'No Religion Higher Than Truth'. Princeton University Press Princeton, N.J. 1993. 298 S. 14 Abb. |
Nun hat die an der University of Kansas tätige Slavistin Maria
Carlson einen ersten, ebenso mutigen wie dankenswerten Versuch
unternommen, diese Forschungslücke zu schließen. Die Verfasserin
unterstreicht, welche gesellschaftlichen Ausmaße das Phänomen
des Okkultismus vor 1914 angenommen hatte. Allein in St. Petersburg
gab es 35 eingetragene sowie über hundert informelle okkulte Zirkel
und Logen; zwischen 1881 und 1918 erschienen im Zarenreich mehr
als dreißig okkultistische Periodika, von denen das älteste, 'Rebus',
mit einem festen Abnehmerkreis von 6000 Abonnenten rechnen konnte
(S. 5). Maria Carlson stellt die Theosophie in einen historischen Kontext
und skizziert eingangs die ältere okkultistische Tradition in
Rußland; im übrigen beschränkt sie sich auf eine Darstellung von
Geschichte und Wirkung der Theosophischen und der Anthroposophischen
Bewegung. Letztere entstand, als sich ein Teil der deutschen Theosophen
unter der Führung Rudolf Steiners 1913 anläßlich des Konflikts
um die sog. 'Krischnamutri-Affäre' von ersterer trennte. Der Bruch
zwischen den Vertretern einer theosophischen, mehr orientalisch
ausgerichteten und einer anthroposophischen, stärker an christlich-abendländische
Traditionen anknüpfenden Lehre hatte auch für Rußland Konsequenzen,
da es sich nach der Vorstellung der Intelligencija ohnehin auf einer ost-westlichen Grenzscheide befand. Das komplexe Lehrgebäude der Theosophie fand in Rußland starken
Anklang, war es doch im wesentlichen aus dem Werk der Russin Elena
Petrovna Blavatskaja hervorgegangen, die gemeinsam mit Henry Olcott
1875 in New York die "Theosophical Society" begründet hatte. Maria
Carlson betont, daß die 'Gnosis' der Theosophie, welche die höhere
Erkenntnis geistiger Welten und der göttlichen Weisheit (theou sophia) für sich beanspruchte, der 'gottsuchenden' russischen Intelligencija
und ihrer Vorstellung der einen, allumfassenden istina (Wahrheit) stark entgegenkam. Auch Anhänger der Slavophilie konnten
sich durch die theosophische Lehre bestätigt fühlen, denn darin
wurde Rußland als Träger einer durchgeistigten Zukunftskultur
beschrieben. Die Verfasserin zeichnet nicht nur den Einfluß der Theosophie
und Anthroposophie auf Leben und Werk von Künstlern wie A. Belyj,
M. Volo¹in, K. Bal'mont, D. Mere¾kovskij, N. Berdjaev, V. Ivanov,
A. Skrjabin oder V. Kandinskij nach, sondern beschreibt auch die
rege Tätigkeit der Theosophen auf sozialem, pädagogischem und
wirtschaftlichem Feld sowie die scharfe Reaktion von Vertretern
der Orthodoxie angesichts der zunehmenden Popularität des 'neobuddhistischen'
oder 'manichäisch-gnostischen' Gedankenguts. Carlson charakterisiert
einige jener hochgebildeten, zu Unrecht vergessenen Frauen wie
etwa A. A. Kamenskaja, M. von Strauch-Spettini, A. Minclova oder
A. P. Filosofova, welche die Theosophie in Rußland in den philosophischen
und literarischen Salons gesellschaftsfähig machten. Ferner schildert
sie Verfolgung und Zerstörung der beiden Gesellschaften durch
die Bol'¹eviki. Konnten vor allem die russischen Anthroposophen
ihre Tätigkeit in den Jahren 1919-23 mit Hilfe von Einrichtungen
wie der Vol'fila und der Vol'naja Filosofskaja Associacija noch erheblich verstärken, so hatten die Bol'¹eviki 1930 die meisten
Angehörigen bereits isoliert, deportiert oder ermordet. Weniger gelungen ist der an sich begrüßenswerte Versuch Maria
Carlsons, dem Leser in komprimierter Form einen Überblick die
"Theosophische Doktrin" (auf 14 Seiten) samt ihren "anthroposophischen
Verfeinerungen" (auf 8 Seiten) zu geben. Hier unterlaufen der
stets um Sachlichkeit bemühten Verfasserin, die bereits im Vorwort
betont, sie sei "not ideologically committed to Theosophy or Anthroposophy"
(S. 13), eine Reihe von terminologischen Ungenauigkeiten und inhaltlichen
Fehlern. Beispielsweise sprach Rudolf Steiner niemals von einer
"slavic folk soul", wohl aber einerseits von einer "russischen
Volksseele" in transzendenter und andererseits vom "Slaventum"
in herkömmlicher, sprachlich-ethnischer Bedeutung (S. 95); der
ganze Abschnitt über "the Theosophical understanding of evil"
beruht zur Gänze auf einer in sich widersprüchlichen Fehlinterpretation
der angeführten Textbeispiele (S. 133-136). Doch dies kann den Wert des Buches nicht schmälern. Der bescheiden
vorgebrachten Absicht der Verfasserin, einen "context" und "groundwork
for further research" zu leisten, wird diese reich bebilderte
und dokumentierte Studie, die im Anhang eine 22seitige Bibliographie
der zwischen 1881 und 1918 in Rußland veröffentlichten Werke theosophischen
und verwandten Inhalts enthält, mehr als gerecht. Sie ist eine
Fundgrube für alle, die sich mit dem verwirrend vielfältigen russischen
Kultur- und Geistesleben vor der Oktoberrevolution beschäftigen,
und bietet eine historische Orientierungshilfe für das in Rußland
gegenwärtig wieder sprunghaft anwachsende Interesse an parapsychologischen
bzw. 'okkulten' Phänomenen und Doktrinen. Obwohl das Buch aus einem literaturgeschichtlichen Ansatz heraus
verfaßt wurde, eröffnen sich auch dem Historiker weiterführende
Perspektiven, die von Maria Carlson nur angedeutet werden konnten.
So z. B. der ungeklärte Hintergrund des nach 1899 am Zarenhof
tätigen französischen Okkultisten Papus (Gérard Encausse), der
den für alles Mystische höchst empfänglichen Nikolaus II. auch
im Sinne der französischen Diplomatie 'bearbeitete'. Oder die
möglichen Auswirkungen von A. Lunaèarskijs Flirt mit der Theosophie
auf die Entstehung der bolschewistischen Pädagogik. Schließlich
auch das von Carlson knapp skizzierte Wirken des enigmatischen
Nikolaj Roerich, einem Jünger der okkulten tibetanischen 'Meister',
gemeinsam mit seiner Frau Elena Begründer der Agni Joga-Lehre
sowie einer noch zu Sowjetzeiten einflußreichen Kulturstiftung,
die 1987 unter maßgeblicher Unterstützung des Ehepaars Gorbaèev
neu begründet wurde und im Februar 1992 sogar den Kulturbeauftragten
der damaligen El'cin-Regierung stellte (S. J. ®itenev). Die vor
kurzem nachgedruckten Werke des New Age-Guru Roerich, der u. a.
mit Lenin und F. D. Roosevelt korrespondierte und für den Friedensnobelpreis
nominiert wurde, zeigen, daß er für die bolschewistische Machtergreifung
in der russischen Öffentlichkeit mit dem 'esoterischen' Argument
eintrat, "Mahatma Lenin" sei ein Gesandter der "Meister" in Tibet,
der rechtmäßig in die "Mysterien des allumfassenden Wesens der
Materie" eingeweiht wurde; diese müßten nun, so Roerich Mitte
der zwanziger Jahre, in Rußland zur Offenbarung gelangen. (Vgl.
Elena Rerich: Agni Joga. Tom III, Reprint Moskva 1990.) Markus Osterrieder | Bibliothek | CeltoSlavica Home |