Konfrontation und Geschäft

 

Das Rußland-Bild der USA 1917-1933




von Markus Osterrieder






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Letztes Update: 10. März 2005
Der erste Entwurf dieser Arbeit entstand während des Sommersemesters 1989
als Beitrag zu einem Hauptseminar (›Das Rußlandbild der zwanziger Jahre‹)
am Institut für Geschichte Ost- und Südosteuropas
der Ludwig-Maximilians-Universität München




Kapitel 1

Zwischen Revolution und Bürgerkrieg


Die Februarrevolution

Obwohl das zaristische Rußland im Ersten Weltkrieg Verbündeter der alliierten Westmächte war, hatte sich vor allem in England die Auffassung herausgebildet, daß der von den Westmächten ausgerufene ›Kreuzzug für Demokratie und Parlamentarismus‹ gegen die autokratisch regierten Mittelmächte mit der Praxis der rußländischen Regierungsform unvereinbar war. In den USA wiederum stellte die Regierungsform Rußlands ein Hindernis für die Bemühungen dar, das Land zum Kriegseintritt gegen die Mittelmächte zu gewinnen. Seit Jahrzehnten hatten sich einflußreiche Politiker, Bankiers und Industrielle jüdischer Herkunft über die Progrome und Diskriminierungen empört, denen die Juden im Zarenreich wiederholt ausgesetzt waren. So sagte beispielsweise der Bankier Max Warburg in dem Nachruf auf seinen Kollegen und Freund Jacob Schiff: »Er sah es als seine Sendung an, all seinen Einfluß in Rußland zur Geltung zu bringen, um dem Horror ein Ende zu machen, dem die dortigen Juden ausgesetzt waren.« [1] Schiff soll sich im Frühjahr 1917 öffentlich gebrüstet haben, zur Vorbereitung der Februarrevolution $2 Millionen zur Verfügung gestellt zu haben. [2]

Die Februarrevolution wurde deshalb in Washington vielfach mit Erleichterung, wenn nicht mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Der amerikanische Botschafter Francis kabelte am 18. März um Erlaubnis, die Provisorische Regierung umgehend anerkennen zu dürfen, da »diese Revolution die praktische Verwirklichung des Regierungsprinzips [darstellt], das wir verteidigt haben«. [3]

Vier Tage später waren die USA dann auch der erste Staat, der die bürgerliche Regierung des Prinzen L’vov diplomatisch anerkannte. Der engste Berater und Freund von Präsident Wilson, ›Colonel‹ Edward Mandell House, begrüßte die Ereignisse in Rußland mit den Worten: »Everyone in the liberty-loving countries of the world welcomed the overthrow of a system that exuded injustice and cruelty in its most objectionable forms.« [4] George F. Kennan meinte sogar, die Februarrevolution sei für die Amerikaner äsoviel wie die Erfüllung eines Stoßgebetes gewesen‹, da der ideologische Charakter des zaristischen Regimes zunehmendes Unbehagen verbreitet habe. [5] Als Präsident Woodrow Wilson (im Amt 1913-1921) vor dem Kongreß am 2. April 1917 Deutschland den Krieg erklärte, erwähnte er auch »the wonderful and heartening things that have been happening within the last few weeks in Russia«. Die Autokratie sei ihrem Ursprung, Charakter und Zweck nach nichts Russisches gewesen, da das russische Volk von jeher demokratisch veranlagt gewesen wäre. Rußland sei nun in den partnerschaftlichen Kreis derjenigen Nationen eingetreten, die in der Welt für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden kämpften. Es sei nun ein »fit partner« für eine künftige »league of honor« nach Kriegsende. [6] Die meisten Amerikaner dachten zu diesem Zeitpunkt, Rußland würde nach Erwerb seiner politischen Freiheit nun mit verdoppelten Kräften gegen die Mittelmächte kämpfen. Deswegen machten sie die finanzielle Unterstützung Rußlands von einer Fortsetzung des Krieges abhängig; als sich der amerikanische Gesandte Elihu Root im Juni 1917 in Petrograd aufhielt, drückte er diese, für das bürgerliche Rußland letztlich fatale Bedingung in der knappen Formulierung aus: »Kein Krieg, keine Anleihe!« [7]

Neben der offiziellen Diplomatie und Außenpolitik machte sich schon zu diesem Zeitpunkt eine von Privatmännern ausgehende und auf private Interessen zielende Wirtschaftspoltik geltend. Vor allem in New Yorker Finanzkreisen glaubte man, daß man nun verstärkt mit den Russen ins Geschäft kommen könne. Als im August 1917 eine amerikanische Rot-Kreuz-Mission in Rußland eintraf, befanden sich unter den vierundzwanzig Teilnehmern lediglich acht Mediziner, dafür aber sechzehn Finanzberater und Anwälte aus New York. Finanziert wurde das Unternehmen durch den Anwalt und Börsenagenten William B. Thompson, der als Vertreter von J.P. Morgan & Co. fungierte. [8]


Die amerikanische Reaktion auf die Oktoberrevolution

Die Lage in Rußland wurde von den Meinungsbildnern Amerikas ganz allgemein verkannt. Man unterschätzte die Kriegsmüdigkeit und die Friedenssehnsucht der Bevölkerung, insbesondere aber den wachsenden Einfluß der Bol’ševiki und die Rolle Lenins, den Botschafter Francis im April 1917 noch als »Anarchisten« eingestuft hatte. [9]

Nach der gelungenen Oktoberrevolution fürchtete man seitens der Amerikaner natürlich, die Bol’ševiki würden mit ihrer Drohung ernst machen und mit den Mittelmächten einen Separatfrieden schließen. Andererseits hoffte man, die Revolutionäre doch noch zur Fortsetzung des Krieges bewegen zu können. Die amerikanischen Politiker spalteten sich jedoch schon im Winter 1917/18 in zwei Lager: in das der ›Falken‹ um den Secretary of State (Außenminister) Robert Lansing und in das der ›Tauben‹ um den Wilson-Berater Col. Edward House. Secretary of State Lansing formulierte den Standpunkt der ›Falken‹ im Dezember 1917, als er die Befürchtung aussprach, die Bol’ševiki seien entschlossen, alle bestehenden Regierungen zu stürzen und in allen Ländern die Diktatur des Proletariats zu errichten. [10]

Währenddessen drängten Liberale wie der Berater Col. House den Präsidenten, die bolschewistische Regierung wenigstens zu tolerieren. House telegraphierte am 28. November 1917 aus Paris an Wilson, daß ihn Depeschen der amerikanischen Presse erreicht hätten, in denen es hieß, »that Russia should be treated as an enemy. It is exceedingly important that such criticisms should be suppressed.« Denn, so House: »[They would] throw Russia into the lap of Germany.« [11] Auch die linksliberale Zeitschrift New Republic des Publizisten Walter Lippmann schrieb am 17. November 1917, daß die russischen Revolutionäre niemals mit den deutschen Reaktionären einen Separatfrieden schließen würden; deshalb dürfe die US-Regierung nicht offen mit den Bol’ševiki brechen.

In Washington löste man die delikate Situation, indem man einerseits die bolschewistischen Machthaber vorerst nicht offiziell anerkennen wollte, andererseits jedoch über äinformelle Kanäle‹ bestrebt war, den Kontakt aufrecht zu erhalten. In diesem Sinne erging am 15. Februar 1918 ein Telegramm an Botschafter Francis. [12] Zu diesen ›informellen Kanälen‹ zählten der Leiter der Rot-Kreuz-Mission, Raymond Robins, der sich in den folgenden Jahren unablässig für eine diplomatische Anerkennung der Sowjetregierung durch die USA einsetzen sollte, [13] sowie der bereits erwähnte William Thompson, der schon im Dezember 1917 den englischen Premier David Lloyd George davon zu überzeugen suchte, daß man die bolschewistischen Machthaber für die alliierte Sache zu gewinnen habe, um die Revolution nach Deutschland zu tragen und einer möglichen deutschen Allianz mit den Bol’ševiki zuvorzukommen. [14] Ein weiterer inoffizieller Kontaktmann, Arthur Bullitt, meinte im Januar 1918, daß alle Beobachter in Rußland mit Ausnahme von Botschafter Francis darin übereinstimmten, daß man mit den Bol’ševiki einen modus vivendi finden müsse. Er selbst sah sogar »a very real similarity between Trotzky’s theory of how to overthrow German imperialism and that [theory] of Mr.Wilson.« [15]

Manche Liberale in den USA verglichen Lenins Politik mit der von Präsident Wilson. Tatsächlich zeigte der missionarisch veranlagte Wilson in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution einiges Verständnis für die Bol’ševiki, insbesondere was ihre Ansichten über Antiimperialismus und das Recht auf Selbstbestimmung betraf. [16] Außerdem teilte er die Meinung von Lloyd George, daß man von einer Wiederbelebung des zaristischen Rußland mehr zu befürchten habe als von den Revolutionären. [17] Die Hoffnungen der Liberalen waren in erster Linie auf Trockij gegründet. Trockijs Buch The Bolsheviks and World Peace wurde in den USA mit der Ankündigung veröffentlicht, »that Trotzky wants WORLD PEACE, not a separate peace – that the Bolsheviki are ANTI-PRUSSIAN, ANTI-HOHENZOLLERN, ANTI-HAPSBURG. Trotzky tells in his book how he would make the world save for democracy.« [18]

Militärische Intervention oder ›Recht auf Selbstbestimmung‹?

Eine vorläufige Antwort auf die Ereignisse in Rußland, vor allem auf den Waffenstillstand von Brest-Litovsk (15. Dezember 1917), gab Präsident Wilson mit der berühmten Rede vom 8. Januar 1918 vor dem Kongreß, in der er sein Programm der ›Vierzehn Punkte‹ vorstellte, mit dem er die Probleme im Nachkriegseuropa zu lösen gedachte. Wilson begann mit der Feststellung: »Whether their present leaders believe it or not, it is our heartfelt desire and hope that some way may be opened whereby we may be privileged to assist the people of Russia to attain their utmost hope of liberty and ordered peace.« [19]

Der sechste der ›Vierzehn Punkte‹ bezog sich dann auf die Verhältnisse in Rußland und forderte »the evacuation of all Russian territory and such a settlement of all questions affecting Russia as will […] [obtain] for her the independent determination of her own political development and national policy and assure her of a sincere welcome into the society of free nations under institutions of her own choosing; and, more than a welcome, assistence also of every kind that she may need and may herself desire.« Für die anderen Nationen sei die Behandlung Rußlands ‹the acid test of their good will«, – ob sie nämlich ihrem nationalen Egoismus folgen oder aber dem selbstlosen Mitgefühl für die Nöte des russischen Volkes Vorrang einräumen würden. [20] Manche Passage in den ›Vierzehn Punkten‹ erinnerte die Zeitgenossen an das öffentliche Friedensprogramm der Bol’ševiki, wie etwa die Forderungen nach dem Recht auf Selbstbestimmung, nach offener Diplomatie, und nach einem Friedensschluß ohne Reparationen. Lenin und Trockij begrüßten die ›Vierzehn Punkte‹ und sorgten dafür, daß das Manifest an der rußländischen Front hinter den deutschen Linien verteilt wurde. William Thompson, einer der entschiedensten Sympathisanten der Bol’ševiki – er hatte Ende November 1917 Lloyd George bedrängt: »Let’s make these Bolsheviks our Bolsheviks; don’t let the Germans make them their Bolsheviks« [21] – war mit Wilsons Rede vollauf zufrieden, da sie in seinen Augen neun Zehntel von dem erfüllte, was er sich von den Amerikaner erwünscht hatte. [22]

Die ›Vierzehn Punkte‹-Rede war nicht zuletzt ein Versuch des amerikanischen Präsidenten, den Friedensschluß von Brest-Litovsk doch noch zu verhindern. Als schließlich der Vertrag zwischen Bol’ševiki und Deutschen am 15. März 1918 ratifiziert wurde, geriet man in den alliierten Hauptstädten in Panik, da zu gleicher Zeit die letzte deutsche Offensive an der Westfront eingesetzt hatte. Viele Beobachter glaubten nun, Rußland sei ein Satellit der Mittelmächte geworden. Der Ruf nach einer militärischen Intervention in Rußland wurde – vor allem seitens Englands und Frankreichs – immer lauter. Doch Wilson verhielt sich abwartend. Er wollte die Intervention nur als letztes Mittel gebrauchen, und auch dann nur unter dem Gesichtspunkt einer späteren Selbstbestimmung Rußlands. Als er im Juli 1918 nachgab und kleinere Truppenverbände nach Nordrußland entsandte, ohne zuvor seine Verbündeten davon in Kenntnis zu setzen, unternahm er diesen Schritt, um den japanischen Einfluß im rußländischen Fernen Osten zu begrenzen. [23]

Auf der Pariser Friedenskonferenz im Frühjahr 1919 wurde auch über die Mittel verhandelt, die eine Ausweitung der äbolschewistischen Gefahr‹ auf Mitteleuropa verhindern sollten. Col. House schlug vor, in Ostmitteleuropa einen Cordon sanitaire von Demokratien nach westlichem Muster unter der Führung von Polen zu schaffen. Damit sollte gleichzeitig ein möglicher Kontakt zwischen Rußland und Deutschland unterbunden werden. [24] Die westlichen Politiker fürchteten die Möglichkeit einer bolschewistischen Revolution in Deutschland. Als einen gefährlichen Faktor wertete man die soziale Not und den Hunger, unter denen die Bevölkerung Mittel- und Osteuropas zu leiden hatte. Allmählich setzte sich in amerikanischen Führungskreisen die Ansicht durch, man müsse die militärische Intervention in Rußland einstellen und vielmehr wirtschaftliche Hilfe liefern, um auf diese Weise den Kommunisten den revolutionären Nährboden zu entziehen. Präsident Wilson schrieb daraufhin an Lansing: »The real thing with which to stop Bolshevism is food.« Dagegen meinte er: »By opposing Bolshevism with arms, they were in reality serving the cause of Bolshevism.« [25] Dieser letzte Satz war gegen den französischen Marschall Foch gerichtet, der zu einem militärischen ›Kreuzzug‹ gegen die Bol’ševiki aufgerufen hatte. Wilson war davon überzeugt, daß ein militärisches Eingreifen die Wurzeln des Übels nicht beseitigen könnte: ›The word bolshevism means many different things. In my view, any attempt to check a revolutionary movement by means of deployed armies is merely trying to use a broom to sweep back a high tide. […] There is but one way to wipe out bolshevism: determine the frontiers and open every door to commercial intercourse.« [26]

Zum selben Zeitpunkt (Ende März 1919) unterbreitete auch der Vorsitzende der American Relief Organization (ARA), Herbert Hoover, dessen Organisation großzügige Hungerhilfe für die notleidenden Länder Europas leistete, den Vorschlag, durch eine eigens für diesen Zweck geschaffene Kommission in Rußland unparteiisch Nahrung zu verteilen; auf diese Weise sollte indirekt die moralische Autorität des bolschewistischen Regimes untergraben werden. [27] Der Diplomat William A. White vertrat eine ähnliche Meinung: Er war für die Errichtung eines »economic cordon« um Rußland mit dem Ziel, den Bol’ševiki jede Art von Lebensmittelhilfe zu verweigern, während man – so White – über neutrale Mittler Nahrung an die Bevölkerung verteilen müsse. »Let the thing fry in its own grease so far as interior Russia is concerned. The whole trouble with Russia is Russia.« Der russische Volkscharakter stimmte ihn pessimistisch: »The blood-letting will come, no matter who wins. It is in the Russian people.« [28] Doch es gab unter den amerikanischen Politikern auch Stimmen, die sich gegen die von Wilson und Hoover befürwortete Hungerhilfe wandten, – so etwa der Senator Watson aus Georgia: »We are committed to the principle that all government rests on the consent of the governed. The Russians like this form of government. They sustained it with their blood as well as their treasure and their service. We have no right to dictate to Russia.« [29]

Wilsons Politik blieb merkwürdig schwankend zwischen Repression und Reintegration des bolschewistischen Rußland in die Reihe der ›zivilisierten Nationen‹, wodurch eine eindeutige und klare Stellungnahme der USA zu den Vorgängen in Rußland letztlich unterblieb. Die militärische Intervention der Westmächte erlaubte den Bol’ševiki zudem, als ›Verteidiger des Vaterlandes‹ vor der ›Fremdinvasion‹ aufzutreten, wobei die Erinnerung an die ›Zeit der Wirren‹ und den Napoleon-Feldzug wachgerufen wurde. Umgekehrt waren die alliierten Truppenverbände nicht stark, der politische Wille der Amerikaner nie prononziert genug, um mit militärischen Mitteln einen Umsturz des Regimes bewirken zu können.

Der amerikanische Historiker John L. Gaddis hat darauf hingewiesen, wie in den Jahren 1917-1919 sowohl in den USA unter Präsident Wilson, als auch in Sowjetrußland unter Lenin Ideologien formuliert wurden, die in diesem Jahrhundert als Leitfaden für die gegensätzlichen Weltbilder der ›freien‹ und der ›sozialistischen Welt‹ dienten. Beide Propheten – Wilson wie Lenin – ähnelten sich in ihrem missionarischen Eifer, in dem Gebrauch abstrakt-intellektueller Ideale, und beide glaubten sie an die universale Anwendbarkeit ihrer Theorien sowie an ihren langfristigen und unvermeidlichen Erfolg. [30]





Kapitel 2

»Red Scare« und NĖP


Politischer Bann und wirtschaftliche Kooperation

Das Verhältnis der USA zu Sowjetrußland gestaltete sich in den Jahren 1919-1921 sehr zwiespältig. In weiten Kreisen der Bevölkerung und unter zahlreichen Politikern breitete sich eine Art von Massenhysterie aus, die sogenannte Red Scare; sie verstärkte sich nach Kriegsende infolge von massiven Streikaktionen und einigen Bombenanschlägen, die den Kommunisten angelastet wurden. [31] Man befürchtete eine äsubversive Unterwanderung‹ der amerikanischen Institutionen durch die im März 1919 gegründete Komintern. Die Sowjetregierung nährte die schlimmsten Befürchtungen, als sie zu Neujahr 1920 einen Aufruf veröffentlichte, in dem es hieß: »Wir werden auch in Berlin und Warschau, in Paris und London Arbeiter- und Soldatenräte einsetzen, und die Macht der Sowjets wird sich dereinst über die ganze Welt erstrecken!« [32]

Unter den zahlreichen Emigranten und Exulanten, die in diesen Jahren Sowjetrußland verlassen mußten, vermutete man auch Agenten der Komintern. Viele amerikanische Politiker sahen in dieser Phase den Bolschewismus als eine ansteckende Krankheit, die sich überall dorthin ausbreiten könnte, wo Chaos und Unsicherheit herrsche. Wilson hatte schon im Herbst 1918 den Satz ausgesprochen: »The Spirit of Bolshevism is lurking everywhere.« [33] Secretary of State Lansing meinte: »Bolshevism is the most hideous and monstrous thing that the human mind has ever conceived.« [34] Und im Herbst 1919, als die Red Scare ihren Höhepunkt erreichte, sprach Wilson zur Nation: »Do you honestly think, my fellow citizens, that none of that poison has got in the veins of this free people? […] With the tongue of the wireless and the tongue of the telegraph all the suggestions of disorder are spread through the world. […] And men look you calmly in the face in America and say they are for that sort of revolution.« [35]

Alle mit den Bol’ševiki sympathisierenden Radikalen und Liberalen wurden nun mit tiefem Mißtrauen betrachtet. Im Winter 1919/20 kam es zu spektakulären Verhaftungsaktionen, die mehr als 4000 Verdächtige in 33 Städten erfaßten. [36] Diese Entwicklung nahm in verblüffender Weise bereits die Ereignisse der Jahre 1947-53 vorweg, als Senator McCarthy seine berüchtigten ›Hexenjagden‹ auf echte und vermeintliche Kommunisten und deren Sympathisanten veranstaltete. Senator Myers erhob in einer Rede vom 28. April 1920 Anklagen gegen die Bol’ševiki, die in ähnlicher Weise später auch McCarthy vorbrachte: »They have utterly destroyed marriage, the home, the fireside, the family, the corner stones of all civilization, the customs of society. They have undertaken to destroy what God created and ordained […].« [37] 1919/20 fürchtete man außerdem immer noch die Möglichkeit eines deutsch-sowjetischen Bündnisses gegen die Westmächte. Die Saturday Evening Post warnte beispielsweise vor einem vermeintlichen »Russo-German movement that is now trying to dominate America.« [38]

Die offizielle amerikanische Politik gegenüber den bolschewistischen Machthabern stützte sich weiterhin auf das Prinzip der diplomatischen Nichtanerkennung. Der Nachfolger von Lansing im State Department, Bainbridge Colby, brachte die amerikanische Haltung in einem Schreiben an den italienischen Botschafter Avezzana zum Ausdruck. Die sogenannte ›Colby-Note‹ aus dem Jahr 1920 lieferte in den folgenden dreizehn Jahren die programmatische Grundlage der amerikanischen Außenpolitik bezüglich Rußland. Colby stellte fest, daß das bestehende sowjetische Regime alle bestehenden Regeln und Strukturen der internationalen Gesetze negiere, – alle diejenigen Vorausetzungen, die für eine gute bilaterale Beziehung unverzichtbar waren. Colby weiter: »We cannot recognize, hold official relations with, or give friendly reception to the agents of a government which is determined and bound to conspire against our institutions.« [39]

 Von dieser Haltung wollten die amerikanischen Politiker bis zum Ende des Jahrzehnts nicht mehr abrücken. Secretary of State Kellog ließ 1928 verlautbaren: »It is the conviction of the Government of the United States that relations on a basis usual between friendly nations cannot be established with a governmental entity which is the agency of a group who hold it as their mission to bring about the overthrow of the existing political, economic and social order throughout the world and who regulate their conduct towards other nations accordingly.« [40] Andererseits jedoch stand das Verhalten amerikanischer Unternehmer- und Finanzkreise immer offensichtlicher im Widerspruch zur offiziellen Linie der Regierung. Geschäftssinn und jener politische Ethos, der die USA als Garanten von Freiheit und Demokratie in der Welt sah, ließen sich seit Beginn der zwanziger Jahre nur noch schwer miteinander vereinbaren.

Die Bol’ševiki hatten seit den ersten Tagen der Revolution zwischen den USA und den anderen ›kapitalistischen‹ Ländern genau unterschieden. Lenin hatte Raymond Robins im Mai 1918 ein unsigniertes Dokument überreicht, in dem er auf die katastrophale Lage der rußländischen Wirtschaft hinwies und darlegte, in welchem Maße Rußland von den westlichen Importen, insbesondere denen aus den USA, abhängig war. Entgegen den Abmachungen von Brest-Litovsk, so Lenin, die Deutschland die wirtschaftliche Meistbegünstigung zusprachen, könnten die USA weite Teile des rußländischen Marktes beherrschen, falls sie Kredite zur Verfügung stellen würden. Lenin versprach den Amerikanern Konzessionen für Kohle, Holz und Eisenbahnbau sowie für die Errichtung von Kraftwerken und Wasserstraßen. [41] Gleichzeitig hatte Lenin am 14. Mai 1918 in einer Rede vor dem Moskauer Sowjet argumentiert, man müsse die bestehenden Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten vertiefen, vor allem jene tiefen Interessenskonflikte, die zwischen Großbritannien und Deutschland einerseits, Japan und den USA andererseits vorherrschten. [42]

Auf der Pariser Friedensverhandlung stellte die sowjetische Regierung erneut wirtschaftliche Gewinne für den Fall einer Beendigung der militärischen Intervention des Westens in Aussicht. Wilson wollte auf diese Angebote nicht eingehen, so wie er auch schon Raymond Robins ignoriert hatte. Als ihn Lloyd George in Paris besorgt fragte, ob man denn den Deutschen den gesamten Handel mit Rußland überlassen wolle, antwortete Wilson, daß seiner Ansicht nach keine gesetzlichen Schranken den Handel mit Rußland behindern sollten, jeder Unternehmer jedoch auf sich allein gestellt sein müsse. [43]

In der amerikanischen Geschäftswelt liebäugelte man schon lange mit dem riesigen potentiellen Absatzmarkt und den Rohstoffen Rußlands. So hatte am 17. Oktober 1918 der Vorsitzende der Ingersoll-Rand-Company und Deputy Chairman der Federal Reserve Bank, William Saunders, in einem Brief an Präsident Wilson die überraschende Auffassung vertreten: »I am in sympathy with the Soviet form of government as that best suited for the Russian people.« [44]

J.P. Morgan & Co., das damals mächtigste private amerikanische Finanzunternehmen, hatte schon vor dem Krieg in Rußland zu investieren begonnen und unterhielt für diese Zwecke eine auf Transaktionen mit Rußland spezialisierte Tochtergesellschaft, Guaranty Trust Co. Seit Mitte 1920 wurde Guaranty Finanzvertreter der Sowjets in den USA. Der Trust sorgte aufgrund des offiziellen Einfuhrverbots rußländischer Goldlieferungen dafür, daß Gold aus der zaristischen Goldreserve in Schweden umgeschmolzen und mit einem anderen Münzstempel versehen in die USA überführt wurde. Das State Department wußte von diesen Transaktionen und bat die Beteiligten um die nötige Diskretion, denn es fürchtete »direct governemental responsability and increased embarrassment«. [45]

Welche Gesichtspunkte in amerikanischen Wirtschaftskreisen damals möglicherweise auch in Betracht gezogen wurden, geht aus folgendem Dialog zwischen Albert R. Williams – einem Mitglied des ›Büros für internationale revolutionäre Propaganda‹, dessen Leiter des Büros Karl Radek war – und dem Vorsitzenden des Senatsausschusses hervor, der 1919 zur Untersuchung bolschewistischer Propaganda zusammengetreten war:

»Mr. Williams: ›[…] it is probably true that under the Soviet government industrial life will perhaps be much slower in development than under the usual capitalistic system. But why should a great industrial country like America desire the creation and consequent competition of another great industrial rival? Are not the interests of America in this regard in line with the slow tempo of development which Soviet Russia projects for herself?’‹ […]
Senator Wolcott: ›You say: Why should America desire Russia to become an industrial competitor with her?‹
Mr. Williams: ›[…] The whole interest of America is not, I think, to have another great industrial rival, like Germany, England, France, and Italy thrown on the market in competition. I think another government over there besides the Soviet government would perhaps increase the tempo or rate of development of Russia, and we would have another rival. Of course, this is arguing from a capitalistic standpoint.‹
Senator Wolcott: ›[…] if we recognize the Soviet government of Russia as it is constituted we will be recognizing a government that cannot compete with us in industry for a great many years?‹
Mr. Williams: ›That is a fact.‹
Senator Wolcott: ›That is an argument that under the Soviet government Russia is in no position, for a great many years at least, to approach America industrially?‹
Mr. Williams: ›Absolutely.‹« [46]

Die ›Colby-Note‹ hatte das Problem der Handelsbeziehungen ausgeklammert. Damit bestand für die amerikanischen Unternehmer trotz der offiziellen Politik der Nichtanerkennung, die sie selbst mehrheitlich billigten, weiterhin die Möglichkeit, auf private Initiative hin Handel zu betreiben. [47] Schon auf dem Allied War Trade Board war man 1918 zu der Auffassung gelangt, daß eine Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen im bol-schewistischen Rußland zu einer gemäßigten und stabilen Ordnung bzw. Regierungsform führen müsse. Eine Politik der wirtschaftlichen Isolation und Blockade hingegen würde die Herrschaft der Bol’ševiki nur künstlich verlängern. [48] In den Augen der amerikanischen Unternehmer hatten sich die Bol’ševiki durch den Zusammenbruch ihrer Wirtschaft selbst diskreditiert; deshalb müsse der Kommunismus zwangsläufig früher oder später einer demokratischeren und ›kapitalistischeren‹ Staatsform weichen. Dann könne man den riesigen potentiellen Absatzmarkt und die Rohstoffschätze Rußlands nutzen. [49]

So wie man im Phänomen der Red Scare schon Anklänge an die McCarthy-Zeit erkennen kann, so ähnelt das Wirtschaftskonzept in den Jahren 1919/20, mit dem man das gefährdete Europa einer ›Brot-und-Butter-Kur‹ unterziehen wollte, dem ›Marshall-Plan‹. Beide Male wollte man Europa wirtschaftlich stärken, um damit einem weiteren Vordringen des Kommunismus zu entgegnen. [50] In der Zeitschrift The Review of Reviews wurde diese Ansicht im Februar 1920 folgendermaßen formuliert: »With outside pressure removed, and with opportunities restored for selling Russian wheat, flax, and other products, and buying manufactured goods, Russia may become a sane country within a few years.« [51]

Lenin hatte im November 1919 verkündet, daß er Wirtschaftsbeziehungen mit den USA ganz besonders begrüßen würde. Im Februar 1920 meinte er: »Wir brauchen amerikanische Industriegüter – Lokomotiven, Autos etc. – mehr als die irgendeines anderen Landes.« [52] Er schätzte die amerikanische Qualität und sah in der Industrialisierung der USA ein Vorbild für Rußland. Eine ähnlich ambivalente Faszination für die technische Überlegenheit der USA ließen später auch Stalin und Chruščev erkennen.

Natürlich war Lenin immer noch der Meinung, man müsse die Kapitalisten mit ihren eigenen Waffen schlagen und sie durch gezielte Maßnahmen gegeneinander aufhetzen. »Amerika ist stark, alle sind sie Amerika gegenüber verschuldet, alle hängen sie von Amerika ab, alle hassen sie Amerika immer mehr […]. Alles deutet darauf hin, daß Amerika mit anderen Ländern nicht zurecht kommt […], weil es reicher ist als die anderen. Daher werden wir alle Konzessionsfragen aus diesem Blickwinkel betrachten.« [53] 1920/21 erhielten der Ingenieur Washington Vanderlip und der Unternehmer Armand Hammer als erste Amerikaner Konzessionen für Industrieanlagen in Sowjetrußland. Lenin sagte zu Hammer: »Rußland befindet sich heute wie damals Ihr Land in den Pioniertagen. Wir brauchen die Kenntnis und das Vermögen, die Amerika zu dem gemacht haben, was es heute ist.« [54]

Als dann Lenin am 17. März 1921 den Beginn der NĖP verkündete, rief dies in den USA eine Welle der Erleichterung hervor. Der allgemeine Tenor lautete, nun sei Rußland durch die Kraft der Naturgesetze in kapitalistisches Fahrwasser gekommen. Der Kommunismus habe vor dem Kapitalismus kapituliert, und nun könne gezieltes amerikanisches Investment fabelhafte Profite einbringen. In der Zeitschrift The World’s Work meinte man, daß Lenin für einen Fanatiker erstaunlich aufgeschlossen sei und deshalb die Notwendigkeit einsehen werde, nach kapitalistischen Methoden zu produzieren. [55] Allerdings fanden sich in den USA auch noch während der NĖP Skeptiker, die der ›Wandlung‹ der Bol’ševiki kein Vertrauen schenkten.

Im Sommer 1923 bereiste eine Gruppe von amerikanischen Kongreßabgeordneten Rußland. Die eher ›progressiv‹ eingestellten Abgeordneten glaubten soziale Ordnung und Harmonie sowie konstruktive Aufbaupolitik wahrzunehmen, während z.B. dem konservativen Republikaner Britten vor allem der staatlich organisierte Terror auffiel. Es häuften sich in der amerikanischen Öffentlichkeit die Stimmen, die sich unter dem Eindruck der NĖP für ein stärkeres wirtschaftliches Engagement der USA aussprachen. Der demokratische Senator von Utah, W. King, hatte noch 1919 die Meinung vertreten: »Any man who supports bolshevism is an enemy of civilization.« Nach seiner Rückkehr aus Rußland 1923 setzte er sich wie seine Kollegen für die verstärkte Aufnahme von Handelsbeziehungen und sogar für die diplomatische Anerkennung der Sowjetregierung ein. [56] Das bedeutende Wirtschaftsorgan Commercial and Financial Chronicle, das noch 1920 von der »unvergleichlichen Tyrannei des Bolschewismus« gesprochen hatte, erklärte nun: »The Bolsheviki government already recognizes its great financial and industrial mistakes, and is trying to correct them.« Eine andere Zeitschrift, Railway Age, rief die Unternehmer auf »to take the plunge«, um in die sowjetische Zukunft zu investieren, denn Rußland sei nun ‹a country to be worked as a colony.« [57] American Machinist schrieb im Januar 1922, man müßte die wirtschaftlichen Möglichkeiten in der UdSSR sofort ausschöpfen, da sonst andere Nationen zugreifen würden. [58]

Tatsächlich hatte die britische Regierung unter David Lloyd George gleichfalls ihren ursprünglich ›harten‹ Kurs gegenüber den Sowjets aufgegeben; die im Frühjahr 1920 aufgenommenen Wirtschaftsverhandlungen führten am 16. März 1921 zur Unterzeichnung eines englisch-rußländischen Handelsvertrages. Dies bedeutete eine de facto-Anerkennung Sowjetrußlands seitens der britischen Regierung. [59] Ähnliche Abkommen unterzeichneten die Bol’ševiki 1921 mit Norwegen, Österreich, Italien und vor allem, am 6. Mai 1921, mit Deutschland. Ein knappes Jahr später, am 16. April 1922, erfolgte die Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Abkommens von Rapallo. Seitdem stieg die Weimarer Republik in großem Stil in das ›Rußland-Geschäft‹ ein.

Die Furcht der amerikanischen Unternehmer, von dem vielversprechenden rußländischen Markt ausgeschlossen zu werden und damit langfristig auch die westeuropäischen Märkte zu verlieren, war also durchaus begründet. Die ›Maschinen- und Technisierungshörigkeit‹ der Bol’ševiki, die u.a. in der russischen Avantgarde und in der von Lenin geprägten Formel »Bolschewismus = Elektrifizierung & Sowjetmacht« ihren Niederschlag fand, war gewissermaßen die ideale Weltanschauung für unternehmenstüchtige Geschäftsmänner auf der Suche nach expandierenden Märkten und profitbringenden Investitionen. Mittels einer verstärkten Abhängigkeit Rußlands auf wirtschaftlichem Gebiet glaubte man sogar, einen Zugriff auf die politische Entwicklung des Landes erlangen zu können.


Herbert Hoover und die amerikanische Hungerhilfe

Als der Republikaner Warren Harding 1921 zum Präsidenten gewählt wurde, übernahm er bezüglich der Rußland-Politik die Linie seines demokratischen Vorgängers Wilson: Bannung Sowjetrußlands auf diplomatischer Ebene, aber keine unüberwindbaren Barrieren für die Handelsinitiativen amerikanischer Unternehmer. So spielten die USA nolens volens eine außerordentlich wichtige Rolle im wirtschaftlichen Aufbau der Sowjetmacht in den zwanziger Jahren. [60]

Die Sowjets erhofften sich von den neuen republikanischen Adminstrationen unter Harding und Calvin Coolidge (der 1923 die Nachfolge des verstobenen Harding antrat) einen deutlicher ausgeprägten ›kapitalistischen‹ Geschäftssinn, der in der Politik Niederschlag finden und zur Aufhebung der Einschränkungen führen würde. Doch die Republikaner weigerten sich, den Sowjets entgegenzukommen. Secretary of State Charles Hughes sagte, es werde keine Anerkennung geben, bevor die sowjetische Regierung nicht »the safety of life, the recognition by firm guarantees of private property, the sanctity of contract, and the rights of free labor« garantiere. [61]

Als jedoch 1921 eine große Hungersnot in Rußland ausgebrochen war und Maksim Gor’kij im Juli 1921 im Namen der bolschewistischen Regierung die Weltöffentlichkeit um Hilfe bat, kam die schnellste Unterstützung vom Handelsminister des Harding-Kabinetts, Herbert Hoover, der auch Vorsitzender der American Relief Administration (ARA) war und schon in den ersten Nachkriegsjahren in Europa Hungerhilfe geleistet hatte. Hoover galt als ein ausgesprochener Gegner der Kommunisten und hatte im Bürgerkrieg die Monarchisten unterstützt. Auf der Pariser Friedenskonferenz hatte er vorgeschlagen, Nahrung als politische Waffe einzusetzen. Die Bol’ševiki mißtrauten ihm deshalb; sie glaubten zudem, die ARA wolle nur die amerikanischen Getreideüberschüsse absetzen. Doch schließlich unterzeichneten am 21. August 1921 der sowjetische Regierungsvertreter Litvinov und ein Vertreter der ARA ein Abkommen, das es ermöglichte, über 550.000 Tonnen Nahrung, Kleidung und Arzeneien in den von der Hungersnot betroffenen Gebieten zu verteilen. Der Wert dieser Güter, für die in erster Linie die amerikanische Regierung und Hilfsorganisationen über Spenden aufkamen, betrug ungefähr $50 Millionen. [62] Etwa zehn Millionen Menschen konnte durch die ARA geholfen werden. Die Sowjetregierung übersandte Hoover ein förmliches Dankschreiben.

Hoover selbst hoffte, daß das Hilfsprogramm zum Sturz des Regimes beitragen werde, – entweder indem es die Wirtschaftspolitik der NĖP in eine andere Richtung lenkte, oder indem es der russischen Bevölkerung einen bleibenden Eindruck vom guten Willen der USA hinterlassen und damit die Möglichkeit für eine amerikanische Führungsrolle beim Aufbau der sowjetischen Wirtschaft schaffen werde. An Secretary of State Hughes schrieb Hoover im Dezember 1921: »The relief measures will build a situation which, combined with other factors, will enable the Americans to undertake the leadership in the reconstruction of Russia when the proper moment arrives.« [63]

Hoover lehnte gleichzeitig eine mögliche wirtschaftliche Kooperation mit Deutschland entschieden ab: »The hope of our commerce lies in the establishment of American firms abroad, distributing American goods under American direction; in the building of direct American financing and, above all, in the installation of American technology in Russian industries. We must, of necessity in the future, finance our own raw materials into Russia and if our manufactured goods are distributed through German hands it simply means that when Germany has established trade of sufficient distribution to warrant her own manifacture, we shall lose the market.« [64]

Nach der Beendigung der Hungerhilfe meinte der Leiter der Organisation, Col. Haskell, in einem Bericht an Hoover am 28.August 1923: »To the mind of the Russian common people, the ARA was a miracle of God which came to them in their darkest hour, under the Stars and Stripes. It turned the corner for civilization in Russia.« Der Kommunismus sei nun »dead and abandoned«, die Überlegenheit des amerikanischen Systems bewiesen. [65] Herbert Hoover mußte später allerdings zugeben, daß sein Hilfsprogramm das sowjetische System eher gestärkt denn geschwächt hatte. [66]

Der Bolschewismus wurde also von den Amerikanern als unmittelbare Herausforderung an die Lebensweise des American way of life bewertet, als konkurrierendes System im weltpolitischen Ringen, aus dem durch eine Art von ›natürlicher Selektion‹, the survival of the fittest, das leistungsfähigere als Sieger hervorgehen müsse. Das Selbstbewußtsein der Amerikaner speiste sich dabei hauptsächlich aus ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit.




Kapitel 3

Fünf-Jahres-Plan und diplomatische Anerkennung (1927-1933)


Die Reaktion der USA auf den sowjetischen Fünf-Jahres-Plan

Lenins Tod auf dem Höhepunkt der NĖP im Januar 1924 rief in der amerikanischen Presse sarkastische Kommentare hervor. Die New York Post schrieb: »Nikolai (sic!) Lenin will be remembered as Attila, Alaric and Tamerline are remembered.« Die New York Times meinte: ‹Lenin lived to see his theories fail.« [67] Den nachfolgenden Machtkampf zwischen Stalin und Trockij verfolgten die Amerikaner ohne größeres Interesse; für sie war Stalin im Vergleich zu dem Ideologen Trockij ein gemäßigter Pragmatist. Denn Stalin hatte vom ›Aufbau des Sozialismus in einem Land‹ gesprochen und schien sich vom Ziel der Weltrevolution distanziert zu haben.

Als die sowjetische Regierung unter Stalin auf dem XV. Parteitag im Dezember 1927 im Rahmen des ersten Fünf-Jahres-Planes die Kollektivierungs- und Industrialisierungskampagne einleitete und sich zugleich im Westen eine schwere Wirtschaftskrise abzuzeichnen begann, erfuhr das amerikanische Rußlandbild einen grundlegenden Wandel. Die zunehmende Verelendung der amerikanischen Landwirte in der Dust-Bowl-Region hatte zur Folge, daß das Konzept der Planwirtschaft als Grundlage der sowjetischen Agrarreform auch in den USA zum Diskussionsthema wurde. Beobachter hoben hervor, daß der UdSSR unter dem Fünf-Jahres-Plan nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stünden, die das Plansoll erfüllen könnten, währenddessen es in den USA keinerlei Plan gebe, dafür aber Millionen von Arbeitslosen. [68] Der Ruf nach einer durch staatliche Initiative gelenkten ›Planwirtschaft‹ wurde immer lauter. In der einflußreichen Zeitschrift Business Week hieß es im Juni 1931: »To plan or not to plan is no longer the question. The real question is, who is to do it.« [69] Der Vizepräsident der American Federation of Labor meinte pathetisch: »We need […] to meet the cold-blooded communist five-year-plan with a warm-blooded ten-year-plan of democratic idealism woven into the very pattern of our national fabric.« [70] Diese Stimmung führte in den USA schließlich zu dem erdrutschartigen Sieg von Franklin D. Roosevelt bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst 1932, nicht zuletzt weil der Demokrat Roosevelt der amerikanischen Öffentlichkeit einen ausgearbeiteten ›Plan‹ in Form des New Deal vorlegen konnte. [71]

Man darf allerdings nicht übersehen, daß der Erfolg des sowjetischen Fünf-Jahres-Planes wesentlich von der westlichen Wirtschaftshilfe abhing. Seit Mitte der zwanziger Jahre teilten Amerikaner und Deutsche den sowjetischen Markt praktisch unter sich auf. Bis zu tausend amerikanische Ingenieure arbeiteten unter sowjetischen Arbeitsverträgen, Tausende von Fachkräften kamen im Gefolge der amerikanischen Unternehmen, die sich in der Sowjetunion niederließen. Beispielsweise baute die Albert Kahn-Company an die 600 Kraftwerke. [72]

Henry Ford schuf im Alleingang die sowjetische Kraftfahrzeugindustrie; 38% der Traktorenproduktion von Ford wurden in die UdSSR exportiert. 1930 und 1931 waren die Sowjets die größten Auslandsabnehmer für amerikanische Landwirtschafts- und Industrieausrüstung. [73] Die durch die große Depression der Jahre 1929/30 verursachten Absatzschwierigkeiten auf dem Weltmarkt bewirkten, daß der sowjetische Markt für viele amerikanische Unternehmen geradezu zu einer Überlebensnotwendigkeit wurde. Die Importbilanz der UdSSR belegt diese Tatsache: die UdSSR importierte aus den USA 1928 Waren über $74.091.000, 1930 über $114.399.000. Damit hatten die USA von den Deutschen die führende Stellung auf dem sowjetischen Markt übernommen und lieferten 25% der sowjetischen Gesamtimporte. [74] In der Sowjetunion herrschte eine wahre Fordizacija, ein überschwenglicher Enthusiasmus für Fließbandproduktion und Massendistribution. [75]

Henry Ford hatte sich in den frühen zwanziger Jahren negativ über die Sowjetunion geäußert. Doch auch er unterzeichnete am 31. Mai 1929 mit Amtorg, dem Vertreter des Obersten Wirtschaftsrates der UdSSR, einen Vertrag, in dem sich Ford verpflichtete, eine Fabrik für die Fertigung von 100.000 Fahrzeugen zu errichten. Ford erklärte gegenüber der Zeitschrift The Nation’s Business: »Russia is beginning to build. […] I believe it is our duty to help any people who want to go to work and become self-supporting.« [76]

Henry Ford besaß eine individualistische und pragmatische Lebensphilosophie, durch die er zu einer Geschichtsauffassung gelangte, die in einigen Punkten – trotz der diametral entgegengesetzten Ausgangsposition – der marxistischen Geschichtsphilosophie ähnelte. »The universe is set in a certain direction and when you go along with it, that is ›goodness‹. If you don’t, you are getting an admonitory kind of experience.« »Rightness in mechanics, rightness in morals, are basically the same thing.« [77] Ford glaubte an die Macht der Maschine, die zur Befreiung des Menschen führen müsse: »The way to liberty […] lies through power; the machine is only an incident. The function of the machine is to liberate man from brute burdens, and release his energies […] in the fields of thought and higher action.« [78]

Umgekehrt findet sich diese Maschinenbegeisterung zur selben Zeit auch in Sowjetrußland, wie etwa in dem Gedicht Ėlektrifikacija von M.P. Gerasimov:

»Rußland, einst arm und erniedrigt,
Bist du jetzt frei und stolz. […]
Auf dem Glockenturm leuchtet
Kein Kreuz mehr,
Sondern elektrisches Leuchtfeuer.
Radioantennen verbreiten mit eisernen Flügeln
Ihre Botschaft über die Dörfer,
Ihr magnetenes Lied
Kündet vom Sieg über die dunkle Vergangenheit.« [79]

Ausgehend von verschiedenen Standpunkten – Ford von einem demokratisch-individualistischen, Lenin und Stalin von einem autoritär-kollektiven – stimmten beide Seiten in ihrer Bewunderung für die Macht und die Möglichkeiten der Maschine überein. [80] Ein amerikanischer Schriftsteller brachte dieses Phänomen in einem ironischen Satz auf den Punkt: »If Lenin is Russia’s God today, Ford is its St. Peter.« [81] Zahlreiche Aussagen spiegeln in den frühen dreißiger Jahren diesen amerikanisch-sowjetischen Glauben an »the future of the Machine Age« wider. Amerikanische Ingenieure waren von der »work ethic« des Fünf-Jahres-Planes sichtlich beeindruckt. [82] Für Virgil Jordan, den Präsidenten des National Industrial Conference Board, war die UdSSR 1933 »the most capitalistic country in the world, because it spends a larger part of its working energy in creating the means of production, and it has put itself under a spartan communist regimentation in order to compel its people to consume less and save more. In fact the communism of Russia in its deepest sense is merely an expression of its intense determination to make itself more capitalistic.« [83]

Auf der sowjetischen Seite teilte man diese amerikanische Einschätzung insofern, als man glaubte, mit Hilfe der Planwirtschaft die USA endlich überflügeln zu können. Stalin hatte ja die Parole ausgegeben: Dognat’ i peregnat’ Ameriku (›Amerika ein- und überholen‹); nach Stalin war das Wesen des praktischen Leninismus ädie Vereinigung des russischen revolutionären Geistes mit dem amerikanischen praktischen Geist.« [84] Ein junger Bol’ševik äußerte der Amerikanerin Dorothy Thompson gegenüber sogar: »Russia will be more efficient as a producing mechanism than America, because there is not so much waste in our system (sic!). Here [in der UdSSR] everything is controlled, everything is planned. we will not overproduce here, underproduce there, but everything will be regulated. That is why, in the end, we will beat you at your own game.« [85]


Die diplomatische Anerkennung (1932/33)

Unter der Präsidentschaft von Herbert Hoover (1929-1933), der wie seine Vorgänger auf dem Kurs der politischen Nichtanerkennung der UdSSR beharrte, durchlebte die amerikanische Gesellschaft eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise. Dies führte zu einer erneuten Diskussion über die Möglichkeiten einer offiziellen Anerkennung der Sowjetregierung. Insbesondere amerikanische Wirtschaftskreise nahmen die Folgen des ›Schwarzen Freitags‹ vom 25. Oktober 1929 an der New Yorker Börse zum Anlaß, verstärkten Druck auf die Hoover-Administration auszuüben. Auch viele ehemals antibolschewistischen Politiker änderten nun ›im nationalen Interesse‹ ihre Meinung. Zahlreiche prominente ›Rußland-Touristen‹ und Ingenieure veröffentlichten in den frühen dreißiger Jahren Bücher und Artikel, in denen sie auf die Vorteile einer diplomatischen Anerkennung hinwiesen. Wenn schon nicht aus Gründen des ‹common sense – die USA waren die einzige große Industrienation, die um 1930 noch keine diplomatischen Beziehungen zur UdSSR unterhielt –, so müsse man doch aus Gründen des nationalen Interesses den Schritt vollziehen, denn die USA bräuchten eine Steigerung des Exports, um der verheerenden Arbeitslosigkeit im Lande wirkungsvoll entgegnen zu können.

In der Sowjetunion hatte man unterdessen erkannt, auf welche Weise man den Druck auf die amerikanische Führung noch verstärken könnte. Der stellvertretende Außenkommissar Nikolaj Krestinskij meinte am 18. September 1931 im Politbüro, man müsse den Amerikanern den sowjetischen Markt entziehen, um ihnen die Notwendigkeit der diplomatischen Anerkennung vor Augen zu führen. Tatsächlich fielen daraufhin die sowjetischen Importe aus den USA von $103,7 Milliarden im Jahre 1931 auf $12,6 Milliarden im Jahre 1932! [86] Während die USA 1930 noch 25% des sowjetischen Gesamtimports lieferten, war die Quote 1932 auf 4,8% gesunken. Dafür stieg im gleichen Zeitraum der deutsche Anteil an den Sowjetimporten von 23,7% auf 46,5%. [87] Die sowjetische Führung wandte erfolgreich Lenins Maxime an, man müsse die Antagonismen unter den kapitalistischen Länder vertiefen. Außerdem zeichnete sich 1931 eine schwere Krise in Ostasien ab: Japan, der gemeinsame Rivale der Amerikaner und der Sowjets in dieser Hemisphäre, hatte 1931 die Mandschurei besetzt. [88]

Das Zusammentreffen von politischen und wirtschaftlichen Krisensymptomen ließ schließlich auch die letzten Zweifler verstummen. Im Januar 1933 stellte die New York Times in einer Umfrage unter 51 Senatoren fest, daß sich 22 für eine rückhaltlose Anerkennung aussprachen, 20 wollten sich hierzu nicht äußern, und nur 9 waren gegen die diplomatische Anerkennung. [89] Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Franklin Delano Roosevelt, hatte schon während der Wahlkampagne von 1932 zu erkennen gegeben, daß er an eine Änderung des politischen Kurses gegenüber der UdSSR dachte. [90] Sein Amtsantritt im Januar 1933 und die hoffnungsschwangeren Erwartungen, die in den USA durch die Ankündigung des New Deal geweckt worden waren, schufen ein günstiges Klima für Aktionen, die Befürworter der Anerkennung im ganzen Land organisierten. Im Januar 1933 übersandten 800 Collegeprofessoren eine Petition an Roosevelt; die linksliberalen Rußlandsympathisanten der Jahre 1918-20 hatten sich von neuem zusammengefunden – darunter der Senator William Borah, Raymond Robins, der Altkommunist Lincoln Steffens und William Bullitt. Linksliberale Blätter wie Walter Lippmanns New Republic bekräftigten 1932, Stalin sei kein Diktator wie Mussolini, denn er könne von der Partei jederzeit abgesetzt werden. Die Zeitungen lobten außerdem die wirtschaftliche Stabilität des Fünf-Jahres-Planes. [91]

Unter dem Eindruck der Geschehnisse in Japan und Deutschland und getragen von einer breiten Welle öffentlicher Zustimmung, nahm Präsident Roosevelt Verhandlungen mit der UdSSR auf. Er glaubte, die Nichtanerkennung sei ein überholtes Mittel der Politik, da die UdSSR auf internationaler Ebene schon längst eine etablierte Größe sei. Sein Vertrauter William Bullitt, der dann als erster US-Botschafter nach Moskau gehen sollte, meinte später: »By that time [Herbst 1933] both the President and I were convinced that Hitler would eventually make war unless England, France, and the Soviet Union should stand together against Nazi aggression. It seemed in our national interest to prevent the outbreak of a Hitler war and, therefore, to resume relations […] with the Soviet Union.« [92]

Nahezu alle Historiker stimmen darin überein, daß für Roosevelts Entscheidung letztlich politische und nicht wirtschaftliche Erwägungen die ausschlaggenbende Rolle spielten. [93] In einem Brief an den Präsidenten des Zentralkomitees, Michail Kalinin, brachte Roosevelt am 10. Oktober 1933 den Wunsch zum Ausdruck »to end the present abnormal relations«: »It is most regrettable that these great peoples, between whom a happy tradition of friendship existed for more than a century to their mutual advantage, should now be without a practical method of communicating directly with each other.« [94]

Um den amerikanisch-sowjetischen Annäherungsprozeß nicht zu stören, hatte das State Department Weisung erhalten, die Nachrichten von der »Terror-Famine« (Robert Conquest), die seit 1932 in der Ukraine und Südrußland wütete und mehreren Millionen Menschen das Leben kostete, nicht überzubewerten. Robert Conquest schreibt hierzu: »The files of the State Department are full of appeals to the US administration to intervene in some way, always answered with a statement that the absence of any American state interest made this impractical. […] The State Department sometimes answered that its policy was not to comment, sometimes it gave a list of sources which might be referred to.« [95]

Nach intensiven Verhandlungen mit Außenkommissar Maksim Litvinov, in denen die USA politische Garantien aushandeln wollten, verkündete Roosevelt schließlich am 17. November 1933 die diplomatische Anerkennung der Sowjetunion. Die Zeitschrift The Nation kommentierte diesen Schritt als »the return of common sense after the long reign of fantasy and fear.« [96]




Zusammenfassung

Ein Grundmotiv des amerikanischen Bildes von Sowjetrußland in den Jahren 1917-1933 war sicherlich die Überzeugung, daß das sowjetische Gesellschaftsmodell eine direkte historische Herausforderung auf globaler Ebene an diejenigen Werte und Traditionen darstellte, die der American Way of Life in reinster Form verkörperte: Individualismus, parlamentarische Demokratie, freies Unternehmertum und the pursuit of happiness. Dabei war die amerikanische Staatsführung grundsätzlich von der Überlegenheit des eigenen Gesellschaftsmodells, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet, überzeugt und glaubte, man müsse nur dem Wettbewerb der Systeme freien Lauf lassen und es würde sich der Kapitalismus notwendigerweise als attraktivere Kraft erweisen, die zuletzt sogar Sowjetrußland bzw. die UdSSR gewinnen werde. Nichts drückt diesen Sachverhalt symptomatischer aus als der bereits zitierte Satz von Henry Ford: »The universe is set in a certain direction and when you go along with it, that is ›goodness‹. If you don’t, you are getting an admonitory kind of experience.«

Mehrmals erlag die amerikanische Beurteilung der Verhältnisse in Sowjetrußland gravierenden Fehleinschätzungen. Zum Teil resultierte dies sicherlich aus der Tatsache, daß man aufgrund des diplomatischen Boykotts, der über Sowjetrußland verhängt worden war, über wenig detaillierte politische Lageberichte verfügte. Die umfangreiche Literatur, die in den USA in den zwanziger Jahren zu diesem Thema erschien, war zudem je nach den persönlichen Symphatien ders Verfassers extrem parteiisch und unkritisch gehalten.

Das Rußlandbild der amerikanischen Politiker erfuhr einen grundsätzlichen Wandel, als wirtschaftliche Gesichtspunkte in immer offensichtlicheren Widerstreit zu politischer Prinzipientreue traten. Diese Gespaltenheit zwischen politischer Weltmission und wirtschaftlichem Profitkalkül dauert in der amerikanischen Außenpolitik bis heute an. So bestand das Paradox, daß sich einerseits gerade die USA verpflichtet fühlten, dem sowjetischen Gesellschaftsmodell auf dem ganzen Planeten entschieden entgegenzutreten (mit dem entsprechenden Arsenal von cordon sanitaire, containment und roll back), daß aber andererseits über amerikanische Wirtschaftshilfe der UdSSR immer wieder die Möglichkeit zur inneren Konsolidierung gegeben wurde.

Es zeigte sich ferner unter der Präsidentschaft von Roosevelt, daß die USA durchaus bereit waren, von ihren eigenen politischen Prinzipien abzurücken und die UdSSR zu einem Zeitpunkt diplomatisch anzuerkennen, als der stalinistische Terror in vollem Ausmaß wütete, weil im Rahmen der weltpolitischen Konstellation eine bilaterale Annäherung opportun erschien.

Auch Präsident Reagan, der in seiner ersten Amtszeit als ein entschiedener Gegner der westlichen Wirtschaftshilfe an die UdSSR, the Empire of Evil, aufgetreten war und damit mit der Linie seiner Vorgänger Nixon, Ford und Carter gebrochen hatte, mußte seit Mitte der achtziger Jahre den kritischen Stimmen seitens der amerikanischen Wirtschaft stärkeres Gehör schenken. Der sich rasch ausweitende Importüberschuß, die Verschlechterung der Leistungsbilanz und die stetig wachsende Staatsverschuldung führten die amerikanischen Industriezweige zu einer Haltung, die im Widerspruch zur offiziellen Sowjetunion-Politik der Regierung stand. Schon 1983 wurde in Chicago eine amerikanisch-sowjetische Handelskonferenz veranstaltet, auf der die Vorteile intensiverer Handelsbeziehungen hervorgehoben wurden. Die Ölgeräte-, Elektronik- und Halbleiterindustrie beklagte sich über die restriktiven Exportbeschränkungen. Eine Commission on Industrial Competitiveness stellte 1985 fest, daß diese Exportkontrollen der amerikanischen Industrie Verluste von mehr als $11 Mrd. einbrachten. Die National Academy of Sciences beklagte den Verlust von 190000 Arbeitsplätzen, was auf das Exportverbot in die UdSSR zurückgeführt wurde. Schließlich nannte das Business-Higher Education Forum der Wirtschaft die von Reagan verhängten Kontrollen unproduktiv, schädlich und überzogen im Verhältnis zum tatsächlichen Ausmaß der sowjetischen Bedrohung. Dies bildete einen der Faktoren, welche die Reagan-Administration dazu bewogen, mit Beginn des Jahres 1984 (also noch vor Amtsantritt Michail Gorbačevs) einen neuen politischen Kurs gegenüber der Sowjetunion einzuschlagen. [97]





Anmerkungen

[1]      Zit. nach Adler (1929), Bd. II, S. 256.
[2]      Vgl. hierzu Gulevič (1931), S. 278.
[3]      Botschafter Francis an State Department, 18. März 1917; zit. nach Hellmann (1964), S. 164.
[4]      Philadelphia Public Ledger, 6.Dezember 1920; zit. nach Lasch (1962), S. 8.
[5]      Kennan (1961), S. 31.
[6]      PPWW, Bd. I, S. 12f.
[7]      Vgl. Kennan (1961), S. 41.
[8]      Eine ausführliche Darstellung dieser Vorgänge findet man bei Sutton (1974), S. 71-82.
[9]      Gaddis (1978), S. 66.
[10]   Ebd. 67.
[11]   Seymour (1928), Bd. III, S. 281.
[12]   Sutton (1974), S. 46.
[13]   Zur Person von Raymond Robins vgl. Meiburger (1958).
[14]   Sutton (1974), S.197-200. – Vgl. auch Hagedorn (1935).
[15]   A. Bullard: Memorandum on the Bolshevik Movement in Russia (Januar 1918); zit. nach Lasch (1962), S. 69.
[16]   Ebd. 65.
[17]   Walworth (1986), S. 244.
[18]   Public, 25. Januar 1918; zit. ebd. 76.
[19]   PPWW, Bd. I, S. 157f.
[20]   Ebd. 158ff.
[21]   Vgl. Lasch (1962), S. 71. – Sutton (1974), S. 197ff.
[22]   Tagebuch von Frank Polk, 8. Januar 1918; zit. nach Lasch (1962), S. 72.
[23]   Gaddis (1978), S. 74. – Kennan (1967), Bd. II, S. 381-404.
[24]   Thompson (1966), S. 369f. – Floto (1973), S. 105, 143.
[25]   Zit. nach Williams (1952), S. 162-164.
[26]   Zit. nach Walworth (1986), S. 228f.
[27]   Thompson (1966), S. 247-67.
[28]   White zu A. M. Holt, 2. Oktober 1919; zit. nach Lasch (1962), S. 61.
[29]   Zit. nach Weissman (1974), S. 98.
[30]   Gaddis (1978), S. 82f.
[31]   Dieses Phänomen wurde untersucht von Murray (1955).
[32]   Rauch (1977), S. 173.
[33]   Zit. nach Thompson (1966), S. 14f.
[34]   Lansing an Page (6.November 1918). PRFR 1918, Russia., Bd. I, S. 726.
[35]   Rede in Des Moines vom 6. September 1919. PRFR 1919, Russia, S. 120.
[36]   Filene (1967), S. 62.
[37]   Zit. ebd. 66.
[38]   Murray (1955), S. 64f.
[39]   Colby an Avizzena (10.August 1920). PRFR 1920-1933, Bd. III, S. 468. – Vgl. Gaddis (1978), S. 106f. – Wilson (1974), S. 15.
[40]   Zit. nach Link (1983), S. 84.
[41]   Dokumenty vnešnej politiki SSSR. Hrsg. Ministerstvo inostrannych del SSSR. Moskva 1967, Bd. I, S. 286-294.
[42]   Zit. nach Gaddis (1978), S. 89.
[43]   Gaworek (1975), S. 43.
[44]   Zit. nach Sutton (1974), S. 15.
[45]   U.S. State Dept. Decimal File 861.51/836-7, nach Sutton (1974), S. 159-161.
[46]   U.S. Senate: Bolshevik Propaganda, Hearings before a Subcommitee of the Commitee on the Judiciary, 65th Congress, S. 679f.; zit. nach Sutton (1974), S. 177f.
[47]   Wilson (1974), S. 18.
[48]   Minutes of the War Trade Board, 5. Dezember 1918, zit. nach Sutton (1968), S. 296. – Vgl. Gaworek (1975).
[49]   Vgl. Wilson (1974), S. 5.
[50]   Ebd. 6.
[51]   Zit. nach Filene (1967), S. 71.
[52]   Zit. nach Gaddis (1978), S. 91.
[53]   Zit. ebd. 91.
[54]   Armand Hammer: The Quest for the Romanov Treasure. New York 1932, S. 62.
[55]   Vgl. Filene (1967), S. 72.
[56]   Ebd. 74.
[57]   Ebd. 111f.
[58]   Ebd. 113.
[59]   Lloyd George hatte am 11. Februar in der Londoner Times die Ansicht der britischen Regierung dargelegt: »We have failed to restore Russia to sanity by force. I believe we can do it and save her by trade. […] Trade, in my opinion, will bring an end to the ferocity, the rapine, and the conditions of bolshevism surer than any other method […] We must fight anarchy with abundance.« Zit. nach Gaworek (1975), S. 67. – Zu den englisch-russischen Beziehungen: Coates (1943). – Ullman (1961-72).
[60]   Vgl. Gaddis (1978), S. 99.
[61]   Hughes an Litvinov, 25. März 1921. PRFR 1921, Bd. II, S. 768.
[62]   Im Detail bei Weissman (1974). – Zum Verlauf der Hilfsaktion siehe H. H. Fisher: The Famine in Soviet Russia, 1919-1923. The Operations of the American Relief Administration. New York 1927.
[63]   Hoover an Hughes, 6. Dezember 1921. PRFR 1921, Bd. II, S. 787f. – Vgl. Wilson (1974), S. 23f.
[64]   PRFR 1921, Bd. II, S. 787f.
[65]   Zit. nach Filene (1967), S. 82.
[66]   Gaddis (1978), S. 101.
[67]   Zit. nach Filene (1967), S. 92f.
[68]   Ebd. 214.
[69]   Zit. ebd. 216.
[70]   Charles Beard (Hrsg.): America Faces the Future. Boston 1932, S. 36f.
[71]   Vgl. hierzu u. a. Denise Artaud: Le New Deal. Paris 1969.
[72]   Vgl. Gaddis (1978), S. 102f. – Sutton (1968), S. 141.
[73]   Ebd. – Vgl. die Arbeit von Holliday (1979).
[74]   Browder (1953), S. 29.
[75]   Wilson (1974), S. 9.
[76]   Henry Ford: Why I Am Helping Russian Industry. In: Nation’s Business XVIII (Juni 1930), S. 22; zit. nach Filene (1967), S. 121.
[77]   Henry Ford: My Philosophy of Industry. London 1929, S. 34f.; zit. ebd. 123.
[78]   Henry Ford: Today and Tomorrow. Garden City/ N.Y. 1926; zit. ebd. 123.
[79]   Zit. nach Richard Lorenz (Hrsg.): Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917-1921). Dokumente des ›Proletkult‹. München 1969, S. 101.
[80]   So Filene (1967), S. 124.
[81]   B. Knollenberg: American Business in Russia. In: Nation’s Business, XVIII (Mai 1930), S. 266; zit. nach Wilson (1974), S. 10.
[82]   Ebd. 11.
[83]   Journal of the American Bankers Association 26 (Dezember 1933), S. 64; zit. ebd. 12f.
[84]   Dorothy Thompson: The New Russia. New York 1928, S. 168.
[85]   Zit. ebd. 166.
[86]   Vgl. Gaddis (1978), S. 114f.
[87]   Tabelle bei Link (1983), S. 99.
[88]   Vgl. Browder (1953), S. 65ff.
[89]   Filene (1967), S. 261.
[90]   Browder (1953), S. 75f.
[91]   Filene (1967), S. 206f.
[92]   Zit. nach Browder (1953), S. 111.
[93]   So etwa Browder, Wilson, Gaddis, Link.
[94]   Zit. nach Browder (1953), S. 225.
[95]   Robert Conquest: The Harvest of Sorrow. Soviet Collectivization and the Terror Famine. New York-Oxford 1986, S. 311.
[96]   Zit. nach Filene (1967), S. 208.
[97]   Vgl. Ernst-Otto Czempiel: Machtprobe. Die USA und die Sowjetunion in den achtziger Jahren. München 1989, S. 246ff. – Reinhard Rode: Sanktion und Geschäft. Die Ostwirtschaftspolitik der USA unter Reagan. Frankfurt/M.1986.





Literaturverzeichnis


Browder (1953) Robert P. Browder: The Origins of Soviet-American Diplomacy. Princeton 1953.
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John L. Gaddis: Russia, the Soviet Union, and the United States: An Interpretive History. New York u.a. 1978.

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Kennan (1961)

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Weissman (1974)

Benjamin M. Weissman: Herbert Hoover and Famine Relief to Soviet Russia, 1921-1923. Stanford/Cal. 1974.

Williams (1952)

William A. Williams: American-Russian Relations, 1781-1947. New York-Toronto 1952.

Wilson (1974) Joan H. Wilson: Ideology and Economics. U.S.Relations with the Soviet Union, 1918-1933. Columbia/Miss. 1974.



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