Zur geographischen Gliederung

Mitteleuropas

(c) 1988 Celtoslavica
All Rights Reserved!


Europa gilt als eine Halbinsel des eurasischen Kontinents, wobei im Osten der Übergang nach Asien ohne markante natürliche Grenze erfolgt. Auffällig ist die nach Westen hin immer komplizierter werdende Küstengestaltung Europas, die dazu führt, daß sich die europäische Halbinsel wiederum in untergeordnete Halbinseln und Inseln zergliedert. Europa ist der Erdteil mit dem größten Formenreichtum auf kleinstem Raum, was zur Entstehung einer Vielfalt an Völkern und Kulturen wesentlich beigetragen hat. Mitteleuropa könnte man geographisch als einen Schwellenraum definieren, in dem die wenig durchgestaltete Kontinentalmasse der osteuropäischen Wald- und Steppenlandschaft in die prägnant ausgeformten Halbinseln Nord-, West- und Südeuropas übergeht.

Nimmt man den unteren Don, die mittlere Wolga, sowie die Flüsse Kama und Pecora als östliche Grenze Europas, so könnte man den Übergang Osteuropas in die nach räumlicher Verengung strebenden Landschaften Mitteleuropas westlich des Dnepr, auf der Höhe der wolhynisch-podolischen Platte und des baltischen Landrückens ansetzen. Eine streng definierbare Grenze wird man hier jedoch nicht ziehen können. Mitteleuropa ist in drei horizontale Stufen gegliedert, die nach Nordosten hin breiter, nach Südwesten hin schmäler werden und im Westen in der französischen und iberischen Halbinsel münden. Diese Gliederung ist so augenfällig, daß der Geograph J. Partsch 1907 schrieb: »Der Dreiklang Alpen, Mittelgebirge und Tiefland beherrscht die Symphonie des mitteleuropäischen Länderbildes. Wo einer seiner Töne ausklingt, ist Mitteleuropa zu Ende.«

Die nördlichste Zone Mitteleuropas ist das Zentraleuropäische Tiefland, das von der Mündung von Maas und Rhein über Norddeutschland und Nordpolen bis in den baltischen Raum und zu den Pripet-Sümpfen reicht, und dort in den osteuropäischen Wald- und Steppengürtel übergeht. Als zweite Zone verläuft die reich gegliederte Mittelgebirgsschwelle, die in Westeuropa im Zentralmassiv eine Fortsetzung erfährt. Sie beginnt östlich von Saône und Maas und erstreckt sich bis zu dem Hügelland Kleinpolens und Galiziens; dabei überwiegt in der nördlichen Hälfte kristallines und vulkanisches Urgestein, in der Südhälfte Juragestein.

Die zweite Zone ist nach Süden hin durch die Flüsse Rhône, Aare, Donau und March deutlich abgegrenzt. Hier liegt auch der rein geographische Mittelpunkt Europas, die Stadt Prag (Praha). Ihr Name kann von dem tschechischen Wort práh hergeleitet werden, was »Schwelle« bedeutet. Dagegen hat man den Hauptgebirgsknoten des Fichtelgebirges als das »Dach Mitteleuropas« bezeichnet, weil dort Böhmerwald, Thüringer Wald und das Erzgebirge mit dem Elstergebirge zusammenstoßen und die Flüsse dreier Stromgebiete, der Elbe, des Rheins und der Donau, kreuzförmig entspringen. In den Beckenlandschaften Böhmens und Ungarns können sich schon kontinental klimatische Einflüsse geltend machen, »sie bilden gleichsam Vorhöfe Osteuropas in dem sonst noch von den atlantischen Westwinden stark befeuchteten Mitteleuropa.«

Die dritte Zone ist die Gebirgszone der Alpen und Karpaten, die an ihren Rändern große, ausgedehnte Beckenlandschaften umschließt: die Rhônemündung, die oberitalienische Poebene mit Venetien, das pannonische Tiefland und die Walachei mit dem Donaudelta. Im Westen und Osten besteht durch die Flüsse Rhône und Dnestr eine natürliche Grenze, im Süden bilden die Gebirgsmassive der Apenninen, des Dinarischen Gebirges und des Balkans einen Abschluß, der in die Halbinselbildungen Südost- und Südeuropas überleitet. Auch auf der vertikalen Achse läßt sich eine dreigliedrige Struktur feststellen: Neben einer mittleren Zone, in der sich die deutschen Volksstämme niederließen, kam es im westlichen und östlichen Mitteleuropa zu einer komplizierten Durchdringung und Verschachtelung verschiedenster Volks- und Kultureinflüsse, die im höchsten Maße befruchtend und schöpferisch auf die gesamteuropäische Kulturentwicklung einwirkten. Der dynamische Grundzug der europäischen Kultur verdankt diesen Räumen entscheidendes.

Im westlichen Mitteleuropa bildeten sich wiederum drei große Kulturräume: ein flämisch-niederländischer, ein franko-alemannischer und ein ligurisch-provenzalischer. Der Kernraum dieser multiethnischen Kulturlandschaften lag in Burgund. Begünstigt durch die strahlenförmige Anordnung der Flußsysteme konnten hier die verschiedenen Kulturimpulse verschmelzen und sich weiterverbreiten: über das Rhône- und Saônetal nach Süden, über Seine und Marne nach Nordwesten, über die Maas nach Norden und über den Doubs und die Burgundische Pforte nach Osten.

    »Als ungeschütztes Zentralland der Nord-Süd-Achse und der sich allseits verzweigenden Wasser- und Landwege fungierte dieser Raum von jeher als Brücke zwischen den beiden europäischen Großlandschaften nördlich und südlich der Alpen und gleichzeitig zwischen West- und Mitteleuropa. (...) Als geschichtliche Konsequenz daraus wird der burgundische Raum seit seiner ersten staatlichen Organisation durch die Burgundionen stets nur als dynamische Größe faßbar, weder geographisch noch politisch in seinen Umrissen eindeutig definierbar.«

Dieser kulturelle Begegnungsraum findet im östlichen Mitteleuropa eine Entsprechung im Donaubecken, das sich aus Südmähren, dem Wiener Becken als Kernraum und Oberpannonien zusammensetzt. Dort trifft ein alter, west-östlicher Weg, der dem Lauf der Donau folgt, auf einen nord-südlichen, der früheren Bernsteinstraße, auf der man von der Weichselmündung über Mährische Pforte und March in das Wiener Becken gelangte, um von dort über das Burgenland, die Oststeiermark und Krain bei Aquileia das östliche Mittelmeer zu erreichen. Auch hier trafen drei Kulturräume aufeinander: der deutsche, der slavische und der magyarische.

Der österreichische Geograph Hugo Hassinger hat diesen Vermittlungscharakter der Landschaft des Wiener Beckens und darüber hinaus ganz Ostmitteleuropas charakterisiert als einen

    »Kampfplatz der ozeanischen und kontinentalen Kräfte in der Luft und auf der Erde, wo Pflanzen, Tiere und Menschen und deren Kulturen im Widerstreit zueinander stehen, aber auch miteinander darauf angewiesen sind, einen Ausgleich zu suchen, so daß man dieses Mitteleuropa ebenso als einen Ausgleichsraum bezeichnen könnte.«

Hassinger weist darauf hin, daß in Ostmitteleuropa diese ozeanischen Kräfte der Weltmeere -- des atlantisch-baltischen und des mediterran-pontischen -- mit den kontinentalen Kräften der eurasischen Steppenlandschaft zusammentreffen. Dies entsprach der Verzahnung und Ineinanderschiebung von verschiedenem Volkstum und verschiedenen Kulturformen, ja sogar dem Aufeinandertreffen von europäischem und asiatischem Menschheits wesen durch die Eroberungszüge der Hunnen, Avaren, Magyaren, Mongolen und Türken. Daher erforderte dieses Mischungsgebiet von West- und Ostkultur einen »besonderen politischen Baustil«, der weder aus dem Osten noch aus dem Westen Europas übertragen werden konnte.

Diesen Begegnungs- und Konfrontationscharakter findet man in besonders deutlicher Form im Wiener Becken wieder. Auf dem Marchfeld erreichen viele asiatische Pflanzen ihre westlichste Verbreitungsgrenze, was schon ihre Namen andeuten: Sibirische Glockenblume, Tatarischer Meerkohl, Pannonische Schafgarbe, sowie Tiere wie die Russische Tarantelspinne und der Steppeniltis. Bis auf das Marchfeld ragt auch der westlichste Ausläufer des fruchtbaren Schwarzerdegürtels (Cernozjom), der sich von Südsibirien über die Ukraine bis in das Pannonische Tiefland erstreckt. Im Wiener Becken trugen sich wiederholt Ereignisse von größter historischer Bedeutung zu: hier siegten die Ungarn 907 in der Schlacht von Preßburg; an der Leitha fiel 1246 der letzte Babenberger im Kampf gegen die Ungarn; dieser Fluß wurde von den Mongolen nicht überschritten; auf dem Marchfeld fand 1278 die Entscheidungsschlacht zwischen dem Premysliden Otakar II. und dem Habsburger Rudolf I. statt; in Wien wurde die schicksalshafte Doppelhochzeit des Jahres 1515 vollzogen, die den beiden Vielvölkerreichen der Habsburger und der Jagiellonen eine Grundlage schuf; vor Wien brach sich 1683 der Ansturm der Osmanen.

So durchdrangen sich die verschiedenen Landschaften, Kulturen und Völker,

    »und aus dieser eigenartigen Lagerung entstanden die beispiellosen kulturpolitischen Probleme, deren Wesen darin besteht, zwischen dieser Mannigfaltigkeit einen befriedigenden Ausgleich zu finden.« »Im klar gegliederten westlichen Europa füllen Nationalstaaten die Naturräume, hier im Osten aber überschneiden sich Staats-, Völker-, Kultur- und Wirtschaftsgrenzen nicht selten wechselseitig, und allenthalben stößt man auf das Problem der völkischen Minderheiten.«


 

| Bibliothek | CeltoSlavica Home |