Zur Situation der Zeit

 

Äußerungen Rudolf Steiners zur Weltlage

und zur Verantwortlichkeit des Einzelnen

 

Rudolf Steiner

Rudolf Steiner

(Kraljevec/Kroatien, Österreich-Ungarn 1861-1925 Dornach, Schweiz)

 

 


 

Vortrag vom 14. April 1914 (Wien),
in: Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt
(GA 153)
»Es wird also heute für den Markt ohne Rücksicht auf den Konsum produziert, (...) man stapelt in den Lagerhäusern und durch die Geldmärkte alles zusammen, was produziert wird, und dann wartet man, wieviel gekauft wird. Diese Tendenz wird immer größer werden, bis sie sich (...) in sich selber vernichten wird. Es entsteht [nämlich] dadurch, daß diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebsbildung, eine Karzinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt; er schaut, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut.«


 

Vortrag vom 26. Mai 1919 (Ulm),
in: Gedankenfreiheit und soziale Kräfte (GA 333)
»Ich war im April 1914 genötigt, in einer kleineren Versammlung in Wien - und absichtlich in Wien, Sie wissen, die Weltkriegskatastrophe ist von Österreich ausgegangen - mein Urteil über die soziale Lage auszusprechen, damals nicht nur die soziale Lage des Proletariats, sondern die soziale Frage von ganz Europa. Ich deutete darauf hin, daß die soziale Lage in Europa zu einer Geschwürbildung hin tendiert, und in der Tat ist ja daraus dann der Weltkrieg entstanden. - Ich war genötigt, mein Urteil darüber etwa in die Worte zusammenzufassen - im April 1914, halten Sie den Zeitpunkt fest - : Wer in unsere sozialen Verhältnisse hineinschaut, wie sie sich allmählich herausgebildet haben, der kann nur zu einer großen Kultursorge kommen, denn er sieht, wie sich im sozialen Leben ein Karzinom entwickelt, eine Art Krebskrankheit, die in der furchtbarsten Weise in der nächsten Zeit zum Ausbruch kommen muß.

So mußte ich damals auf dasjenige hinweisen, in das der Weltkapitalismus die Menschen in der nächsten Zeit hineintrieb. Wer das damals sagte, wurde selbstverständlich für einen unpraktischen Idealisten, für einen Utopisten, einen Ideologen verschrien, denn die Praktiker sprachen damals ganz anders. Wie sprachen die Praktiker über die allgemeine Weltlage? Die sprachen nicht von Krebskrankheit. Die sprachen etwa so: (...) »Wir gehen friedlichen Zeiten entgegen, denn die allgemeine Entspannung macht erfreuliche Fortschritte.« (...) Und die allgemeine Entspannung machte solche Fortschritte, daß das folgte, was wir alle so leidvoll erlebt haben.«

Am 15. September (Berlin): »... daß solche Praktiker vom Frieden redeten - und die nächsten Monate diesen Frieden so brachten, daß durch einige Jahre hindurch die zivilisierten Völker sich damit beschäftigten, zehn bis zwölf Millionen Menschen, gering gerechnet, totzuschlagen und dreimal so viel zu Krüppeln zu machen. (...) [Wir haben nötig,] um zur Wiedergesundung unserer sozialen Verhältnisse zu kommen, nicht an kleine Umwandlungen von diesen oder jenen Einrichtungen zu denken, sondern an ein großes Umlernen und Umdenken, nicht an eine kleine Abrechnung, sondern an eine große Abrechnung mit dem Alten, das morsch und faul ist und nicht mehr hineinmünden darf in das, was für die Zukunft geschehen soll.«


 

Asja Turgeneva: Erinnerungen an Rudolf Steiner. Stuttgart 1972, S. 61
Dornach im Juni/Juli 1914, kurz vor Kriegsausbruch: »Wie oft konnte man sehen, wie Dr. Steiner von einem zum anderen von uns ging mit den einfachen Worten: »Es kommt doch zum Krieg ... es wird furchtbar werden!« Es war, wie wenn er auf etwas warte, und dabei konnte man ihn kaum anschauen. »Ja, Herr Doktor, es scheint zum Krieg zu kommen.« Da ging er, wie enttäuscht, weg. »Nur vierzig Menschen haben ihn gewollt«, sagte er, als der Krieg ausbrach, »und zu wenige waren da, die ihn nicht wollten.« «


 

Vortrag vom 4. Dezember 1916 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 1. Teil (GA 173)
»Denken Sie doch: Was ist alles notwendig, um ein Urteil über ein ganzes Volk abzugeben - und wieviel wird heute über ganze Völker geurteilt! - Und nicht nur das, sondern man engagiert sich gewissermaßen innerlich mit seinem Urteil, ohne daß man die allernotdürftigsten Unterlagen, die zu einem solchen Urteil nötig sind, auch nur ahnt. Nun kann man nicht von jedem verlangen, daß er die Unterlagen kennt; wohl aber kann man von jedem verlangen, daß er seine Urteile mit einer gewissen Reserve abgibt, daß er sie nicht als absolute Urteile in die Welt hineinstellt. (...) Die große Sünde unserer Kultur besteht heute darin, in inhaltslosen Sätzen zu leben, ohne sich klarzumachen, wie inhaltslos diese Sätze sind.«

»[Es fehlt in der Gegenwart] ein gewisser Grundimpuls des Strebens (...), und das ist der Grundimpuls nach der Wahrheit. Es besteht der Trieb, die Wahrheit in Phrasen zu suchen. Man mag diese Phrasen aufnehmen und sich meinetwillen noch so enthusiasmiert mit ihnen durchdringen: mit diesem Triebe kann man niemals die Wahrheit finden, sondern dafür muß man den Sinn für die Tatsachen haben, gleichgültig ob diese Tatsachen auf dem physischen Plan oder in der geistigen Welt zu suchen sind. (...) Man muß sich aber dieses Gefühl für die Wahrheit im alltäglichen Leben aneignen, sonst wird man es nicht hinauftragen können in das Begreifen der geistigen Welten.«

»Gegen diese Tatsache, daß die Leichtfertigkeit des Urteils von der Wahrheit abbringt, gibt es nie die Entschuldigung, man habe dies oder jenes nicht gewußt. Denn das, was wir in unseren Seelen tragen als ein Urteil, ist eine Tatsache und wirkt in der Welt, und ein jeder sollte sich bewußt sein, daß dasjenige, was er in der Seele trägt, in der Welt wirkt.«

»Aber bei jedem Urteil muß man ferner ins Auge fassen, ob die Beurteilungsimpulse, ob die Perspektiven in der richtigen Weise eingestellt sind. In dieser Beziehung kann man die allerschmerzlichsten Erfahrungen machen, (...) wie wenig Neigung vorhanden ist in der Welt, Urteile in der richtigen Weise perspektivisch einzustellen, und wie wenig auch nur der Wille vorhanden ist, einen zu verstehen, wenn man versucht, die Dinge so zu beurteilen, um für sein Urteil die richtige perspektivische Einstellung zu gewinnen.«

»Viel wichtiger als die subjektiven Sympathien und Antipathien, viel wichtiger vor allen Dingen als dasjenige, was in so verheerender Weise durch die Tagespresse pulsiert, ist das, was einzelne sich um Objektivität bemühende Menschen über die Ereignisse der Gegenwart denken.«

 


 

Vortrag vom 9. Dezember 1916 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 1. Teil (GA 173)
»Ob man als Geschichtsschreiber das Richtige darzustellen vermag oder nicht, das hängt davon ab, ob einen das Karma dazu führt, das Richtige kennenzulernen oder nicht. Darauf kommt es an. Das Richtige (...) offenbart sich sehr häufig nur für denjenigen, der den Blick an die richtigen Stellen zu wenden vermag. Ich könnte auch anders sagen: Es offenbart sich für den, der durch sein Karma dahin geführt wird, das Richtige im richtigen Augenblick zu sehen da, wo sich an einer einzelnen Erscheinung etwas Bedeutsames ausspricht. Denn oftmals drückt sich an einer einzelnen Erscheinung dasjenige aus, was auf Jahrzehnte Licht wirft, und wie durch einen Blitzschlag dasjenige beleuchtet, was wirklich geschieht.«


 

Vortrag vom 10. Dezember 1916 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 1. Teil (GA 173)
»[Der Mensch stößt] sehr leicht auf merkwürdige Widersprüche (...), wenn er sich bemüht, die Wirklichkeit zu verstehen. Und wenn der Mensch auf Widersprüche stößt, so sucht er über diese Widersprüche so hinwegzukommen, daß er von zwei einander widersprechenden Dingen das eine annimmt und das andere zurückstößt. Das aber heißt sehr häufig, überhaupt die Wirklichkeit nicht verstehen zu wollen.«


 

Vortrag vom 24. Dezember 1916 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 1. Teil (GA 173)
»Sie werden aus den letzten Betrachtungen wohl gründlich ersehen haben, daß auch im sozialen Zusammenleben der Menschheit Impulse wirken, gute und schlechte, die geleitet werden von denjenigen, die von der Leitung etwas verstehen, und die oftmals in merkwürdiger Weise geleitet werden. (...) Wie nun im einzelnen, so auch im sozialen Leben: Es können gewisse Impulse nach der einen oder nach der andern Seite gelenkt und geleitet werden. Namentlich im sozialen Leben ist heute noch vielfach möglich, das Unbewußte, und jedes Zeitalter hat sein Unbewußtes, zu Hilfe zu nehmen. Und sobald man mit dem Unbewußten oder Unterbewußten rechnet, dann erzielt man ganz andere Wirkungen als mit dem heutigen Bewußtsein (...).«

 


 

Vortrag vom 26. Dezember 1916 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 1. Teil (GA 173)
»Wahrheitssinn hat derjenige, der unablässig danach strebt, die Wahrheit zu erforschen in einer Sache, der nicht nachläßt, die Wahrheit zu erforschen, und der sich verantwortlich erklärt für sich selber auch dann, wenn er irgend etwas aus Unwissenheit falsch sagt. Denn für das Objektive ist das ebenso gleichgültig, ob man etwas aus Wissenheit oder aus Unwissenheit falsch sagt, wie es gleichgültig ist, ob man aus Unverstand oder aus irgendeinem Mutwillen den Finger in die Flamme steckt; man verbrennt sich in beiden Fällen.«

 


 

Vortrag vom 30. Dezember 1916 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 1. Teil (GA 173)
»... [D]as Nichtwalten der Wahrheit, das eigentümliche Walten gerade des Gegenteiles der Wahrheit, die geringe Neigung, Wahrheit zu suchen, die geringe Sehnsucht nach Wahrheit, mit alledem hängt das Karma unserer Zeit zusammen. Und dieses muß man studieren. (...) man glaube nicht, daß Gedanken, daß Behauptungen nicht objektive Mächte sind! Sie sind objektive, reale Mächte! Und es ist ganz unausbleiblich, daß sie ihre Wirkungen nach sich ziehen, auch wenn sie sich nicht umsetzen in äußere Taten. Für die Zukunft ist viel wichtiger, was die Menschen denken, als das, was sie tun. Denn Gedanken werden im Laufe der Zeit Taten. Wir leben heute von den Gedanken vergangener Zeiten; die erfüllen sich in den Taten, die heute geschehen. Und unsere Gedanken, die die Welt durchfluten, werden sich in den Taten der Zukunft entladen.«

 


 

Vortrag vom 1. Januar 1917 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 2. Teil (GA 174)
»Wir müssen uns unablässig bemühen, Gedanken mit scharfen Konturen von uns zu fordern, und uns nicht blind den Sympathien und Antipathien hinzugeben, wenn wir für uns und andere etwas behaupten. (...) Wir müssen uns klar bewußt sein, daß in der Gegenwart jeder Mensch, der will, daß die Evolution der Erde in heilsamer Weise weitergeht, gewissenhaft und ehrlich nach Gedankenobjektivität in der eben geschilderten Weise suchen muß. (...) Gerade da, wo ein Höchstes erstrebt wird, muß am schärfsten achtgegeben werden. Denn dies muß einmal ins Auge gefaßt werden: In früheren Kulturepochen waren andere Möglichkeiten des Abirrens da, in unserer Zeit ist das Abirren in eine Unwahrhaftigkeit, die durch ein Nichtleben mit der Wirklichkeit zustande kommt, die große Gefahr.«

 


 

Vortrag vom 7. Januar 1917 (Dornach),
in: Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 2. Teil (GA 174)
»Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht: Begriffe wie Recht und Freiheit sind anwendbar auf die einzelnen menschlichen Individualitäten; sie als Programmpunkte für Völker anzugeben, bedeutet von vornherein, nichts zu wissen von den Eigentümlichkeiten des Volkstümlichen, gar nicht den Willen zu haben, auf das Eigentümliche des Volksmäßigen einzugehen. (...) Heute besteht, ich möchte sagen, ein welthistorischer Trick darin, Dinge zu sagen, die einleuchtend sind, die auf viele Menschen überzeugend wirken, aber eigentlich gar nichts besagen, gar nicht die Grundlage für ein gültiges Urteil abgeben können.«

 


 

Vortrag vom 29. September 1917 (Dornach), in:
Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»Überall liegt heute die Notwendigkeit vor, zu ermahnen, ernst zu ermahnen, nach Gründlichkeit zu suchen, zu suchen danach, wie die Dinge zusammenhängen, zu suchen nach den Wirklichkeiten und nicht nach dem äußeren Schein. (...) das Geständnis, daß man (...) vielleicht erst sich die Grundlagen schaffen muß, um zu einem Urteil zu kommen, das wird den heutigen Menschen so schwer. Ja, es fällt ihnen kaum ein, daß es nötig ist, sich erst Grundlagen zu einem Urteil zu schaffen. (...) Das Irrtümlichste, dem man sich hingeben kann, das ist, wenn heute jemand sagen würde: Ach, gleichgültig, woher der Friede kommt, wenn er auch von dem Papst kommt! - Das Bedeutungsvolle ist, daß es ja unter Umständen natürlich nicht schaden könnte, wenn ein Friede von dem Papst käme, selbstverständlich nicht; aber es handelt sich darum, in welchem Sinne ihn diejenigen auffassen, die mittun. Immer wieder muß man sich klar vor die Seele stellen, wie diese unsere Zeit uns geradezu auffordert, stündlich, minütlich auffordert: Werde wach!«

 


 

Vortrag vom 1. Oktober 1917 (Dornach),
in: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»[Die Menschen der Gegenwart] neigen mehr, als das zu anderen Zeiten der Fall war, dazu, sich über gewisse wesentliche und wichtige Dinge der Weltenordnung Illusionen hinzugeben, und zwar in einem solchen Grade, daß diese Illusionen weltbeherrschende, völkerbeherrschende, erdenbeherrschende Mächte werden. Das ist sehr wichtig, denn in dem ganzen Chaos der Gegenwart walten - und deswegen ist es ja ein Chaos - gerade Illusionen, illusionäre Vorstellungen.«

 


 

Vortrag vom 6. Oktober 1917 (Dornach),
in: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»... in das ganze soziale Zusammenleben der Menschen werden sich immer mehr und mehr wegen der allgemeinen Kultur, wegen der Usancen, wegen der Emotionen der Menschen zerstörende Kräfte mischen, Kräfte, welche vor allen Dingen die Verhältnisse unter den Menschen selber immer mehr zerstören werden. Streben soll der Mensch danach, das Wort Christi zu realisieren: »Wo zwei in meinem Namen vereint sind, bin ich mitten unter ihnen.« Aber die technische, die kommerzielle Kultur macht nicht dieses zur Wahrheit, sondern das andere: Wo zwei oder mehrere in meinem Namen sich zanken und streiten und bekämpfen wollen, da bin ich mitten unter ihnen. - Und das wird immer mehr in das soziale Menschenleben hineinkommen. Das führt aber dazu, daß überhaupt die Schwierigkeit besteht, heute in die Menschheit verbindende Wahrheiten hineinzuführen. (...) weil man ja nicht anstrebt, sich zu entwickeln, weil man es nicht erträgt, erst etwas zu werden, weil man nur etwas sein will. Das aber zerspaltet die Menschen in Menschheitsatome. Ein jeder hat seinen Standpunkt. Keiner kann mehr den anderen verstehen.«

 


 

Vortrag vom 7. Oktober 1917 (Dornach),
in: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»Dieses Chaos kommt eben davon, daß die Wirklichkeit eine andere ist, eine reicher werdende ist, als das, was die Menschen erdenken können, was die Menschen sich ausbilden können in ihren Köpfen. Und man wird sich klarmachen müssen, daß man vor die Wahl gestellt ist: Entweder, weil man die Welt nicht zu ordnen versteht, weiterzumachen mit dem Zusammenhauen, mit dem gegenwärtigen Aufeinanderschießen, oder zu beginnen mit dem Ausbilden solcher Begriffe, solcher Vorstellungen, die den komplizierten Verhältnissen gewachsen sind. Es muß eine geistige Strömung in der Menschheit geben, welche darauf ausgeht, Begriffe auszubilden, die den realen Verhältnissen gewachsen sind.«

 


 

Vortrag vom 8. Oktober 1917 (Dornach),
in: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»Man kann über die Naturerscheinungen mit Hilfe der gewöhnlichen Intellektualität nachdenken, aber man kann nicht über soziale Erscheinungen mit Hilfe der gewöhnlichen Intellektualität nachdenken; das kann man nicht. Heute glaubt der Mensch: Das Denken, das ihn befähigt, über den äußeren Verlauf der Sinnenwelt nachzudenken, das kann er auch anwenden, um soziale Gesetze, um politische Impulse zu finden. Er tut es auch vorläufig, aber sie sind auch danach. (...) Es wird das allerdings schwer zu verstehen sein, aber man muß sich bekanntmachen damit, daß wirkliche, richtige Gedanken für soziale Strukturen erst dann wiederum herauskommen, wenn die Menschen an den Geist appellieren. (...) Sonst werden die Menschen an politischen Grundsätzen, an sozialen Strukturen und Ideen bloß Nichtiges zutage fördern. (...) Heute kann man noch über diese Dinge lachen. Aber die Menschheit wird sich in Schmerzen und Leiden das Bewußtsein von der Inspiration auf dem schöpferischen Gebiete der sozialen Ordnung erringen müssen.«

 


 

Vortrag vom 13. Oktober 1917 (Dornach), in:
Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»Es ist eigentlich bewundernswert im negativen Sinne, wie viele Menschen gegenüber diesen furchtbaren Ereignissen der Gegenwart noch immer schlafen, noch immer nicht dazu gekommen sind, sich einmal zu überlegen, daß Ereignisse, die noch nie da waren in der Weltenentwickelung der Menschen, auch fordern, daß man zu neuen Begriffen kommt, die auch noch nie dagewesen sind.«

 


 

Vortrag vom 26. Oktober 1917 (Dornach), in:
Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»Und so sehen wir, daß gerade im 19. Jahrhundert ein Pochen auf Stammes- und Volks- und Rassenzusammenhänge beginnt, und daß man von diesem Pochen als einem idealistischen spricht, während es in Wahrheit der Anfang ist einer Niedergangserscheinung der Menschen, der Menschheit. (...) Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen. (...) Die Ereignisse der Gegenwart, sie wurden von den eingeweihten Geistern aller Nationen vorausgesehen. Sie wurden vorausgesehen und vorausgesagt, und hingewiesen wurde darauf, wie aus dem Blute der Menschen emporsprudeln wird reaktionärste Gesinnung, weil der Glaube herrschen wird, daß diese reaktionärste Gesinnung gerade das Idealste ist. (...) Fühlen muß man, wo das Leben aufsteigt, wo das Leben absteigt.«

 


 

Vortrag vom 27. Oktober 1917 (Dornach),
in: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»Diese drei Jahre, sie sind wie eine Aufforderung zum Wachsamwerden, wenn auch noch nicht eine annähernd genügend große Anzahl von Seelen in der Lage ist, den Ruf in der rechten Weise zu vernehmen. (...) Man wird dahin kommen müssen, einzusehen, daß die Gegenwart die Unzulänglichkeit, ja die Unmöglichkeit der Vorstellungen beweist, in die sich die Menschheit eingelebt hat, und daß es eine weltgeschichtliche Ungehörigkeit ist, wenn immer wieder die Menschen aus dem heraus urteilen, was ja die heutige Zeit heraufgeführt hat, und was ja widerlegt ist dadurch, daß diese Zeit eben gekommen ist. Glaubt man, daß man diese Zeit korrigieren wird mit denselben Grundsätzen, die sie herbeigeführt haben? Darin wird man wahrhaftig sich täuschen.«

»Viele Menschen denken heute noch in ganz derselben Weise, wie sie im Jahre 1913 [1994] gedacht haben. Der Verstand, den sie dazumal angewendet haben, von dem denken sie, daß er ausreichen wird auch für das Jahr 1917 [1998], ohne so viel Wirklichkeitssinn zu haben, daß dieser Verstand innig zusammenhängt damit, daß er das Jahr 1917 [1998] hervorgebracht hat, und daß er es nicht zugleich heilen kann.«

 


 

Vortrag vom 28. Oktober 1917 (Dornach),
in: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt (GA 177)
»Heute fehlt den Menschen selbst in bezug auf das Primitivste des Umlebens und des Miterlebens der Wirklichkeitssinn. Die Menschen (...) sind vollgepfropft von bloßen Theorien, schlafen in lauter Theorien und sind sich dessen nicht bewußt, daß sie in Theorien schlafen. Wenn einmal einer aufwacht - es ist nicht Zufälligkeit, aber man könnte in populärer Redewendung sagen: Wenn einer einmal zufällig aufwacht und etwas wach sagt, wird er einfach unberücksichtigt bleiben. So geht das eben heute. (...) Man nimmt Begriffe für Wirklichkeiten. Dadurch ist es aber möglich, daß die Illusion sich an die Stelle der Wirklichkeit setzt, wenn es sich ums Menschenleben handelt: indem man die Menschen einlullt und einschläfert durch Begriffe. (...) Und wenn einmal einer aufwacht, so wird er eben nicht berücksichtigt.«

 


 

Vortrag vom 16. November 1917 (St. Gallen),
in: Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen
(GA 178)
»... zwar wird die Menschheit heute von allen Angelegenheiten durch (...) die Presse unterrichtet; aber sie wird durch die Presse so unterrichtet, daß ihr gerade das Wesentliche, das Wahre, das Reale, dasjenige, worauf es ankommt, verhüllt wird. Und bis zu diesem Grade der Wirklichkeitserkenntnis muß der Mensch schon kommen. (...) Die Dinge können nicht anders sein, aber ein Bewußtsein müssen die Menschen davon haben. Das ist ja gerade der große Irrtum, daß man glaubt, man müsse die Dinge kritisieren, während man sie charakterisieren muß. Das ist es, worauf es ankommt.«

 


 

Vortrag vom 16. Oktober 1918 (Zürich),
in: Der Tod als Lebenswandlung (GA 182)
»Heute, wo die faule Menschheit so oftmals sagt, wenn sie irgendwo etwas liest: Das habe ich dort und dort auch gelesen -, wo sie nur auf den Inhalt geht, heute ist die Zeit, wo die Menschheit lernen muß, daß es gar nicht mehr so sehr auf den Inhalt ankommt, sondern darauf ankommt, wer etwas sagt; daß man kennen muß den Menschen aus dem, was er sagt, weil die Worte nur Gebärden sind und man kennen muß, wer diese Gebärden macht. Das ist dasjenige, in das sich die Menschheit hineinleben muß. Hier liegt ein furchtbar großes Mysterium des allergewöhnlichsten Lebens vor, meine lieben Freunde. Es ist eben ein Unterschied, ob im persönlichen Ich erkämpft wird Satz für Satz, oder aber, ob es von unten oder von oben oder von seitwärts her in irgendeiner Weise (...) eingeben ist.«

 


 

Vortrag vom 25. Oktober 1918 (Dornach),
in: Geschichtliche Symptomatologie (GA 185)
»Dasjenige, was der Menschheit einzig und allein Heil bringen kann gegen die Zukunft hin - ich meine der Menschheit, also dem sozialen Zusammenleben - muß sein ein ehrliches Interesse des einen Menschen an dem anderen. Das, was [unserem] Zeitalter besonders eigen ist, ist Absonderung des einen Menschen vom andern. Das bedingt ja die Individualität, das bedingt die Persönlichkeit, daß sich auch innerlich ein Mensch von dem andern absondert. Aber diese Absonderung muß einen Gegenpol haben, und dieser Gegenpol muß in dem Heranzüchten eines regen Interesses von Mensch zu Mensch bestehen. (...) Die meisten Menschen der Gegenwart (...) stehen von Mensch zu Mensch so, daß sie, wenn sie an dem anderen Menschen etwas bemerken, das ihnen nur nicht paßt - ich will gar nicht sagen, das sie tiefer betrachten, sondern das ihnen von oben her betrachtet, ganz äußerlich betrachtet, nicht paßt -, so fangen sie an abzuurteilen, aber ohne Interesse dafür zu entwickeln, abzuurteilen. Es ist im höchsten Grade antisozial - vielleicht klingt es paradox, aber richtig ist es doch - für die zukünftige Menschheitsentwickelung, solche Eigenschaften an sich zu haben, in unmittelbarer Sympathie oder Antipathie an den anderen Menschen heranzugehen. Dagegen wird es die schönste, bedeutendste soziale Eigenschaft für die Zukunftsentwickelung sein, wenn man gerade ein naturwissenschaftliches, objektives Interesse für Fehler anderer Menschen entwickelt, wenn einen die Fehler anderer Menschen viel mehr interessieren, als daß man sie versucht zu kritisieren. Denn nach und nach (...), da wird sich der eine Mensch ganz besonders immer mehr und mehr mit den Fehlern des anderen Menschen liebevoll zu befassen haben.«

»Die meisten Menschen, die Ihnen jetzt entgegentreten, (...) werden nicht älter als kaum 27 Jahre; dann trotten sie fort mit dem, was sie gelernt haben und so weiter. (...) Weiter studieren heute, nicht wahr, fortlernen, ein verwandlungsfähiger Mensch bleiben, das findet man außerordentlich selten. (...) Nun möchte ich aber wissen, (...) wie viele Menschen das Notwendige ergreifen wollen, was für die Zukunft der Erdenmenschheit dastehen wird: das immerwährende Lernen, das immerwährende In-Bewegung-Bleiben. Und das wird nicht zu erreichen sein ohne das eben geschilderte Interesse von Mensch zu Mensch. Liebevoll hinblicken können auf die Menschen, sich interessieren für die Eigenart der Menschen, das ist dasjenige, was die Menschheit ergreifen muß.«

 


 

Aufsatz aus dem Jahr 1919,
in: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage
(GA 24)
»Eine Grundbedingung der Gesundung [des öffentlichen Lebens ist] die Auflösung der Parteigruppierungen und die Hebung des Verständnisses für Ideenbildungen, die aus der praktischen Einsicht selbst herauswachsen ohne allen Zusammenhang mit Partei- oder Gruppenmeinungen von ehemals. Es ist eine brennende Frage der Gegenwart, daß Mittel und Wege gefunden werden, an die Stelle der Parteimeinungen diese unabhängigen Ideenbildungen zusetzen, die Kristallisationskerne abgeben können für den Zusammenschluß von Menschen von allen Parteiseiten her. Von solchen Menschen, die in der Lage sind, zu erkennen, daß die bestehenden Parteien sich überlebt haben, und daß die sozialen Zustände der Gegenwart ein vollgültiger Beweis für diese Überlebtheit sind.«

 


 

Vortrag vom 15. September 1919 (Berlin),
in: Gedankenfreiheit und soziale Kräfte (GA 333)
»Das Merkwürdige erlebte man, daß diejenigen, welche innerhalb der Tatsachenwelt die Macht hatten zu handeln, zu wirken, sich dazu gebracht hatten, die Tatsachen wie von selbst sich ablaufen zu lassen. Die Gedanken, die Ideen waren zu kurzmaschig geworden, um noch die Tatsachen in sich einbeziehen zu können. Die Tatsachen des Lebens waren den Menschen über den Kopf gewachsen. Dies zeigte sich ganz besonders schon durch lange Zeiten hindurch im Wirtschaftsleben, wo der Wettstreit auf dem sogenannten »freien Wirtschaftsmarkt« als einzigen Antrieb in der Regelung der Wirtschaft »Profit« und ähnliches zurückgelassen hatte, wo nicht die Ideen wirkten, die das Wirtschaftsleben einzig und allein nach den Fragen der Gütererzeugung, des Güterumlaufs und des Güterverbrauchs gestalteten, sondern dasjenige, was aus dem Zufall des freien Marktes fortwährend in Krisen hineinführen konnte. (...)

Gerade solchen Dingen gegenüber sollte der Mensch der Gegenwart nachdenklich werden. Er sollte sich vor die geistigen Augen führen können, daß es in der Tat notwendig ist, tiefer in das Menschengetriebe hineinzuschauen, um so etwas wie die soziale Frage anders zu begreifen, als es gewöhnlich geschieht. Es ist ja handgreiflich, wie die Gedanken gegenüber den rollenden Tatsachen zu kurz geworden sind. Aber die Menschen wollen solche Dinge nicht sehen.«

 


 

Vortrag vom 27. Dezember 1919 (Stuttgart),
in: Gedankenfreiheit und soziale Kräfte (GA 333)
»Wer heute unser Geistes- und Seelenleben wirklich verfolgt, der wird sich sagen müssen: Vieles, unendlich vieles in diesem Geistes- und Seelenleben ist nichts mehr als Phrase, hat seinen Inhalt verloren. (...) Der Mensch empfindet das heute noch nicht in genügendem Maße, und das ist das Unglück unserer Zeit. Denn aus der Phrase heraus werden zwar Parteiprogramme, aus der Phrase heraus werden auch Weltanschauungen phrasenhafter Art geboren, aus der Phrase heraus werden aber niemals fruchtbare Taten und Ideen für die wirkliche Weiterentwickelung der Menschheit entstehen. Man kann mit Phrasen agitieren, man kann aber mit Phrasen nichts schaffen.«

»Mit der äußeren Naturwissenschaft begreifen wir nur das Tote, und wenden wir diese Naturwissenschaft des Toten auf das an, was im sozialen Leben oder im geschichtlichen Leben enthalten ist, so begreifen wir auch dort nur das Sterbende. Deshalb sind die neuen sozialen Theorien, die sich nun auch über die Wirklichkeit hermachen, nachdem sie bisher bloß Kritiken des Bestehenden gewesen sind, so ertötend für das wirkliche Leben, weil sie dem Toten nachgebildet sind.«

 


 

Vortrag vom 31. Oktober 1920 (Dornach),
in: Die neue Geistigkeit und das Christus-Erlebnis des 20.Jahrhunderts
(GA 200)
»Die große Krise im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts trat ein, als alle diejenigen Nichtswisser von den Menschheitsverhältnissen, die nun die Führung der verschiedenen Nationen und so weiter angeblich in der Hand hatten, die wenigstens an den Plätzen standen, auf denen man glaubte, die Führung der Menschheit in der Hand zu haben, als alle diese von einer Gliederung der Menschheit nach dem Willen der einzelnen Nationen sprachen. Im allerschlimmsten Sinne wurde nationaler Chauvinismus gerade in der neuesten Zeit wachgerufen. Und nationaler Chauvinismus klingt heute durch die ganze zivilisierte Welt. Das ist nur das soziale Gegenbild für jene urreaktionäre Weltanschauung, welche alles auf die vererbten Eigenschaften zurückführen will. Wenn man nicht mehr danach strebt, sein Wesen als Mensch zu ergründen und die soziale Struktur so zu gestalten, daß dieses Wesen als Mensch zurechtkommt, sondern wenn man nur danach strebt, sie soziale Struktur so herbeizuführen, daß sie dem entspricht, was man als Tscheche, als Slowake, als Magyar, als Franzose, als Engländer, als Pole und so weiter ist, dann vergißt man alle Geistigkeit.

(...) dieses 20. Jahrhundert [hatte] die Probe zu liefern, daß auch ein Mensch da sein kann, der angestaunt wird von einer großen Menge als ein Weltenlenker, der aber überhaupt in seinen Worten gar keinen Begriff mehr hat, wie Woodrow Wilson, der nur Worte sagt, die keine Begriffe mehr enthalten. Deshalb mußte man sich anlehnen an irgend etwas, was ganz geistlos ist, die Blutsverwandtschaft, die blutsverwandten Eigenschaften der Nationen, woraus dann nichts anderes geworden ist, als daß Friedensschlüsse zustande gekommen sind (...), in denen Leute Landkarten über die Gestaltung der modernen zivilisierten Welt bestimmt haben, die überhaupt nicht das geringste von den Lebensverhältnissen dieser modernen Welt kennen. (...) Das ist selbstverständlich eine Wahrheit, die heute vielen Menschen unangenehm ist. Und das macht es wiederum, daß so viel Lüge auf dem Grunde der Seele sich ablagern muß.«

»Das muß die normale Entwickelung der Zukunft sein, daß der Mensch sich sagt: Ich sehe das Menschenwesen als etwas an, was eigentlich durch sein inneres Wesen hinauswächst über das, was ich als Erdenmensch werden kann. Ich muß mich als Erdenmensch gewissermaßen als Zwerg fühlen gegenüber dem, was der eigentliche Mensch ist. Und aus dem Unbefriedigten, das richtig erzogene Kinder schon in der allernächsten Zeit haben werden, wird eben gerade dieses Gefühl herauswachsen. (...) All das, was sich unter den Wilsonschen Dummheitsformeln und unter dem, was sonst als Chauvinismus durch die Welt geht, entwickeln wird, das werden ja lauter Unmöglichkeiten sein. Die moderne Zivilisation geht durch all diese Dinge lauter Unmöglichkeiten entgegen. Richten Sie noch mehr nationale Reiche auf innerhalb der modernen Zivilisation, so liefern Sie noch mehr Zerstörungskeime (...). Aus all dem, was die moderne Bildung, diese heute so vielgepriesene, angebetete Bildung dem Menschen geben kann, wird herauswachsen, daß er sich auf der einen Seite als Erdenmensch fühlt, und auf der anderen Seite, daß er sich sagt: Aber der Mensch ist mehr als ein Erdenwesen. (...) Er wird verlangen wie mit ausgestreckten Armen nach einer Enträtselung seines kosmischen Wesens.«

 


 

| Sophia | CeltoSlavica Home |