Die BrunnenvisiondesNikolaus von Flüe |
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EIN MENSCH UNTERBRACH den Schlaf um Gottes willen und seines Leidens willen. Und er dankte Gott für seine Leiden und seine Marter. Und ihm gab Gott Gnade, daß er darin seine Unterhaltung und Freude fand. Hierauf legte er sich zur Ruhe, und es schien ihm in seinem Schlaf oder in seinem Geist, er käme an einen Platz, der einer Gemeinde gehörte. Da sah er daselbst eine Menge Leute, die taten schwere Arbeit; dazu waren sie sehr arm. Und er stand und schaute ihnen zu und verwunderte sich sehr, daß sie so viel Arbeit hatten und doch so arm waren. Da sah er zur rechten Hand ein Tabernakel erscheinen, wohlgebaut. Darin sah er eine offene Tür gehen, und er dachte bei sich selbst: Du mußt in den Tabernakel gehen und mußt sehen, was darin sei, und mußt bald zu der Tür hereinkommen. Da kam er in eine Küche, die einer ganzen Gemeinde gehörte. Da sah er zur rechten Hand eine Stiege hinaufgehen, vielleicht vier Stufen messend. Da sah er einige Leute hinaufgehen aber wenige. Ihm schien, ihre Kleider wären etwas gesprenkelt mit Weiß, und er sah einen Brunnen aus den Stufen in einen großen Trog zur der Küche fließen, der war von dreierlei: Wein, Öl und Honig. Dieser Brunnen floß so schnell wie der Strahlenblitz und machte ein so lautes Getöse, daß der Palast laut erscholl wie ein Horn. Und er dachte: Du mußt die Stiege hinaufgehen und mußt sehen, woher der Brunnen kommt. Und er verwunderte sich sehr, da sie so arm waren und doch niemand hineinging, aus dem Brunnen zu schöpfen, was sie wiederum so wohl hätten tun können, da er gemeinsam war. Und er ging die Stiege hinauf und kam in einen weiten Saal. Da sah er inmitten des Saales einen großen viereckigen Kasten stehen, aus dem der Brunnen quoll. Und er machte sich an den Kasten und besah ihn. Und als er zu dem Kasten ging, da wäre er fast versunken, wie einer, der über ein Moor geht, und er zog seine Füße rasch an sich und kam zu dem Kasten. Und er erkannte in seinem Geist, wer seine Füße (nicht) rasch an sich zöge, der möchte nicht zum Kasten kommen. Der Kasten war an den vier Ecken beschlagen mit vier mächtigen eisernen Blechen. Und dieser Brunnen floß durch einen Kännel weg und sang so schön in dem Kasten und in dem Kännel, daß er sich darüber höchlich wunderte. Dieser Quell war so lauter, daß man eines jeden Menschen Haar am Boden wohl hätte sehen können. Und wie mächtig er auch daraus floß, so blieb doch der Kasten wimpervoll, daß es überfloß. Und er erkannte in seinem Geist, wieviel daraus floß, daß immer noch gern mehr darin gewesen wäre, und er sah es aus allen Spalten herauszwitzern. Und er dachte: Du willst wieder hinabgehen. Da sah er allerseits mächtig in den Trog strömen, und er dachte bei sich selbst: Du willst hinausgehen und sehen, was die Leute tun, daß sie nicht hereingehen, des Brunnens zu schöpfen, dessen doch ein großer Überfluß ist. Und er ging zur Tür hinaus. Da sah er die Leute schwere Arbeit tun und dazu fast arm sein. Da beobachtete er sie, was sie täten. Da sah er, daß einer dastand, der hatte einen Zaun geschlagen mitten durch den Platz. In der Mitte des Zaunes hatte er einen Gatter, den hielt er vor ihnen zu mit der Hand (und) sprach zu ihnen: »Ich lasse euch weder hin noch her, ihr gebt mir denn den Pfennig.« Er sah einen, der drehte den Knebel auf der Hand und sprach. »Es ist darum erdacht, daß ihr mir den Pfennig gäbet.« Er sah Pfeifer, die ihnen aufspielten und ihnen den Pfennig heischten. Er sah Schneider und Schuhmacher und allerlei Handwerksleute, die da den Pfennig von ihm haben wollten. Und ehe sie das alles ausrichteten, da waren sie so arm, daß sie kaum das bekamen. Und er sah niemanden hineingehen, um aus dem Brunnen zu schöpfen. Wie er so stand und ihnen zusah, da verwandelte sich die Gegend und wurde zu einer wüsten Steinhalden daselbst. |
Nikolaus von Flüe Erleuchtete Nacht.
(Patron der Schweiz, 1417-1487)
Freiburg/B.: Herder 1981,
S. 117-119
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