als sich in Mitteleuropa nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs schockartig ein weiterer weltanschaulicher Leerraum, ja ein geistiger Abgrund auftat, fand inmitten des Chaos eine Besinnung der deutschen Gesellschaft auf das geistig fortgeschrittenen Elemente der eigenen Kultur nicht statt. Stattdessen erlebte die Nibelungengesinnung ihren fatalen Durchbruch. Hitler verglich in Mein Kampf den Mord an Siegfried mit dem »Dolchstoß« in den Rücken, den das deutsche Heer erfahren habe, als 1918 »der kämpfende Siegfried dem hinterhältigen Dolchstoß erlag«.[8] Den gleichen Bezug stellte der Reichspräsident und ehemalige Chef der Obersten Heeresleitung Hindenburg 1934 in seinem ›Politischen Testament‹ her: »Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front.«[9] Und ein Bruno Tanzmann meinte schon 1919: »Erst wenn dieser Nibelungengeist [das kriegerische und sieghafte Heldentum] unverhehlt wird wieder in unserem Volk zu Tage treten, wird unsere Not ein Ende haben. Dann wird die Seele des Deutsch-Germanentums den Balmung erfassen, daß er sich von selbst schwingt und durch die Drachenfeindschaft der Welt blitzt. Der Schmach- und Mordfrieden […] wird dann sein Ende finden. Das wird dann die lebendige Auferstehung des Nibelungenliedes sein.«[10]

Bereits im Jahr 1912 dachte man in dem von dem Mühleningenieur Theodor Fritsch gegründeten ›Reichshammerbund‹ an die Schaffung einer geheimen Kommandozentrale der völkisch-nationalen Bewegungen. In diesem Zusammenhang erfolgte die Gründung des logenartig aufgebauten Geheimbundes ›Germanenorden‹. Im Jahr 1917 wurde der zwielichtige Abenteurer und Okkultist Rudolf von Sebottendorf auf der Weihnachtstagung des ›Germanenordens‹ mit der Führung der Ordensprovinz Bayern betraut. Im Frühjahr 1918 tauchte er in München auf und warb Mitglieder an, die ein »Blutsbekenntnis« ablegen mußten. Sebottendorf gab Anzeigen in verschiedenen Blättern auf, die zur Teilnahme an einer völkischen Loge aufriefen.[11] Der Kandidat wurde auf Blutreinheit untersucht und nach einer Prüfungszeit in den Freundschaftsgrad aufgenommen. Die Weihe in den ersten Grad bestand in einer Verpflichtung, dem Meister absolute Treue zu schwören. Der Deckname der Gesellschaft lautete Thule, die Weihe der als Versammlungszentrum des Ordens angemieteten Räume im Münchner Nobelhotel Vier Jahreszeiten erfolgte am 17. August 1918. Die Rückkehr des verirrten Ariers zum deutschen Halgadom wurde symbolisch dargestellt und das Thule-Emblem, mit dem die Hotelräume dekoriert wurden, zeigte einen langen Dolch auf einem strahlenden Sonnenrad in Form einer Swastika[12] – einem in der europäischen Folklore von den Slaven zu den Basken ursprünglich weit verbreiteten, glückbringendem Zeichen, das nun zum »Sonnenrad der ariogermanischen Rasse« umgedeutet wurde. Damals faßte Sebottendorf das Bekenntnis der Thule-Gesellschaft zu den vermeintlichen Nibelungenwerten in die Worte: »Wir kennen keine Internationale Brüderschaft, sondern nur völkische Belange, wir kennen nicht die Brüderschaft der Menschen, sondern nur die Blutsbrüderschaft […]. Wir hassen das Schlagwort von der Gleichheit. Der Kampf ist der Vater aller Dinge, Gleichheit ist der Tod […]. Wir sind keine Demokraten, wir lehnen Demokratie durchaus ab. Demokratie ist jüdisch, alle Revolution der Demokratie ist jüdisch […]. Wir sind Aristokraten […]. Wir pflegen keinen Humanitätsdusel […].«[13]

Am 9. November 1918 – tags zuvor hatte Kurt Eisner in München die bayerische Republik ausgerufen, in Berlin verkündete Max von Baden gegen Mittag die Abdankung des Kaisers – fand in den Räumlichkeiten des Hotels eine weitere Veranstaltung der Thule-Gesellschaft statt; Sebottendorf hielt eine flammende Rede, in der symptomatisch die Vorstellungswelt der ›Nibelungenmenschen‹ zum Ausdruck kam: »Wir erlebten gestern den Zusammenbruch alles dessen, was uns vertraut, was uns lieb und wert war. An Stelle unserer blutsverwandten Fürsten herrscht unser Todfeind: Juda. Was sich aus dem Chaos entwickeln wird, wissen wir noch nicht. Wir können es ahnen. Eine Zeit wird kommen des Kampfes, der bittersten Not, eine Zeit der Gefahr! […] Solange ich hier den eisernen Hammer halte, bin ich gewillt, die Thule in diesen Kampf einzusetzen! […] Unser Orden ist ein Germanenorden, Germanisch ist die Treue. Unser Gott ist Walvater, seine Rune ist die Aarrune. Und die Dreiheit: Wodan, Wili, We ist die Einheit der Dreiheit. […] Die Aarrune bedeutet Arier, Urfeuer, Sonne, Adler. Und der Adler ist das Symbol der Arier. Um die Fähigkeit der Selbstverbrennung des Adlers zu bezeichnen, wurde er rot ausgeführt. […] von heut’ ab ist der rote Adler unser Symbol, er soll uns mahnen, daß wir durch den Tod gehen müssen, um leben zu können.«[14]

Der Sturz in die alten Bewußtseinsformen führte konsequenterweise auch zur Ablehnung jener Werte, die mit dem Christentum Einzug gehalten hatten. Zu Beginn der zwanziger Jahre brachten ›Völkische‹ wie die sogenannten ›Deutschen Christen‹ oder die ›Deutsch-Nordische Glaubensgemeinschaft‹ eine religiöse Seelenhaltung zum Ausdruck, die der Zeit der Gotenwanderungen vor der Christianisierung durch Wulfila entsprungen zu sein scheint. Jesus wird darin wie eine Art Zwillingsbruder von Wodan aufgefaßt: »Wollen wir wieder werden wie unsere Väter – und das wollen wir! – so kann die Losung nur sein: Laßt uns trinken aus den kristallklaren Quellen. Die heißen: Wodan und Jesus.«[15] Ein Kurd Niedlich von der ›Deutschkirche‹ schilderte den »Heiland der Deutschen Jesus« gar als nordischen Stammesgott: »Jesusreligion und Germanentum verschmelzen in einem deutschen Jesus! Das Leben eines Helden – der Tod eines Herzogs – das Hohelied deutscher Treue zu sich und zur Sache – das ist das Leben Jesu!«[16]

Die nationalsozialistischen Ideologen schließlich wollten vom Christentum überhaupt nichts mehr wissen und verbanden ihren Rassenkult mit der Vorstellung, daß das Christentum an sich ›artfremd‹ und ›den Germanen aufgezwungen‹ war. Im Zeitalter der beginnenden Transatlantikflüge, der Massenkommunikation und der Kernspaltung wollten sie zwölfhundert Jahre europäischer Bewußtseinsentwicklung auslöschen und sich in eine längst versunkene Wirklichkeit zurückbegeben – mit Hilfe einer grotesken Vermischung von Weltherrschaftsvorstellungen, ›heidnischen Volksbräuchen‹ und darwinistischen Zucht- und Selektionsgedanken. Man nahm Darwin beim Wort, fabulierte vom ›Selektionsprinzip des überlegenen Blutes‹ und glaubte im germanischen Götterglauben die ›art- und blutgerechte‹ Religion wiederbeleben zu können. Es schien, als ob das ›Göttliche‹ nun wie vor 2000 Jahren in den Trieben des Blutes rauschte. Im Blut lockte die ›heidnische Liebe‹, riefen die Ahnen; Glaube aus dem Blut war »das leibselige Bekenntnis zum Urgrund aller Getriebenheiten«: »Gott fühlen im Trieb«.[17] Mathilde Ludendorff, Tochter eines Theologen und mit dem ›Obernibelungen‹ General Erich Ludendorff verheiratet, verkündete im Rahmen ihrer ›Deutschen Gotterkenntnis (L)‹, der »Jude Jesus« sei der Urheber der Trunksucht, er sei ängstlich gewesen und gar nicht am Kreuz gestorben, er entwurzele den Menschen durch seine Lehre aus Rasse, Volk und Sitte.[18] Die Ludendorffs forderten den »Einklang der Gotterkenntnis mit dem Ergebnis der Wissenschaft« und predigten deshalb die »Erlösung von Jesu Christo«. Ernst Bergmann wiederum verkündete großspurig: »Mit der Rassenhygiene, mit der Erbgesundheitslehre, mit der Heilgymnastik und Körperpflege […] ist das Ende des Christentums da. Wer seinen Körper nicht mehr haßt und verachtet, ist nicht mehr Christ. […] der bekennt sich wieder zur nordischen Licht- und Naturreligion.«[19]

So mag es nicht verwundern, daß Elisabeth Gerth in ihrer Interpretation des Nibelungenlieds eine scheinbar wissenschaftlich fundierte Basis lieferte, die sogar den Mord rechtfertigte, wenn es die Treue forderte, wobei christliche Grundwerte und verwandtschaftliche Beziehungen eher als hinderlich empfunden wurden: »So tritt uns in Hagen die ganze Wucht des naturkräftig-germanischen Kriegers gegenüber, der noch vollkommen unbeeinflußt ist von christlicher Ethik. In seinem Verhalten lernen wir kennen, was germanische Mannestreue und Freundschaft, was Heldentum und Kriegerehre bedeutet. […] [Der Germane] erachtete es als sein gutes Recht, sich zur Wehr zu setzen. […] Die Tat, die aus […] Treue heraus geboren wurde, war immer gut, selbst der Mord war geheiligt, sofern es diese sittliche Notwendigkeit verlangte.«[20] Die Ausrichtung erfolgte hier ganz auf die Gefolgschaft, die ihre kollektive Treue auf Adolf Hitler zu fokussieren hatte.

Ihren Höhepunkt fand diese ebenso anachronistische wie verderbliche Nibelungenbeschwörung in der Rede Görings vom 30. Januar 1943, wo der Kampf um Stalingrad mit dem Untergang der Burgunder am Hof des Hunnenkönigs König Etzels verglichen wurde und nochmals an die unbedingte, bis in einen apokalyptischen Untergang reichende Treue appelliert wurde: »Und aus all diesen gigantischen Kämpfen ragt nun gleich einem gewaltigen, monumentalen Bau Stalingrad, der Kampf um Stalingrad heraus. Es wird dies einmal der größte Heroenkampf gewesen sein, der sich jemals in unserer Geschichte abgespielt hat. Was dort jetzt unsere Grenadiere, Pioniere, Artilleristen, Flakartilleristen und wer sonst in dieser Stadt ist, vom General bis zum letzten Mann, wer da jetzt kämpft gegen eine gewaltige Übermacht um jeden Block, um jeden Stein, um jedes Loch, um jeden Graben, immer wieder kämpft, ermattet, erschöpft – wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das heißt ›Der Kampf der Nibelungen‹. Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut – aber kämpften und kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und jeder Deutsche noch in tausend Jahren muß mit heiligen Schauern das Wort Stalingrad aussprechen und sich erinnern, daß dort Deutschland letzten Endes doch den Stempel zum Endsieg gesetzt hat! […] Und jetzt, Kameraden, sei dies Heil nicht ein leeres Wort, sondern in diesem zehnjährigen Gedenken an den vergangenen Kampf und an den Glauben an den größeren, der uns beschieden ist, und an den größeren Sieg damit auch, geloben wir mit diesem Ruf dem Führer unsere ganze Hingabe, unsere ganze Treue, jedes Opfer bereit ihm zu geben, denn er fordert es nicht für sich, er fordert es für sein deutsches Volk. Und darum, Kameraden, unser Führer, unser geliebter Führer, Sieg (alle: Heil!), Sieg (alle: Heil!), Sieg (alle: Heil!)!«[21]

In der tiefsten Feindschaft gegen das menschliche Ich und in dem zielstrebig verfolgten Rückfall in vorchristliche Bewußtseinsformen wird man einen Grundimpuls des Nationalsozialismus erkennen. Konsequenterweise negierte und zertrat der Nationalsozialismus mit seiner radikalen Bekämpfung jeglicher Individualität das individuelle und kosmopolitische Anliegen der großen Repräsentanten des deutschen Geisteslebens, welche die Kräfte des Blutes längst überwunden hatten. Hatte nicht Novalis einmal geschrieben: »Deutschheit ist Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualität gemischt«?[22]

[1]        Zit. nach Klaus von See: Barbar – Germane – Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg 1994, S. 98.

[2]        Siehe hierzu Wilhelm Grönbach: Kultur und Religion der Germanen. Darmstadt 12. Aufl. 1997, Bd. I, S. 74-134.

[3]        Rudolf Steiner: Vortrag vom 19. Oktober 1914, in: Der Dornacher Bau als Wahrzeichen geschichtlichen Werdens und künstlerischer Umwandlungsimpulse. Dornach 2. Aufl. 1985 (= GA 287).

[4]         Hierzu der sehr wichtige Vortrag von Rudolf Steiner am 12. April 1919. In: Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen. Dornach 3. Aufl. 1980 (GA 190), S. 162-177.

[5]        Vgl. Hermann Glaser: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Taschenbuch-Neuausgabe Frankfurt/M. 1985, S. 102.

[6]        Martin Zurwehme: »… aber die Treue ist gehalten bis in den Tod«. Der Nibelungenmythos im 19. und 20. Jahrhundert. In: Geschichte lernen 52/1996. S. 34-41, hier S. 35. Vgl. auch hier und im folgenden Jan Nikolas Dicke: Das Nibelungenlied im Dritten Reich. 3. Dezember 2000.

[7]        Zit. nach Glaser: Spießer-Ideologie, 149, 160.

[8]        Adolf Hitler: Mein Kampf. Band 2: Die nationalsozialistische Bewegung. München 18. Aufl. 1933, S. 267.

[9]        Zit. nach: Zurwehme, Nibelungenmythos, S. 40.

[10]      Bruno Tanzmann: Versuch einer neuen Deutung des Nibelungenliedes. Dresden 1919 (= Blätter vom Hakenkreuz 1), S. 30.

[11]      Rudolf von Sebottendorf: Bevor Hitler kam. München 1934, S. 41.

[12]      Nicholas Goodrick Clarke: The Occult Roots of Nazism. Wellingborough 1985, S. 135-144; Reginald H. Phelps: Before Hitler Came: Thule Society and Germanenorden. In: Journal of Modern History 35 (1963), S. 245-261.

[13]      Runen, Nr. 7 vom 21. Juli 1918; zit. nach Hermann Gilbhard: Die Thule-Gesellschaft – Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz. München 1994, S. 50.

[14]      Sebottendorf: Bevor Hitler kam, S. 57-60.

[15]       Hauptpastor Bode: Wodan und Jesus. Sontra 1920; zit. nach Ekkehard Hieronimus: Zur Religiosität der völkischen Bewegung. In: Hubert Canik (Hrsg.): Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik. Düsseldorf 1982, S. 159-175, hier 162.

[16]       J. K. Niedlich: Jahve oder Jesus? Die Quelle unserer Entartung. Leipzig 1921; zit.ebenda, S. 164.

[17]       Fritz Gericke: Glaube aus dem Blut. 1934; zit. nach Hubert Canik: »Neuheiden« und totaler Staat. In: Canik (Hrsg.): Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, S. 176-212, hier 185f.

[18]       Hieronimus: Zur Religiosität der völkischen Bewegung, S. 172.

[19]       Zit. nach Léon Poliakov, Joseph Wulf (Hrsg.): Das Dritte Reich und seine Denker. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1983, S. 177.

[20]      Elisabeth Gerth: Eine Untersuchung über Rasse, Volk und Umwelt im Nibelungenlied. Frankfurt/Main 1938 (= Frankfurter Quellen und Forschungen zur germanischen und romanischen Philologie. 21).

[21]      Zit. nach Peter Krüger: Etzels Halle und Stalingrad. Die Rede Görings vom 30.1.1943. In: Joachim Heinzle, Anneliese Waldschmidt (Hrsg.): Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1991. S. 180-187.

[22]       Brief an August Wilhelm Schlegel vom 30. November 1797. In: Novalis: Schriften. Hrsg. v. Richard Samuel / H.-J. Möhl / Gerhard Schulz. Bd. IV, Stuttgart 1975, S. 237.

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