Mitteleuropa-Konzeptionen
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Hrsg.v. Richard G. Plaschka / Horst Haselsteiner / Arnold Suppan / Anna M. Drabek / Brigitta Zaar

Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1995
[Zentraleuropa-Studien, Bd. 1.] 390 S.

 

 

IN den letzten Jahren ist es um den Begriff "Mitteleuropa" wieder stiller geworden, nachdem er Mitte der 80er Jahre durch Essays von Milan Kundera, György Konrád, Karl Schlögl u.a. zum Synonym für die Emanzipationsbestrebungen jener Völker geworden war, die sich aus der Hegemonie der UdSSR und der "realsozialistischen" Ideologie zu lösen suchten. "Mitteleuropa" blieb zwar ein kultureller Bezugspunkt vieler Intellektueller von der Ostsee bis zu den Karpaten und zur Adria, aber wirtschaftlich und politisch wurde er von anderen Realitäten beiseite geschoben, die "realistischere" Perspektiven zu bieten scheinen: EU-Beitritt, NATO-Osterweiterung und "Verwestlichung" heißt heute die Losung.

Die Problematik des Begriffs "Mitteleuropa" wurde gerade dadurch unterstrichen, daß er gerade in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht seit dem Ersten Weltkrieg historisch belastet war, als Schlagwort für das Aktionsprogramm reichsdeutscher Expansion; Henry Cord Meyer hat diesen Aspekt schon vor vierzig Jahren untersucht (Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945. The Hague 1955). Doch diese einseitige Ausrichtung des Mitteleuropa-Begriffs darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich seit über 150 Jahren immer dann aufdrängt, wenn man auf die Besonderheiten religiöser, kultureller, politischer, wirtschaftlicher und geographischer Fragen und Entwicklungen im Raum zwischen Ostsee, Karpaten und Adria differenziert einzugehen versucht. Die Gegebenheiten sind nun einmal andere als die im westlichen Europa. Und das hat weniger mit "Rückständigkeit" zu tun, als vielmehr mit europäischer Vielfalt und Identität.

Im Vorwort zu vorliegendem Band weist Richard G. Plaschka (Wien) ausdrücklich darauf hin, wie Rückbesinnung auf "Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts" durchaus als Orientierungshilfe für Gegenwartsprobleme dienen kann, insbesondere für Versuche der Stabilisierung der übernationalen Zusammenarbeit in der zentralen Zone Europas (S. XII). Horst Haselsteiner (Graz) zeigt in seiner Skizze, wie eng das Konzept "Mitteleuropa" an das Gestaltungsprinzip des Föderalismus gebunden war, der allerdings die Anerkenntnis eines höheren, verbindlichen gemeinsamen Interesses und den Verzicht auf Dominanz einer Gruppe voraussetzte.

Der Sammelband enthält die Beiträge der multinationalen Tagung zu diesem Thema, die von der Kommission für die Geschichte Österreichs vom 19. bis 21. November 1991 in Wien veranstaltet wurde und an der über hundert Historiker teilnahmen. Die insgesamt dreißig Aufsätze sind im großen und ganzen von gleichmäßig hohem Niveau (einige wenige Beiträge wie der von István Diószegi über die Reaktion in Ungarn auf die deutschen Mitteleuropa-Pläne fielen leider etwas arg knapp aus) und wurden in vier Themengruppen zusammengefaßt. Die "Deutschen Mitteleuropa-Konzeptionen 1900-1918" schildert Wolfgang Mommsen (Düsseldorf) vornehmlich aus der Perspektive der reichsdeutschen Kriegszielpolitik, die vor allem in den Jahren 1913-15 den Osten und Südosten des Kontinents als wirtschaftlichen "Hinterhof" der Großindustrie in die eigenen Planungen einbezog; als geopolitisches Konzept wurde "Mitteleuropa" trotz des vielgelesenen gleichnamigen Buchs von Friedrich Naumann (1915) gegen Ende des Krieges von den größenwahnsinnigen Phantasmagorien im reichsdeutschen Generalstab verdrängt. Jirí Koralka (Prag) und Andrej Mitrovic (Belgrad) untersuchen die Haltung der tschechischen und südslavischen Seite gegenüber der Vorstellung einer mitteleuropäischen Integration auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Liest man bei Koralka, auf welche Weise die reichsdeutsche Staatsführung nach 1914 Druck auf die österreichischen Verbündeten ausübte, um insbesondere in Prag durch die Präsenz des Militärs "klare Verhältnisse" im Sinne des "germanischen Elements" zu schaffen (S. 30f.), so fällt einem das Gespräch ein, das Tomás G. Masaryk bei Kriegsausbruch mit dem österreichischen Ministerpräsidenten Ernst von Koerber führte; darin hielt jener jede Hoffnung auf eine Reform grundlegende Reform der Habsburgermonarchie für illusorisch: "[…] nach einem siegreichen Kriege werden die Militärs entscheiden, und sie werden zentralisieren und germanisieren." (Tomás G. Masaryk: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914-1918. Berlin 1925, S. 26.) Masaryk flüchtete daraufhin in das englische Exil, von wo aus er den "Mitteleuropa-Konzeptionen" seine Vision eines von der westlichen Sphäre her gestalteten "Neuen Europa" entgegensetzte.

Insbesondere bei der Lektüre der Beiträge zum Themenbereich "Pläne zur Reichsreform Österreich-Ungarns 1900-1918" wird deutlich, warum das politische "Mitteleuropa", d.h. der Gedanke an einen föderativen Zusammenschluß der Völker im ostmitteleuropäischen und im Donau-Raum, in sich zusammenfiel: Auf der Seite der kaiserlichen Staatsführung in Wien etwa wagte man nur halbherzige Reformansätze, die in erster Linie die morschen Fundamente der überlebten Monarchie retten sollten (hierzu vor allem die Beiträge von Peter Broucek und Helmut Rumpler); auf der Seite der radikalen "Demokraten" wie Tomás G. Masaryk stellte sich die Illusion ein, man könnte erst den Nationalismus und den Unabhängigkeitswillen der Völker Mitteleuropas anstacheln, um die Achsenmächte von innen zu zersetzen, um alsbald nach Kriegsende eine bürgerlich-demokratische Föderation der neuen, souveränen ostmitteleuropäischen "Nationalstaaten" zu errichten (hierüber Péter Hanák, Budapest, in seinem Beitrag über die Gründe des Scheiterns der Donau-Föderationspläne).

Nach 1918 wurde das Konzept "Mitteleuropa" immer dann ins Spiel gebracht, wenn man auf die Notwendigkeit einer integrierten Wirtschaftszone im Donauraum hinweisen wollte, denn gerade die wirtschaftlichen Gegebenheiten verdeutlichten die zerstörerische Wirkung der neuen Grenzziehungen und Zollschranken im Donauraum. Diesen Aspekt untersuchen u.a. die Beiträge von Herbert Matis (Wien), Peter Krüger (Marburg) und Vlastislav Lacina (Prag). Dusan Kovác zeichnet (Bratislava) die Pläne des slovakischen Staatsmanns Milan Hodza nach, der bereits vor dem Krieg dem engeren Kreis von Reformern um den Thronfolger Franz Ferdinand angehört hatte, der sich noch 1943 im Londoner Exil für eine mitteleuropäische Föderation einsetzte, die ihrem Geist nach noch einen letzten Hauch altösterreichischer Kontinuität bewahrte. Viele der anderen Zwischenkriegspläne sahen die Möglichkeit einer föderierten "mitteleuropäischen" Zone unter der tagespolitischen Brille von Bündniskonstellationen und geopolitisch-taktischen Planspielen.

Es war wieder die reichsdeutsche Seite, diesmal unter nationalsozialistischem Banner, die jedes produktive Konzept von "Mitteleuropa" zunichte machte und dabei auch systematisch die geistig-kulturellen Grundlagen zerstörte, auf denen die Vorstellung von "Mitteleuropa" einmal beruht hatte. "Mitteleuropa" war nun endgültig zum Synonym für "völkisch"-eugenetische "Lebensraum"-Vorstellungen und wirtschaftliche Ausbeutung geworden, um bald zu einer quantité négligeable angesichts der viel umfassenderen Pläne der Nationalsozialisten zu werden. Jan Kren (Prag) zitiert in seinem Beitrag, daß in der NS-Publizistik spätestens 1942 "das Schlagwort 'Mitteleuropa' … heute der Großraumidee Platz gemacht" hatte (S. 162.). Jörg K. Hoensch (Saarbrücken) faßt die Ziele dieser "Großraumidee" zusammen, in dem sogenannten "Generalplan Ost" ihren perversen Höhepunkt fanden. Der mitteleuropäische Raum, von den Nationalsozialisten in einen geistig und materiell verheerten Trümmerhaufen verwandelt, wurde nach 1945 Hauptschauplatz der globalen Ost-West-Konfrontation, deren Protagonisten die beiden neuen Weltmächte UdSSR und USA mit ihren konkurrierenden Weltanschauungen waren. Die Versuche, noch während des Krieges einen konföderativen Zusammenschluß etwa der Tschechoslovakei und Polens herbeizuführen (hierüber Jaroslav Valenta, Prag, und Marian Zgórniak, Krakau), waren angesichts der sich immer deutlicher abzeichnenden, von Washington und Moskau bestimmten Nachkriegsordnung schon im Keim zum Scheitern verurteilt.

Durchdenkt man die Entwicklung der Konzeptionen von "Mitteleuropa", die in diesem Band vorgestellt werden, so wird sich zumindest ein Gefühl der Beklommenheit einstellen. Vieles erinnert an die heutigen Diskussionen über Sinn und Unsinn, Realität und Fiktion von "Europa". Altösterreicher wie Joseph Roth waren sich immer bewußt, daß "Mitteleuropa" wie ein Spiegel gesamteuropäische, ja menschheitliche Probleme reflektierte, die weiterhin ungelöst und leider vielerorts sogar unbedacht bleiben. Vergleicht man ferner die politischen Mitteleuropa-Konzeptionen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit jenen des 19. Jahrhunderts, die Jacques Droz in seinem 1960 erschienen, bis heute bedauerlicherweise unübersetzt gebliebenen Werk L’Europe Centrale. Évolution historique de l’idée de Mitteleuropa darstellt hat, so stellt man konsterniert fest, wie der Ideenreichtum und das gedankliche wie problemorientierte Niveau der Vorstellungen im Lauf eines Jahrhunderts rapide absank. Leider bleiben in dem besprochenen, sehr lesenswerten Tagungsband geistig-kulturelle, kulturpolitische und geopolitische Aspekte der Mitteleuropa-Vorstellung völlig ausgeklammert; auch diese müßten jedoch — Europa zuliebe — umfassend aufgearbeitet werden. Wie der Begiff "Mitteleuropa" auch in geographische und landeskundliche Betrachtungen mit einbezogen wurde, zeigen z.B. die Arbeiten der Geographen J. Partsch, Eduard Hanslik und Hugo Hassinger aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jhs. Das Thema "Mitteleuropa" bleibt heute nicht zuletzt deswegen aktuell, weil es den Verlust an individueller geistiger und kultureller Identität verdeutlicht, die durch CNN und Internet nicht zu ersetzen ist; weil es die selbstverschuldete Unfähigkeit des zwischenmenschlichen Zusammenlebens jenseits jeder ethnischen, sprachlichen und religiösen Herkunft aufzeigt, die mit flotten Losungen wie der vom Clash of Civilizations gegenwärtig noch abgesegnet wird. "Mitteleuropa" hat viele große Geister hervorgebracht, die heute fast vergessen sind — vor allem in ihrer Heimat; und es war das Schicksal vieler bedeutenden Mitteleuropäer unseres Jahrhunderts, ihr Leben im Exil zu beschließen, als heimatlose Menschen.

 

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