STUFEN

Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuchnotizen

 

von

Christian Morgenstern

 

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern

(München 1871-1914 Meran)

 


 

DAS RESIGNIEREN der heutigen Menschen ist bereits eine Gewohnheit geworden wie Essen, Trinken und Schlafen; und deshalb ist es so gemein. Was für ein träges, ungeistiges Tier ist doch noch der Mensch, und wie sehr bedarf es großer und größter Schrecken und Trübsale, damit er nicht immer wieder in Schlaf versinke.

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»Geist« ist heute Marktware, wer redet noch davon? Ein wirklich eigener Gedanke aber ist immer noch so selten wie ein Goldstück im Rinnstein.

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Des Krieges Eltern heißen Schwachsinn und Trägheit. Sie finden es viel einfacher und bequemer, ein Kind: den Krieg, in die Welt zu setzen, als in sich zu gehen und in Selbsterkenntnis und Selbstzucht Geist und schöpferische Kraft zu werden. Das Wesen des Schwachsinns ist, vor wirklichen Schwierigkeiten zu kapitulieren; das Wesen der Trägheit, im Hergebrachten weiter zu verharren.

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Was das Fazit der europäischen Rüstungen sein wird? Der möglichst vollkommene déluge après nous.

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In und trotz aller Geschäftigkeit - wieviel Verschlafenheit, wieviel Verträumtheit! Das wacht oft ein ganzes Leben lang nicht auf. Rüttelst du aber zu unsanft, so magst du leicht einen Stoß vor die Brust bekommen, wie von einem Schlaftrunkenen, den man vorzeitig stört. Tröste dich mit diesem »vorzeitig«. Und wer nicht aufstehen will, kann es wohl auch noch nicht, muß wohl noch - schlafen.

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Für jeden Menschen, sagt Goethe, kommt der Zeitpunkt, von dem an er wieder »ruiniert« werden muß. So auch: für jede Kulturperiode. Die unsrige hat diesen Zeitpunkt bereits überschritten. Sie kann trotz allem, was dagegen einzuwenden ist, in einem gewissen sehr hohen Sinne nicht mehr ein ausschließliches Interesse beanspruchen. Das Hauptaugenmerk richtet sich über ihren mehr oder minder glänzenden Abklang hinweg auf den folgenden Abschnitt, dessen Aufbau, dessen Aufgaben. Ihr bleibt noch vieles zu tun, freilich, aber auch dies: sich möglichst unmißverständlich und allseitig ad absurdum zu führen.

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Wir Deutsche leiden alle an der Hypochondrie der »Verpflichtungen«. Sie macht unsere Stärke und unsere Schwäche.

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Nichts ist so fluchwürdig auf Erden wie die bloßen unschöpferischen Negierer... Es besser machen, durch höhere Art beschämen, durch mehr Licht in den Schatten drängen - das gilt es.

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Wenn jemand gegen etwas vorgeht, so geht er nicht gegen das ganze Etwas vor: denn das sieht er dann gar nicht mehr. Sondern er sieht dann nur noch das »rote Tuch« in dem Etwas. Nie wird gegen »etwas« vorgegangen, immer nur gegen rotes Tuch. Und wenn zwei Völker gegeneinander ziehen, so stürzt ein jedes nur gegen rotes Tuch...

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An der Vergeistigung, an der Verchristlichung seines Vaterlandes arbeiten, das heißt es lieben, das allein heißt mehr und anderes, als seinen unaufhaltsamen - Verfall wollen und mitbewirken.

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Vor einer Menschenmenge: Ich sehe plötzlich die Gedanken dieses Volks wie eine dicke schwarze Wolke über ihm. Eine Wolke voll Tränen und Blitzen.

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Was wir aus der Geschichte des Geistes lernen können, das ist, meine ich, vor allem eine immer tiefere Bescheidenheit, uns zu äußern.

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Es gibt kein widerwärtigeres Schauspiel, als wenn aus einem Menschen ein Berufspfaffe wird.

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Wer die Grausamkeit der Natur und der Menschen einmal erkannt hat, der bemüht sich, selbst in kleinen Dingen, wie dem Niedertreten des Grases , schonungsvoll zu sein.

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Alles Festlegen verarmt.

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Die Mutter der Tiefe heißt: Schuld.

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Tugend - im gemeinen Sinne, nicht als virtñ - ist sehr oft nur ein Hindernis, tief zu werden, indem sie vor allzu gewaltsamen Leiden bewahrt, weshalb sie für Menschen, für die kein Grund vorliegt ein außerordentliches Los auf sich zu nehmen, die edelste Art bildet, mit einiger Schönheit durchs Leben zu kommen.

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Ich meine, es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können.

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Es ist merkwürdig, daß ein mittelmäßiger Mensch oft vollkommen recht haben kann,- und doch nichts damit durchsetzt.

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Je freier ein Geist wird, desto gebundener wird er sich fühlen und nennen. Und am Ende wird er sagen: Wer weiß sich mit hunderttausend Stricken gefesselter als ich?

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Wer nicht auch böse sein kann - kann der wirklich tief sein?

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Mut, Mut, das fehlt dem sogenannten denkenden Wesen, dem Menschen - als denkendem Wesen - am meisten. Und dann Phantasie. (Aber was wäre Phantasie ohne Mut?) Vielleicht ist Mangel an beiden eine der grundlegenden Lebensbedingungen, vielleicht kann der Mensch nur mit einem gewissen Quantum von Feigheit und Trägheit - existieren.

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Jede gründliche Erfahrung muß mit eignem Leben bezahlt werden - und fremdem.

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Es gibt keine toten Gegenstände. Jeder Gegenstand ist eine Lebensäußerung, die weiter wirkt und ihre Ansprüche geltend macht wie ein gegenwärtig Lebendiges. Und je mehr Gegenstände du daher besitzest, desto mehr Ansprüche hast du zu befriedigen. Nicht nur sie dienen uns, sondern auch wir müssen ihnen dienen. Und wir sind oft viel mehr ihre Diener, als sie die unseren.

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Wem das allgemeine Wohl das höchste Ziel auf Erden dünkt, der tut den Menschen gar nichts so Gutes, wie er meint. Man soll nie das Wohl, man soll nur das Heil jedes Menschen im Auge haben,- zwei Dinge, die sich oft wie Wasser und Feuer unterscheiden.

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Die Geschichte ist eine Schlummerrolle, auf welcher gestickt steht: Ein Viertelstündchen. Aber ganze Generationen schlafen ihr ganzes Leben auf ihr. - Was ist dem Erwachten - Geschichte? Das, was - andre getan haben. Worauf er denn gar nicht genug an sein eigenes Tun denken kann.

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Nur wer sich selbst verbrennt, wird den Menschen ewig wandernde Flamme.

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O helfen, helfen können - es gibt nichts Größeres für menschliche Art!

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Und nicht helfen können, nicht helfen dürfen, es hat gewiß nicht minder bittere Tränen erpreßt als, wo man's vermocht und sollte, nicht geholfen haben.

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Wir sollten immer nur charakterisieren wollen, nie kritisieren.

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Wenn der moderne Gebildete die Tiere, deren er sich als Nahrung bedient, selbst töten müßte, würde die Anzahl der Pflanzenesser ins Ungemessene steigen.

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Die Hälfte allen Unglücks - vom gröbsten bis zum feinsten - geht auf Unwissenheit oder Denkfehler zurück, gewollte oder ungewollte Ungeistigkeit.

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Nur durch Schaden werden wir klug - Leitmotiv der ganzen Evolution. Erst durch unzählige, bis ins Unendliche wiederholte leidvolle Erfahrungen lernt sich das Individuum zum Meister über sein Leben empor. Alles ist Schule.

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Es gibt für Unzählige nur Ein Heilmittel - die Katastrophe.

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Der Welt Schlüssel heißt Demut. Ohne ihn ist alles Klopfen, Horchen, Spähen umsonst.

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Ganze Weltalter voll Liebe werden notwendig sein, um den Tieren ihre Dienste und Verdienste an uns zu vergelten.

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Die Bestimmung des Menschen ist nicht nur, daß er als ruhiger Bürger seinem Tagewerk nachgehe, sie ist noch etwas darüber: daß er sich mehr und mehr verinnerliche, sich und, soviel an ihm liegt, seine Umwelt mehr und mehr verchristliche.

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Wer »für Güte Dank« erwartet, macht sich schon allein dadurch, daß er sich selbst als »gütig« empfindet, der feinsten Berechtigung Dank zu ernten verlustig, indem er sich im Gefühl und Bewußtsein seiner Güte als ein besonderer Wohltäter andrer vorkommt, sich also über sie erhebt und überhebt. Eine solche Erwartung, so natürlich und allgemein sie sein mag, verdient nicht nur keinen Dank, sondern gerade das, womit ihr gewöhnlich vergolten wird: eine gewisse Gleichgültigkeit, ja beinahe einen gewissen (zurückschlagenden) Hochmut. Wer Gutes tun und dabei nicht in die Brüche geraten will, muß es so weit bringen, daß er sich nie anders denn als einen Diener des andern empfindet, dem eine glücklichere Fügung gestattet - Schuld abzutragen. Er muß, fern davon, von dem andern Dank zu erwarten, vielmehr das Gefühl der Dankbarkeit gegen diesen andern entwickeln, weil er ihm Gelegenheit gibt, ihm zu helfen, gleichviel, wie solche Hilfe nachträglich »gelohnt« wird. Dies mag für uns freilich mehr oder minder immer ein Ideal bleiben; die erste Stufe ist jedenfalls, dem Satze von der Dank verdienenden Güte in uns und außer uns zu Leibe zu gehen.

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Der Selbstlose, der aus ganzer Seele den Menschen dienen will, übersieht zu leicht, daß sein Selbst in ein niedrigeres und und in ein höheres Selbst zerfällt, und daß er daher nicht nur selbstlos im einen Sinne, sondern in eben dem Maße selbstvoll im anderen Sinne werden sollte. Sein Selbst verlieren heißt, sich läutern, seine Seele bereiten wie einen Acker, welcher der Saat wartet. Sein Selbst gewinnen aber heißt, Frucht tragen wollen, Saat herbeisehnen, aufnehmen, hegen, reifen.

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Geistige Leidenschaft, Leidenschaft fürs Geistige,- prüfen wir uns einmal, wieweit sie gemeinhin reicht. Nach allem Möglichen wird unter Umständen mit vier Pferden gejagt, aber wenn einer Morgen um Morgen dein Leben lang an deiner Tür vorbeigeht mit Lebensbrot, so kann er ein Leben lang ungerufen daran vorbeigehen; denn seine Bettwärme, wie sein appetitliches Frühstück oder seine Zeitung oder gar seine »Pflicht« läßt keiner so leicht im Stich um Lebensbrotes willen.

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Wir leben heute noch recht wie Kinder, noch nicht wie erwachsene bewußte Menschen. Wir essen und trinken ruhig, während Mitmenschen neben uns verhungern und verdursten, wir gehen fröhlich in Freiheit herum, während Mitmenschen neben uns in Kerkern verderben. Wir können uns in jeder Weise freuen, während um uns in jeder Weise gelitten wird, und wenn wir selbst leiden, so haben wir die Unbefangenheit, mit dem Schicksal darum zu hadern. Oh, daß unser Herz und Geist mit den Zeiten verwandelt würden, und diese bittere Häßlichkeit von uns abfiele, und wir aus Kindern Erwachsene würden.

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Nur in Versuchungen immer wieder fallend, erheben wir uns.

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Mein einziges Gebet ist das um Vertiefung. Durch sie allein kann ich wieder zu Gott gelangen.

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Unsere Gedanken winden sich wie Girlanden um den Gedanken einer neuen Religion.

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Ich möchte nicht leben, wenn Ich nicht lebte.

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Ich bin wie eine Brieftaube, die man vom Urquell der Dinge in ein fernes, fremdes Land getragen und dort freigelassen hat. Sie trachtet ihr ganzes Leben nach der einstigen Heimat, ruhlos durchmißt sie das Land nach allen Seiten. Und oft fällt sie zu Boden in ihrer großen Müdigkeit, und man kommt, hebt sie auf, pflegt sie und will sie ans Haus gewöhnen. Aber sobald sie die Flügel nur wieder fühlt, fliegt sie von neuem fort, auf die einzige Fahrt, die ihrer Sehnsucht genügt, die unvermeidliche Suche nach dem Ort ihres Ursprungs.

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Niemand war und ist mir eine empfindlichere Geißel als der richterlich geartete Mitmensch. Er ist für mich der personifizierte böse Blick. Vor ihm erschrickt alles Lebendige in mir so tief, als hätte der Tod selbst es gestreift. So mag eine Pflanze aufhören zu wachsen, wenn sie ein schlimmer Zauberer anhaucht. Sie will gern von Wind, Regen und Kälte vernichtet werden, und wenn sie jemand zertritt, so wird sie es als etwas Natürliches hinnehmen; aber sich bei lebendigem Leibe von einem anderen lebenden Wesen schlechtweg in Frage stellen, verneinen, für unfähig, für einen Irrtum erklären lassen zu müssen, und das nicht etwa unter einem Feuer von Leidenschaft, sondern kalt, vorbedacht - das ist unerträglich.

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Humor ist äußerste Freiheit des Geistes. Wahrer Humor ist immer souverän.

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Als Primaner versuchte ich zum erstenmal zu einer lebendigen Vorstellung dessen zu gelangen, was wir des Alls Unendlichkeit nennen. Ich legte mich nachts auf einen fast horizontal gestellten Klappsessel in den Garten und bemühte mich, über das rein Bildmäßige des Sternenhimmels hinaus in seine Wirklichkeit einzudringen. Es gelang mir so wohl, daß ich empfand: Jetzt noch eine Sekunde solcher Erdabwesenheit, ein einziger kleiner Schritt weiter, und mein Gehirn ist auf immer verloren. Und ich brach das schauerliche Experiment ab. Jetzt, etwa fünfzehn Jahre später, droht mir die gleiche Gefahr am lichten Tage. Es begann an einem stählern blauen Frühlingsabend in einer Gartenanlage in Obermais, mit dem Blick auf die dem Vintschgau vorgelagerten Ketten. Die Berge formten sich ungefähr wie zu einem Maulwurfshügel zusammen, die Ortschaft, die Gegend um mich verloren ihre Wichtigkeit. Meine Mulde erschien mir nicht bedeutender als der Abdruck eines Daumenballens in einer Wachskugel, und mich trug der riesige doch kleine Planet wie ein Infusor auf seinem Rücken rund durch den Raum. Ein leichtes geistiges Schwindelgefühl, ein Vorgefühl von Seekrankheit des Geistes erfaßte mich. Die Begriffe oben und unten gingen in einem dritten unter. Ich saß da nur einfach von Luftdrucksgnaden.

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Ihr seid von hier, ich bin von dort.

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An Rudolf Steiner

 

Glück in medias res

Ich war sozusagen bis 4 Uhr morgens gegangen und glaubte kaum noch, daß es nun noch wesentlich heller für mich werden könnte. Ich sah überall das Licht Gottes hervordringen, aber . . .

Da zeigen Sie mir mit einem Male, und gerade im rechten letzten Augenblick, ein 5 Uhr, 6 Uhr, 7 Uhr - einen neuen Tag.


O meine Hand, du seltsames Geschöpf, du warst mir immerdar ein Angelhaken der Meditation.

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Wenn ich in deine Schale blicke, meine ich ein Geistgebilde zu schauen.

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Was habe ich immer vor mir? Meine Hände. Darum möchte ich eine Erziehung zum Nachdenken geschrieben sehen unter Zugrundelegung der Anschauung der Menschenhand.

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Großer philosophischer Moment während des Vortrags vom 27. August 1913: Ich sah einen Augenblick lang den Menschen (Steiner) als reinen, bewußten Willen, sich allein durch ein ungeheures göttliches Vorwärts-Wollen im Leben und als solches Leben behauptend.

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Wir brauchen nicht so fort zu leben, wie wir gestern gelebt haben. Macht Euch nur von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuen Möglichkeiten ein.

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Höher als alles Vielwissen stelle ich die stete Selbstkontrolle, die absolute Skepsis gegen sich selbst.

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Nur im Fluß bleiben, nur nicht zur Spinne eines Gedankens werden.

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Übung ist alles, und insofern ist Genie Charakter.

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Die Insichvollendung des Menschen ist jederzeit und überall möglich; zuletzt bleibt doch diese Erkenntnis und was sie fruchtet, der einzige wahre Fortschritt.

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Sich immer am Leben korrigieren.

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Von sich zurückzutreten wie ein Maler von seinem Bilde - wer das vermöchte!

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Jeder von uns hat etwas Unbehauenes, Unerlöstes in sich, daran unaufhörlich zu arbeiten seine heimlichste Lebensaufgabe bleibt.

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Die kleinen Schwächen legt man am schwersten ab, so wie man der Moskitos weit schwerer Herr wird als des Skorpions oder der Schlange. Und so ist es recht eigentlich das Kleine, was den Fortschritt der Menschheit aufhält: Gedankenlosigkeit, Unaufmerksamkeit, Trägheit, Lauheit.

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Du sollst nicht zu sein begehren, was du nicht bist, sondern nur einfach etwas von deiner Pflicht zu tun versuchen, Tag um Tag.

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Denn es ist viel schwerer, einen Tag in wahrhafter Aufmerksamkeit und Wachsamkeit von Anfang bis Ende zu verleben, als ein Jahr in großen Absichten und hochfliegenden Plänen.

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Wer am Menschen nicht scheitern will, trage den unerschütterlichen Entschluß des Durch-ihn-lernen-Wollens wie einen Schild vor sich her.

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Je mehr Bewegung man in seinem Geiste auffaßt, je glücklicher ist man. Überall die Bewegung aufzeigen, das schafft das meiste Glück.

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Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen wähnen, wenn jemand eine Meinung ausspricht.

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Den seelischen Wert einer Frau erkennst du daran, wie sie zu altern versteht und wie sie sich im Alter darstellt.

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Die Forderung möglichster Klarheit in allen Dingen, die wir andern gegenüber so gern geltend machen, entspringt vornehmlich dem Unbehagen, das uns alles nicht völlig Verstandene als etwas von uns nicht völlig Beherrschtes einflößt. Es ist der ewige Kummer der Durchschnittsintelligenz, daß es auch außerhalb ihres Begriffsvermögens noch Geistigkeit gibt.

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Wäre der Mensch nicht noch fast vollkommen Tier, so würde er in einer so über alles Maß gewaltigen und erschütternden Welt, in verhältnismäßig unmittelbarer Nähe eines Naturphänomens wie unserer Sonne - um nur etwas herauszugreifen - nicht so sein, wie er heut noch ist: ein kleinliches, grämliches, banales, kindisches, eitles, zanksüchtiges, gedankenloses, planloses, kurz, durchaus noch dumpfes und niederes Wesen.

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Der Mensch will wohl endlich so weit kommen wie die Blumen und die Bäume: ruhig leben und sterben zu dürfen. Zweifellos wünschen sich die meisten Menschen nichts Besseres.

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Wir sind geborene Polizisten. Was ist Klatsch andres als Unterhaltung von Polizisten ohne Exekutivgewalt.

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Wer sich selbst auch nur einen geistig regen Vormittag streng beobachtet, dem muß das scheinbare Filigran der Psychologie vorkommen wie ein Gespinst aus Baumstämmen.

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Phantasie ist ein Göttergeschenk, aber Mangel an Phantasie auch. Ich behaupte, ohne diesen Mangel würde die Menschheit den Mut zum Weiterexistieren längst verloren haben.

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Mein Satz: Dummheit als absolut notwendiges Retardivum.

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Leichtsinn und Geduld, zwei weibliche Haupteigenschaften.

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Wer sich überhebt, verrät, daß er noch nicht genug nachgedacht hat.

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Wenn die Mehrzahl der Menschen das Kleine nicht so viel wichtiger nähme als das Große, würde das Große nie auf seine Rechnung kommen. Wenn der Mensch sich mehr um den Himmel als um die Erde kümmerte, würde nicht nur die Erde, sondern auch der Himmel verkümmern. Der Geist ist nicht umsonst in die Materie herabgestiegen.

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Takt erfordert vor allem Phantasie. Man muß viele Möglichkeiten der fremden Seele überschauen, viele Empfangsmöglichkeiten, und danach, was man geben kann, einrichten.

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Dieser Grundhang, das Leben zu einer Biedermeierei zu erniedrigen, ist es, den ich unter der Bezeichnug »bürgerlich« überall aufspüre und verfolge. Es ist die eigentliche Gefahr des Menschen, zu versimpeln. Man sollte täglich zu einer festgesetzten Stunde einen Glockenton durchs ganze Land gehen lassen, der keine andre Bedeutung hätte, als die, den Menschen in Erinnerung zu rufen, daß sie nicht nur Bürger von diesem Namen und jenem Stand seien, sondern unerforschliche Teile des Unerforschlichen. Man müßte eine eigene Glocke dafür erfinden und in unzähligen großen und kleinen Exemplaren gießen lassen: eine »Gedächtnisglocke des Menschen«. Wo aber ein Tempel gebaut würde, da müßte über seiner Pforte stehen: Dem furchtbaren Gott, oder: Mir selber, dem dreimal Unbekannten.

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Nietzsche sagt einmal, daß mit der Wissenschaft der Optimismus Herr geworden sei. Und fürwahr, mit dieser Zählmaschine in der Hand wird der Mensch ein beschäftigtes und beruhigtes Schulkind. Die Furchtbarkeit des Daseins verliert ihre Gewalt für ihn, er klassifiziert, klärt auf, korrigiert hier und dort. Eine Welt, für die es nur die eine Bezeichnung »furchtbar« gibt, wird ihm zuletzt ein behagliches Wohnhaus, in das bloß der Tod seine ungemütlichen Schatten wirft.

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Immer wieder kommt mir die Szene auf Golgatha ins Gedächtnis, immer wieder komme ich zu mir selbst wie Christus und frage mich: Und du schläfst! Und ich fahre auf und Scham übergießt mich ganz und ich erwache zu mir selbst. Aber nur ein Kleines, so bin ich wieder im Halbschlaf. Und wieder tritt mein Selbst an mich heran, rührt mir ans Herz, daß ich wie verwundet aufschrecke und zum wievielten Male ! das traurige Wort vernehme: Du schläfst!

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Ist nicht einmal dasselbe Wort in deinem Munde je dasselbe, so bist auch wohl du selbst ein in jeder Sekunde Neuer, noch nie Dagewesener, Niemehrsodaseinwerdender. Und nicht du allein: Alles ist fortwährend neu, frisch, einzig, einmalig. Dies ist das Geheimnis des Lebens und damit Gottes, als eines ewig Seienden, ohne auch nur die Möglichkeit irgendeiner Starrheit.

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Wie das Licht von der Sonne herunterfließt und jeden Grashalm herauslockt, so wie man ohne dieses Licht nicht von einem Grün sprechen könnte und von einer Blume auf der Erde . . ., so würde alles innere Leben der Welt, vor allem das fortschreitende, nicht sein können, wenn nicht ein inneres geistiges Licht unentwegt hineinsegnete in die Welt, in die innere Welt der Lebewesen hinein.

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Man versteht den Menschen erst - sub specie reincarnationis.

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Kein größerer Irrtum als der: der Mensch sei dazu da, es jemals gut zu haben. Nie gut haben soll er es - außer höchstens, daß ihm die Kraft zu weiteren Kämpfen wachse -, denn sonst »bekäme« er es nie »gut"; dann nämlich, wenn er, nach Äonen und unzähligen Wandlungen, seinen Kosmos absolviert haben wird, und eine Heerschar Gottes-Söhne mehr zu neuem Schaffen gereift steht.

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A. Was, was ist's, was den Menschen von Christus trennt: sagen Sie mir das, können Sie mir das sagen?

B. Ja, das kann ich. Der Philister in ihm.

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Mein Gott, mein Gott, in jeder Sekunde geschieht irgend etwas andres Unsägliches auf Erden - und die Menschen wollen es nicht anders und die Menschen wollen es nicht anders. Denn sonst würden sie ihr Leben anders einrichten, sonst würden diese Schmetterlinge endlich Ernst zu machen versuchen.

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Auf welcher Stufe steht noch der Mensch! wie noch viel furchtbarer wird er leiden müssen, damit er nicht als Mumie im Weltall bleibt, damit Gott in diesem gefährlichen Schöpfungsabenteuer nicht zu Schaden kommt.

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Als ich noch jung war, da dachte ich, die Zeiten des Leidens lägen mehr hinter uns als vor uns. Jetzt sehe ich fast nicht ein Ende. Zu viele Seelen gibt es, zu viele. Der Fall in die Materie war zu tief -

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Demut ist Wärme. Alle Dinge »reden« und erschließen sich gleich ganz anders, wo ihr milder Himmel aufglänzt. Vor dem Demütigen wird die Welt sicher und vertrauend, den Demütigen empfangen, lieben und beschenken alle Dinge.

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Von wie vielen geistigen Überwindungen und Siegen hat mancher Mensch schon gelesen und gehört, wie viele Dichter und Weise und Religionsstifter und - Götter haben für ihn gelebt und sind von ihm kennengelernt und wohl auch erlebt worden! und doch fällt in der Stunde eines schweren Schicksals alles von ihm ab und nur sein eigen Los und Leid steht vor ihm, und nichts gilt dann mehr, nicht einmal Gott. Was half ihm nun sein ganzes geistiges Leben während langer Jahre, vielleicht Jahrzehnte? Nichts: denn er hat es nicht mit seinem Innenleben verknüpft, verbunden, vermählt, er war zu wenig re-ligiös. Er wuchs nicht zusammen mit jenem Höheren. Und so hat er jetzt auch keinen Halt an ihm und bekommt keine Kraft von ihm - und steht jetzt so arm wie am Anfang, ja ärmer als zuvor.

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»Hat die Religion eine Zukunft?« So gut, wie derjenige, der so fragt, eine Zukunft hat, in der er, wie zu hoffen steht, solchen Fragestellungen entwachsen sein wird.

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Die Menschen sollen einander lieben, aber damit ist nicht gesagt, daß ihnen dies nicht so schwer wie möglich gemacht wird und fallen soll, denn es gibt keine wohlfeile Liebe. Es gibt nirgends im Kosmos des Kreuzes billige Errungenschaften, und wie wäre er sonst auch seines Meisters und seiner Bestimmung würdig.

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