RAHEL VARNHAGEN VON ENSE

 

Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen

aus ihren Tagebüchern und Briefen

 

Rahel Varnhagen

Rahel Varnhagen von Ense

(1771-1833)

 


ICH HABE MICH, in der großen allgemeinen Weltnot, einem Gotte ganz gewidmet, und so oft ich noch gerettet worden bin, so ist es der, der mich gerettet hat, die Wahrheit.

Es war nämlich vorgestern Illumination hier, und wir saßen an einem Ufer des Teichs, um sie am andern zu sehen. Ich aber, anstatt die Lampen anzusehen, sah fleißig in's Wasser und an den Himmel; und da stand oben ein heller schöner Stern, hoch und unbeweglich. Im Wasser war er auch schön, aber er rührte sich mit dem Winde, wechselte oft seine Form und war manchen Augenblick trüb. Da fiel mir ein, so sei's mit den Menschen; man beurteile sie weit von sich ab, in ihren Verhältnissen, da müssen sie sich regen und bewegen, haben keine Form und scheinen trübe. Indeß man sie eigentlich gar nicht sieht, die fest stehen müssen wie der Stern, wir sehen nur immer ein bewegtes windiges Wasser, und heben den Kopf nicht in die Höh.

Nun ohne Spaß; das heißt deutsch.

Es gehört Geschicklichkeit,Verstand dazu, wahr zu sein.

Wenn ich nicht wahr sein sollte, kann ich gar nichts sein.

Liebe ahnt wohl. Man merkt es gleich, wenn sie einem entzogen wird. Wir leben gleichsam in einer allgemeinen Kälte, wir wissen es oft nicht, wer in unserer Nähe uns vor der kalten Luft schützt, bis er sich entfernt und uns ihr aussetzt; aber wie in einem wirklich kalten Zimmer, wenn einer, der neben uns saß, den Platz verläßt.

Viel sprechen würd' ich immer, weil ich viel denke. Hierüber mündlich: daß das nämlich ein Irrtum ist, zu glauben, daß die, welche viel denken, schweigen. Wer plappert, freilich, der hat keine Zeit zum Denken. Aber wer Ideen hat, muß sie mitteilen.

Ehrlich sein im Denken, dann ist man wahr. Und nur die Wahrheit ist Heil! Wer ohne sie ist, altert; die Runzeln allein machen nicht altern. Daher auch kommt es, daß ich die nicht altern sehe, die ich liebe.

Wenn jemand sagte: »Sie glauben wohl, es ist so etwas Leichtes, originell zu sein! Nein, man muß sich viel Mühe geben; und es kostet ein ganzes Leben voll Anstrengung«, so würde man ihn nur für verrückt halten und gar keine Frage mehr anstellen. Und doch wäre die Behauptung ganz wahr und dabei ganz simpel. Originell wäre gewiß jeder Mensch und müßte es sein, wenn die Menschen nicht beinahe immer ganz unverzehrte Sprüche in ihrem Kopf annähmen und auch so wieder hinausließen. Wer sich ehrlich fragt und sich aufrichtig antwortet, ist mit allem, was ihm im Leben vorkommt, immerfort beschäftigt und erfindet unablässig, es sei auch noch so oft und lange vor ihm erfunden worden.

Es gehört Ehrlichkeit zum Denken, und es gibt gewiß beinah so wenig absolute Stumpfköpfe als Genies... . Imbéciles [Schwachköpfe] wären gewiß immer originell; es gibt aber fast keinen reinen; sie haben meist noch Verstand genug, unehrlich zu sein.

Mit dem Alter, mit jedem halben Tag, werd ich der Verstellung unfähiger. Und oh! wie richtig das. Mein ewiges Denken macht mir alles schneller klar als sonst, und in mir graben hat mich empfindlicher gemacht, als die freigebige Natur selbst es beabsichtigte.

Nichts ist odiöser, als sich hinter Ignoranz verstecken, weil es zärtlich gegen sich selbst und roh gegen die andern und eine ungeschickte Lüge ist, und diese Komposition die schlechteste Art von Nichtswürdigkeit ist.

An der Seele zimmert jeder ordentliche Mensch, solange er lebt.

Mit dem Schicksal bin ich nicht »ausgesöhnter«; ich denke schon länger, es gibt keins. Es gibt ein Universum, in dem entwickeln wir uns; und es ist ganz gleich, welches Schicksal wir haben, wenn wir zu Sinne gekommen sind; die Entwicklung ist unser Schicksal.

Nun hab ich auch erfunden, was ich am meisten hasse: Pedanterie; sie setzt ganz notwendig Leere voraus: und hält sich deshalb fest an Formen. Ist sie von der bessern Art, so tut sie dies im halben Gefühl dieser Leere mit Rechtschaffenheit; ist sie aber von der schlechten, so tut sie es mit Stolz und Prahlerei, nicht ahnend und zugebend, daß etwas anderes existiere.

Es kann also nichts Unleidlicheres geben, als diese Stupidität im völligen Marsch begriffen zu sehen: wie Narrheit, anmaßend und langweilig: gar nicht zum Ertragen! Was mich aber empört, ist diese Klasse, die mit Prätension sittlich!!! sind.

Dann hab ich gestern abend bemerkt, daß, ganz umgekehrt, wie man denken sollte, Leute, die sich häufig Ausreden bedienen, und denen Lügen nicht fremd und zuwider sind, und seit Kindheit eine gangbare, in Gebrauch stehende Münze in ihrer Tasche, eben die sind, denen man ohne Vorbereitung, ohne wahre Hoffnung sie zu betrügen, etwas weismachen kann; ganz leicht! Ich habe es mir auch schon erklärt. Diese Menschen sind immer mit kleinen Geschichten des Tages ganz beschäftigt - die ihre kleinen Lügen selbst immer propagieren -, von Äußerlichkeiten so eingenommen, daß sie auf der Menschen Wesen, Stimme, Ton, Blick, Mienen, Haltung, Seele und Art wenig merken, oder schief! und besonders halten die Elenden Ausflüchte und Behelfe für wahre Klugheit,die sie andern sehr selten zutrauen; besonders Phantasten nicht, wie sie innigere Menschen nennen. Dies ist sehr wahr.

Menschen ohne Sitten (aber nicht, wie sie beim Tee davon sprechen) sind die wahre Geißel der andern. Daher kommt alles! Was kann man denn wohl mit einem tauben, vertäubten Gewissen begreifen und fassen; und mit einem matten stockigen Herzen. Und sie tragen alle face humaine! (Menschlich Angesicht. Daß aber Gesicht im Französischen eher kommt, ist besser.) Man sollte die Fratzen und Schreckbilder sehen, wenn sie aussähen, wie sie sind. Kommt das nie? Mich dünkt, das wäre ein Schritt.

Daß in Europa Männer und Weiber zwei verschiedene Nationen sind, ist hart. Die einen sittlich, die andern nicht; das geht nimmermehr!

Ich bin wie der Prinz in der Zauberflöte. Ich poche an alle Tempel, da ich nicht gestorben bin vom ersten Zurückweisen. Und man kann nicht sagen, wie der kranke Hamlet: »Ist es edler, dulden oder mutig dem Spiel ein Ende machen«: sondern, edel ist, eine Übersicht über seine eigene Natur und die Umstände, die uns umgeben, zu behalten; und mit Bewußtsein und Schmerz entbehren; und mit Bewußtsein im Genuß genießen; auf alles, und sogar auf eigene Rückfälle, gefaßt sein; und an Entwicklung glauben.

Ein gebildeter Mensch ist nicht der, den die Natur verschwenderisch behandelt hat; ein gebildeter Mensch ist der, der die Gaben, die er hat, gütig, weise und richtig und auf die höchste Weise gebraucht: der dies mit Ernst will; der mit festen Augen hinsehen kann, wo es ihm fehlt, und einzusehen vermag, was ihm fehlt. Dies ist in meinem Sinne Pflicht und keine Gabe; und konstituiert, für mich, nur ganz allein einen gebildeten Menschen.

Wir und alles, was wir wissen, bezieht sich auf etwas, was wir nicht wissen, und daher kann man auch so viel schwatzen, wo nichts dahinter ist: und schweigt so selten; weil es doch schwerer ist, an das zu denken, was man nicht sieht.

Ich kann mir wirklich einen gut ausgestatteten Menschen ... nicht denken, ohne einen Areopag von Göttern, die ihm Gaben mitgeben, auf die Erde!

Nichts muß in uns brachliegen; am wenigsten Menschenverkehr, die innerliche Anregung, die nur bei ihrer Berührung entstehen kann: was macht denn sonst wohl das eigentlichste Wesen des Menschen aus und macht ihn dazu, als daß er andere Wesen, die Angesicht tragen, dafür annimmt und sie behandelt wie sich selbst: wann kann er das besser als im vielfältigsten, reichhaltigsten, häufigsten Umgang aller Art mit ihnen!

Das andere Schrecknis besteht darin, daß wir auch nicht heilen, nicht helfen können, wenn der von uns Geliebte leidet! Wir verstehen ihn ganz, sein Leid reißt in unserer Brust; und einsam ist er, einsam sind wir.

Einsam steht jeder, auch liebt jeder allein; und helfen kann niemand dem andern.

Es gibt nur Lokal-Wahrheiten, und die Zeit ist nichts als die Bedingung, unter welcher sie sich bewegen, entwickeln, leben, wirken. Alle bekannte Wesen sind darin streng gebannt; jeder Mensch in seine Zeit. Unsere ist die des sich selbst bis ins Unendliche, bis zum Schwindel, bespiegelnden Bewußtseins.


Ich, die Gott nicht kennt als in der Zeit durch Sinn und Sinne, und bei nichts sich nur nichts denken kann! Er zeigt, er offenbart sich uns in Erde, Farbe, Gestalt, Herzensschlag der Freude oder des Schmerzes; mir hat er das Bewußtsein über dieses Wissen besonders erschlossen, ich bete die mir ganz bekannte Natur an und finde nichts gemein, als eine niedre, enge, lügenhafte Gesinnung.

Daß man als Unsinniger sein Leben in Schmutz, Unsinn, Dürre, Sand und Kot, in wahnsinnigen Torheiten hinrinnen läßt, nicht beachtend, daß kein Tropfen zweimal fließt, der Diebstahl an uns selbst geschieht und gräßlicher Mord ist. Bloß weil wir ewig Approbation [Bestätigung] haben wollen, aus der wir uns nichts machen und nicht tapfer genug sind, menschlich Antlitz nicht zu fürchten und dreist zu sagen,was wir möchten, wünschen und begehren. Nichts ist heilig und wahr und unmittelbare Gottesgabe, als echte Neigung; ewig aber wird die bekämpft für anerkanntes Nichts. Das Fremdeste lassen wir uns aufbürden, und so kommen wir uns selbst abhanden...

Untersuchen Sie sich immer genau, und fürchten Sie Weisheit, die nicht aus dem Herzen scheint.

Es ist sonderbar; mir kommt immer vor, als sagten alle Philosophen dasselbe; wenn sie nicht seicht sind. Sie machen sich andere Terminologien, die man ehrlich, gleich annehmen kann; und den Unterschied find' ich nur darin, daß sich ein jeder bei einem andern Nichtwissen beruhigt. . .

Es liefert uns die Erde nichts rein; ist es der Wille, so ist es schon viel. Wir irren uns alle und verwirren uns im Ergreifen; retten wir das Bewußtsein, so ist das viel.

Es wundert mich nicht, daß es Menschen gibt, die den alten Weltschaden für unheilbar ansehn, lachen, wenn sie nicht weinen müssen, und zum Gebrauch nehmen, was ihnen nur irgend ein Narr lassen will, sie irgend kriegen können.

Unheilbar ist er für uns zeitliche Wesen, da er so lange dauert. Ist die Harmonie (und der Drang dazu) der Gedanken eines Menschen rege und stark genug, alles, was in Auge und Ohr dringt, zu übertönen, so lebt er mehr innen und hat die Ewigkeit; die besteht in Unabhängigkeit, und nicht in Zeitenreihe. Diese zwei Welten bewegen diese Welt. Man hat, was man ist; was man ist, hat man bekommen. Frömmer kann man nicht sein.

Wie freut es meine Seele! - doch eigentlich mit Goethen gleich zu denken und zu fühlen, über unsere Geschichten und ihre Helden: nicht umsonst, denn nicht ohne Grund empfand ich Welt und Licht , die Natur - eigentliche Geschichte - wie er. Ich bin nicht vermessen; wenn ich mich auch vergleiche. ...

Geschichte sieht man, konstruiert sie selbst: die geistige Entwicklung der Völker ist ihre Geschichte: und die bringen Sterbliche, wie Goethe, hervor, indem sie sie sehen, verkündigen, prophezeien ... und sie sind es, die ihr Volk umbilden. Aber aus eben diesen Ursachen murrt immer das Rohe im Volke gegen ihre Moses, Sokrates, Goethen!

... alle sollten selbständig und selbstdenkend, daher sehend und erfindend, sein, das ist ihr natürlicher Zustand. Aber der ist so verweset und verwirrt, daß die, welche naturgemäß sind, Ausnahmen machen, und Genies sein müssen, oder genannt werden, und alle andern in trübem Dasein denen alles auf eine Weile nachmachen; immer wenn es schon unzeitig ist, also verkehrt. . .

Eigenschaften sind keine Talente; sie müssen aber alle dazu gemacht werden können, sonst ist man noch gar nicht gebildet.

Darum denk ich auch wahr und wirklich, daß das Erdenleben nicht eine steife, tote Wiederholung ist, sondern ein schreitendes Ändern und Entwickeln wie alles; für die Einsicht und durch die Einsicht; und nenne unsere Zeit wirklich neu und bin auf Großes, Neues gefaßt, mit einem Wort, auf Wunder der Erfindung, der Gemütskraft, der Entdeckung, Offenbarung, Entwickelung. Mit Gefaßtheit meine ich nicht, daß ich es zu sehen erwarte; aber ich bin dessen Kommen gewiß, und alle Verwirrung ist Gärung dazu.-

Unser Schicksal ist eigentlich nichts als unser Charakter; unser Charakter nichts als das Resultat, in aktivem und passivem Dasein, der Summe und Mischung all unserer Eigenschaften und Gaben.

Das Gitter, woran wir ewig mit dem Kopf stoßen, eben weil wir eine Aussicht hindurch haben; ein Witz der höheren Mächte, uns zur Entwicklung eines ethischen Daseins gegeben.

Man irrt sich am längsten über sich.

Die Gegenwart fühlen, mit ihr sich abgeben können, ist das Lebenstalent; je mehr man davon in sich trägt, je positiver ist man und je mehr Positives wird uns vorkommen. Ein lebendig-ethisch guter Wille belebt uns allein die Gegenstände zu geistigen. Des bin ich ganz gewiß. Der Geist ist wie die Sonne: sie ist immer da; beleben kann sie aber nur, was da ist.

... sich Durchschleichen, Kriechen, Lügen, Rauben, Schreiben, Schwätzen, ja Morden, mit ihrem Privat- und persönlichen Interesse, dies nur kennen sie; und dies nicht deutlich, großartig, wie ein ehrlicher Teufel: nein! Im dunklen Instinkt einer schleichenden, Giftblattern hinter sich lassenden Raupe, als böse, hockende, blinde Fühle [Trugnatter]: als Wolf, der kein Blut scheut im lachenden Hunger: wie alle düstere Tiergattung zugleich. So kenne ich sie: so bleiben sie. So ist die ganze Klasse; der große und größte Teil der Menschenmasse, die durch ihre Zeit, aber nicht aus eigener Tat gebildet ist.


Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalstolz ebenso angesehen werden wird wie Eigenliebe und andere Eitelkeit; und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zustand widerspricht unserer Religion.

Um diesen Widerspruch nicht einzugestehen, werden die entsetzlichen, langweiligen Lügen gesagt, gedruckt und dramatisiert.

Geschichte ist in närrischen Händen sehr schädlich, und ein Grundirrtum über sie in Umlauf: man hört überall den höchsten fast bis zu den niedrigsten Ständen empfehlen, sie möchten die Geschichte fragen und die studieren. Wer ist denn vermögend, Geschichte zu schreiben oder zu lesen? Doch nur solche, die sie als Gegenwart verstehen! Nur diese vermögen das Vergangene zu beleben und es sich gleichsam in Gegenwärtiges zu übersetzen... . darum Goethe ewig und stets von neuem so groß, belebend und lebendig: alle Zeiten, Religionen, Ansichten, Ekstasen und Zustände begreifend und darstellend und erklärend.

Nicht allein die größten Glücksumstände gehören dazu, der Menschen eigenste Anlagen hervorzubilden und in Harmonie zu bilden: sondern den meisten Menschen werden ganz factice [künstliche] angebildet, und sie haben nicht so kräftige Eigenschaften, auch nicht einmal ein paar in Harmonie tätige, um der Erziehung der Eltern oder der Umstände zu widerstehen; sondern sie bleiben embryonisch monsterhaft mit den verkrüppelten, verwesten, sparsam gestreuten schwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der traurigsten widrigsten Betrachtung der Welt.

Wer nur für sittlich hält, was andere loben, ist nicht mehr keusch; und ohne Unschuld, immer neu wiederkehrende Unschuld, die im reinen Willen besteht, verwirrt sich jedes Talent und gebärt Geschöpfe ohne Proportion in ihren Lebenselementen, das heißt, der Tod, ein fremder Wille schleicht sich mit hinein. (Tut das die Natur, so schafft sie monstres [Mißgeburten, Monstrositäten], oder Krankheiten, die jeder erkennt, oder wenigstens Gelehrte... . )

Wer Gründen widerspricht, muß es mit Gründen tun; und jeder, der denken kann, wird für seine Gedanken doch nicht ungedachte Aussprüche der Gesellschaft fürchten!

Dann verläßt sie [gemeint ist die berühmte französische Schriftstellerin Madame de Stael] die Angst nicht, daß Weiber von schriftstellerischem Talent nicht könnten weiblich gefunden werden: oder ihre Werke doch nicht so hoch zu stellen seien als die der Männer. Arme Furcht! ein Buch muß gut sein, und wenn es eine Maus geschrieben hat, und wird dadurch nicht besser, wenn sein Autor Engelsflügel an den Schultern trägt. Soviel für's Buch selbst! Ob eine Frau schreiben soll? ist eine andere Frage: und so possierlich als ernsthaft zu beantworten. Wenn sie Zeit hat; wenn sie Talent hat; wenn's ihr Mann befiehlt - wird's eheliche Pflicht sogar -, wenn er's leidet, gerne sieht; wenn es sie von Schlechterem abhält, wenn sie Gutes tut für den Sold, usw., und sie muß es, wenn sie ein großer Autor ist. Wenn Fichtes Werke Frau Fichte geschrieben hätte, wären sie schlechter? Oder ist es aus der Organisation bewiesen, daß eine Frau nicht denken und ihre Gedanken nicht ausdrücken kann? Wäre dies, so blieb es doch noch Pflicht oder erlaubt, den Versuch immer von neuem zu machen. . .

Natürliche [d.h. uneheliche] Kinder werden die genannt, welche keine Staatskinder sind; wie Naturrecht und Staatsrecht. Kinder sollten nur Mütter haben; und deren Namen haben; und die Mutter das Vermögen und die Macht der Familien: so bestellt es die Natur; man muß diese nur sittlicher machen; ihr zuwiderhandeln gelingt bis zur Lösung der Aufgabe doch nie . . .Allen Kindern sollte ein ideeller Vater konstituiert werden, und alle Mütter so unschuldig und in Ehren gehalten werden wie Marie.

Was ist am Ende der Mensch anders als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum ehrlich kühnen Fragen, und zum demütigen Warten auf Antwort, ist er hier. Nicht kühn fragen, und sich schmeichelhafte Antworten geben, ist der tiefe Grund zu allem Irrtum: und ist man in diesem auch ehrlich und irrt nur, so ist es doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Einrichtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge untereinander und der Gedanken zu den Dingen wird uns doch zum schwereren, demütigern Werke mit fortreißen. Auf solche Weise glaub' ich, sind wir zum ganzen hiesigen Dasein gekommen. Wir mußten es durchmachen. Wie überhaupt Menschengeister lernen. Mit eigener Mühe; dabei fängt die große Mitgift, Persönlichkeit, an. Dies ist für mich »der Gedanke aller Gedanken, die Menschwerdung Gottes«; die Gnade, uns eine Person werden zu lassen, und in dieser Gnade find' ich auch gleich ihren eigenen Grund; sie enthält ihre Bedingung in sich selbst.

Bei jedem Schritt im Leben, bei jeder neuen Ecke, um die man in seiner eigenen Seele herumkommt, wird einem etwas anderes von Goethe merkwürdig und klar.

Ich liebe die Menschen, die fortlieben, was ihnen einmal gefallen konnte; dann waren es die Augen, dann war es das Herz, denen es gefiel; die Leute aber, deren Neigungen dem Beifall anderer folgten und ihrem Gegenstande fremde Gründe annahmen, müssen von Grund aus in ihrer Seele wechseln, berühren ihr eigen Gemüt nicht unmittelbar . . , und meinen, mit dem Alter hätten sie Wichtigeres ergriffen, welches doch nur darin liegt, daß ihre innere Geschichte nicht aus einem Stücke besteht und eigentlich keine Person bildet; solche Leute lieb' ich nicht.

Das Herz ist ganz im Dunklen, ganz allein, möchte man sagen, und weiß ganz allein alles besser. Nur wenn man dahin sieht, findet man Erkenntnis, weil die verwirrenden Lichter der ganzen Welt nicht hingelangen; und es wie ein Maß einer andern Welt in uns lebt; als ein Ja oder Nein: sonst nichts.

Ich glaube, ein großer Bestandteil des Kinderglückes ist der, daß sie sich kein Lebensbild, auch nur eines Tages, entwerfen können: und eine große Hülfe wäre es für Alte, die Jahres-, Monats- und Tagesbilder fahren zu lassen... Mir hilft es jetzt gleich zur Besinnung, wenn ich jeden Tag, jede Stunde denke: diese Bedingungen sind dir als Stoff gegeben; sieh, was du daraus arbeiten kannst: und frisch, fleißig, tätig, arbeitslustig! und reißt man dir halbes Werk aus den Händen; der verliehene Tag, die Stunde will es so; Besitz gibt es nicht; das Wirken, das Werk, das ist uns zugeteilt. Man ist sehr verwöhnt und falsch erzogen; ich muß mir's spät anders einlernen; aber es hilft sehr.

Der gefesselte Wille allein ist frei: da ist man frei: das ist die Festung, vom lieben Gott gebaut. Es gibt einen Weg, bis nach dem gefesselten Willen - Wollen - zu gelangen; den der Vernunft, wo man wahr sein muß; und anstatt den anzutreten, nennen sie den Willen frei.

Freunde sind Menschen, die voneinander überzeugt sind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leisten, ohne Kalkül anzustellen und je etwas dafür zu erhalten, noch zu erwarten, noch in sich zu fordern. Und so ist es auch in der Welt; wir haben Freunde, denen wir leisten, und Freunde, die uns leisten; und dies nach den verschiednen Naturen der Menschen und ihrer Lage gewähren zu lassen, grade darin besteht die Freundschaft. In allen andern Verhältnissen herrscht ja ein offener Handel. Ein Freund kann nur ein verehrtes Wesen sein, von dem wir, der Natur der Verehrung nach, nichts verlangen. Was wäre er sonst?

Wir lesen und hören von jeher: »Der Mensch kennt sich nicht selbst, der Dümmste kennt ihn besser als er sich; will er wissen, wie er ist, so muß er andere über sich hören, die sehen ihn, wie er eigentlich ist.« Mir kommt es ganz anders vor. Was wir für einen Eindruck machen, das können wir nur von anderen erfahren; und das auch von dem Dümmsten und Närrischsten; aber wie wir sind, weiß kein Mensch besser als wir selbst: und sei dieses Wissen auch noch so dunkel durch Verwirrung. Wir sehen uns konkav; und die andern sehen uns konvex: wiederhole ich hier. Es heißt auch: in einen Menschen hinein gehen, um ihn zu beurteilen. Aber jeder sitzt in sich selbst.

Überhaupt täten wir gut, einander als erst Genesende zu behandeln, da wir ja alle erst die völlige Gesundheit des geistigen Lebens zu erstreben haben. Welches wir immer vergessen.

Ich freue mich, jetzt zu leben; weil wirklich, reell, die Welt schreitet, weil Ideen, gute Träume ins Leben treten. Technik, Gewerbe, Erfindungen, Assoziationen, sie auszuführen, die Überzeugung selbst der Gouvernements, daß das endlich so sein muß,- alles dies erlaubt nicht, so dumm zu sein; die Dummheit noch ferner in Spiritus zu erhalten: anders wollte sie schon längst nicht dauern. Allen Vorschub, den legitimen, hatte sie: vergeblich! Einsicht ist eine Pflanze, von hoch her eingesetzt, und eine Witterung muß kommen, sie gedeihen zu lassen; denn sie wartet Tausende von Jahren auf solche, sich - wenn auch nicht uns Menschen - unbeschadet. Wer das nicht mit einsieht, wird submergiert [versenkt, d.h. er geht unter]. Sei ihm Gott gnädig!

Es ist Verderbtheit, und nicht Mangel an Verstand, wenn der Mensch keine neue, ihm unbequeme Gedanken in sich aufnehmen will: Stupidität, wenn sie vor ihn treten, und er nicht merkt, daß es neue sind; höchste Infamie, erkennt er sie, und leugnet sie doch.

Für [d.h. vor] nichts sollte ein Kind so gehütet werden, als viele Dinge zu lernen, wenn man ihm nicht die Fragen nach diesen Dingen einzugeben weiß. Noch schlimmer aber ist es, wenn einer ein ganzes Gedankengebäude in sich aufgenommen hat, wo viele hohe Fragen beantwortet werden, die er sich nicht selbst würde vorgelegt haben. Trauriges Exempel! welches ich oft vor mir habe.

Ich denke, Wünschen hilft. - Bewegen doch ebenso zauberhaft Gedanken und Willen Hände, Maschinen; Welten, möchte man sagen.

Wie Flammen sind wir: einer kann den andern entzünden; einer des andern Verständnis beleben, das Herz flott machen, wahrhaft beglücken. Man mag dies verstehen, wie man will; es ist göttlich, daß der Mensch aus seiner Brust einem andern Menschen wohltun kann: wäre es auch nur durch Anteil und Güte: schade, daß sie's beinah nie einander erlauben.

Meinen Tadel spare ich für meine näheren Freunde.

Meine Freigeisterei, mein Stolz, meine hochherzige Verachtung aller geistfesselnden Vorurteile gehören bloß für die Klügsten und Vertrautesten unter euch; aber jeder gemischten Gesellschaft, die sich bei mir versammelt, bin ich pflichtig, Gutmütigkeit und Anmut umsonst darzubieten.

Glauben Sie mir: es ist gleich abgeschmackt, den Ernst oder die Tugend am unrechten Ort geltend zu machen. Schweigen und Reden müssen wir, wenn wir einmal gefallen wollen, nicht immer wie uns der Schnabel gewachsen ist, sondern wie den andern die Ohren.

Wenn ich sterben muß, denke: sie hat alles gewußt: weil sie alles kannte; nie etwas war, nichts beabsichtigte, und alles durch Nachdenken siebte, und in Zusammenhang brachte; sie verstand Fichte; liebte Grünes, Kinder; verstand Künste, der Menschen Behelf. Wollte Gott helfen in seinen Kreaturen. Immerdar; ununterbrochen; und dankte ihm für diese ihre Beschaffenheit. »Das war dem alten Drachen seine gute Seite.«

Ach was! es hat sich ausgegnädigefraut! nennt mich Rahel.


 

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