in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hrsg.v. Richard G. Plaschka / Horst Haselsteiner / Arnold Suppan / Anna M. Drabek / Brigitta Zaar Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
1995 |
Die Problematik des Begriffs "Mitteleuropa" wurde gerade dadurch
unterstrichen, daß er gerade in politischer und wirtschaftlicher
Hinsicht seit dem Ersten Weltkrieg historisch belastet war, als
Schlagwort für das Aktionsprogramm reichsdeutscher Expansion;
Henry Cord Meyer hat diesen Aspekt schon vor vierzig Jahren untersucht
(Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945. The Hague 1955). Doch diese einseitige Ausrichtung des Mitteleuropa-Begriffs
darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich seit über 150 Jahren
immer dann aufdrängt, wenn man auf die Besonderheiten religiöser,
kultureller, politischer, wirtschaftlicher und geographischer
Fragen und Entwicklungen im Raum zwischen Ostsee, Karpaten und
Adria differenziert einzugehen versucht. Die Gegebenheiten sind
nun einmal andere als die im westlichen Europa. Und das hat weniger
mit "Rückständigkeit" zu tun, als vielmehr mit europäischer Vielfalt
und Identität. Im Vorwort zu vorliegendem Band weist Richard G. Plaschka (Wien)
ausdrücklich darauf hin, wie Rückbesinnung auf "Mitteleuropa-Konzeptionen
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts" durchaus als Orientierungshilfe
für Gegenwartsprobleme dienen kann, insbesondere für Versuche
der Stabilisierung der übernationalen Zusammenarbeit in der zentralen
Zone Europas (S. XII). Horst Haselsteiner (Graz) zeigt in seiner
Skizze, wie eng das Konzept "Mitteleuropa" an das Gestaltungsprinzip
des Föderalismus gebunden war, der allerdings die Anerkenntnis
eines höheren, verbindlichen gemeinsamen Interesses und den Verzicht
auf Dominanz einer Gruppe voraussetzte. Der Sammelband enthält die Beiträge der multinationalen Tagung
zu diesem Thema, die von der Kommission für die Geschichte Österreichs
vom 19. bis 21. November 1991 in Wien veranstaltet wurde und an
der über hundert Historiker teilnahmen. Die insgesamt dreißig
Aufsätze sind im großen und ganzen von gleichmäßig hohem Niveau
(einige wenige Beiträge wie der von István Diószegi über die Reaktion
in Ungarn auf die deutschen Mitteleuropa-Pläne fielen leider etwas
arg knapp aus) und wurden in vier Themengruppen zusammengefaßt.
Die "Deutschen Mitteleuropa-Konzeptionen 1900-1918" schildert
Wolfgang Mommsen (Düsseldorf) vornehmlich aus der Perspektive
der reichsdeutschen Kriegszielpolitik, die vor allem in den Jahren
1913-15 den Osten und Südosten des Kontinents als wirtschaftlichen
"Hinterhof" der Großindustrie in die eigenen Planungen einbezog;
als geopolitisches Konzept wurde "Mitteleuropa" trotz des vielgelesenen
gleichnamigen Buchs von Friedrich Naumann (1915) gegen Ende des
Krieges von den größenwahnsinnigen Phantasmagorien im reichsdeutschen
Generalstab verdrängt. Jirí Koralka (Prag) und Andrej Mitrovic
(Belgrad) untersuchen die Haltung der tschechischen und südslavischen
Seite gegenüber der Vorstellung einer mitteleuropäischen Integration
auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Liest man bei Koralka,
auf welche Weise die reichsdeutsche Staatsführung nach 1914 Druck
auf die österreichischen Verbündeten ausübte, um insbesondere
in Prag durch die Präsenz des Militärs "klare Verhältnisse" im
Sinne des "germanischen Elements" zu schaffen (S. 30f.), so fällt
einem das Gespräch ein, das Tomás G. Masaryk bei Kriegsausbruch
mit dem österreichischen Ministerpräsidenten Ernst von Koerber
führte; darin hielt jener jede Hoffnung auf eine Reform grundlegende
Reform der Habsburgermonarchie für illusorisch: "[
] nach einem
siegreichen Kriege werden die Militärs entscheiden, und sie werden
zentralisieren und germanisieren." (Tomás G. Masaryk: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914-1918.
Berlin 1925, S. 26.) Masaryk flüchtete daraufhin in das englische
Exil, von wo aus er den "Mitteleuropa-Konzeptionen" seine Vision
eines von der westlichen Sphäre her gestalteten "Neuen Europa"
entgegensetzte. Insbesondere bei der Lektüre der Beiträge zum Themenbereich "Pläne
zur Reichsreform Österreich-Ungarns 1900-1918" wird deutlich,
warum das politische "Mitteleuropa", d.h. der Gedanke an einen
föderativen Zusammenschluß der Völker im ostmitteleuropäischen
und im Donau-Raum, in sich zusammenfiel: Auf der Seite der kaiserlichen
Staatsführung in Wien etwa wagte man nur halbherzige Reformansätze,
die in erster Linie die morschen Fundamente der überlebten Monarchie
retten sollten (hierzu vor allem die Beiträge von Peter Broucek
und Helmut Rumpler); auf der Seite der radikalen "Demokraten"
wie Tomás G. Masaryk stellte sich die Illusion ein, man könnte
erst den Nationalismus und den Unabhängigkeitswillen der Völker
Mitteleuropas anstacheln, um die Achsenmächte von innen zu zersetzen,
um alsbald nach Kriegsende eine bürgerlich-demokratische Föderation
der neuen, souveränen ostmitteleuropäischen "Nationalstaaten"
zu errichten (hierüber Péter Hanák, Budapest, in seinem Beitrag
über die Gründe des Scheiterns der Donau-Föderationspläne). Nach 1918 wurde das Konzept "Mitteleuropa" immer dann ins Spiel
gebracht, wenn man auf die Notwendigkeit einer integrierten Wirtschaftszone
im Donauraum hinweisen wollte, denn gerade die wirtschaftlichen
Gegebenheiten verdeutlichten die zerstörerische Wirkung der neuen
Grenzziehungen und Zollschranken im Donauraum. Diesen Aspekt untersuchen
u.a. die Beiträge von Herbert Matis (Wien), Peter Krüger (Marburg)
und Vlastislav Lacina (Prag). Dusan Kovác zeichnet (Bratislava)
die Pläne des slovakischen Staatsmanns Milan Hodza nach, der bereits
vor dem Krieg dem engeren Kreis von Reformern um den Thronfolger
Franz Ferdinand angehört hatte, der sich noch 1943 im Londoner
Exil für eine mitteleuropäische Föderation einsetzte, die ihrem
Geist nach noch einen letzten Hauch altösterreichischer Kontinuität
bewahrte. Viele der anderen Zwischenkriegspläne sahen die Möglichkeit
einer föderierten "mitteleuropäischen" Zone unter der tagespolitischen
Brille von Bündniskonstellationen und geopolitisch-taktischen
Planspielen. Es war wieder die reichsdeutsche Seite, diesmal unter nationalsozialistischem
Banner, die jedes produktive Konzept von "Mitteleuropa" zunichte
machte und dabei auch systematisch die geistig-kulturellen Grundlagen
zerstörte, auf denen die Vorstellung von "Mitteleuropa" einmal
beruht hatte. "Mitteleuropa" war nun endgültig zum Synonym für
"völkisch"-eugenetische "Lebensraum"-Vorstellungen und wirtschaftliche
Ausbeutung geworden, um bald zu einer quantité négligeable angesichts der viel umfassenderen Pläne der Nationalsozialisten
zu werden. Jan Kren (Prag) zitiert in seinem Beitrag, daß in der NS-Publizistik
spätestens 1942 "das Schlagwort 'Mitteleuropa'
heute der Großraumidee
Platz gemacht" hatte (S. 162.). Jörg K. Hoensch (Saarbrücken)
faßt die Ziele dieser "Großraumidee" zusammen, in dem sogenannten
"Generalplan Ost" ihren perversen Höhepunkt fanden. Der mitteleuropäische
Raum, von den Nationalsozialisten in einen geistig und materiell
verheerten Trümmerhaufen verwandelt, wurde nach 1945 Hauptschauplatz
der globalen Ost-West-Konfrontation, deren Protagonisten die beiden
neuen Weltmächte UdSSR und USA mit ihren konkurrierenden Weltanschauungen
waren. Die Versuche, noch während des Krieges einen konföderativen
Zusammenschluß etwa der Tschechoslovakei und Polens herbeizuführen
(hierüber Jaroslav Valenta, Prag, und Marian Zgórniak, Krakau),
waren angesichts der sich immer deutlicher abzeichnenden, von
Washington und Moskau bestimmten Nachkriegsordnung schon im Keim
zum Scheitern verurteilt. Durchdenkt man die Entwicklung der Konzeptionen von "Mitteleuropa",
die in diesem Band vorgestellt werden, so wird sich zumindest
ein Gefühl der Beklommenheit einstellen. Vieles erinnert an die
heutigen Diskussionen über Sinn und Unsinn, Realität und Fiktion
von "Europa". Altösterreicher wie Joseph Roth waren sich immer
bewußt, daß "Mitteleuropa" wie ein Spiegel gesamteuropäische,
ja menschheitliche Probleme reflektierte, die weiterhin ungelöst
und leider vielerorts sogar unbedacht bleiben. Vergleicht man
ferner die politischen Mitteleuropa-Konzeptionen der ersten Hälfte
dieses Jahrhunderts mit jenen des 19. Jahrhunderts, die Jacques
Droz in seinem 1960 erschienen, bis heute bedauerlicherweise unübersetzt
gebliebenen Werk LEurope Centrale. Évolution historique de lidée de Mitteleuropa darstellt hat, so stellt man konsterniert fest, wie der Ideenreichtum
und das gedankliche wie problemorientierte Niveau der Vorstellungen
im Lauf eines Jahrhunderts rapide absank. Leider bleiben in dem
besprochenen, sehr lesenswerten Tagungsband geistig-kulturelle,
kulturpolitische und geopolitische Aspekte der Mitteleuropa-Vorstellung
völlig ausgeklammert; auch diese müßten jedoch Europa zuliebe
umfassend aufgearbeitet werden. Wie der Begiff "Mitteleuropa"
auch in geographische und landeskundliche Betrachtungen mit einbezogen
wurde, zeigen z.B. die Arbeiten der Geographen J. Partsch, Eduard
Hanslik und Hugo Hassinger aus den ersten beiden Jahrzehnten des
20. Jhs. Das Thema "Mitteleuropa" bleibt heute nicht zuletzt deswegen
aktuell, weil es den Verlust an individueller geistiger und kultureller
Identität verdeutlicht, die durch CNN und Internet nicht zu ersetzen
ist; weil es die selbstverschuldete Unfähigkeit des zwischenmenschlichen
Zusammenlebens jenseits jeder ethnischen, sprachlichen und religiösen
Herkunft aufzeigt, die mit flotten Losungen wie der vom Clash of Civilizations gegenwärtig noch abgesegnet wird. "Mitteleuropa" hat viele große
Geister hervorgebracht, die heute fast vergessen sind vor allem
in ihrer Heimat; und es war das Schicksal vieler bedeutenden Mitteleuropäer
unseres Jahrhunderts, ihr Leben im Exil zu beschließen, als heimatlose
Menschen.
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