Conrad Ferdinand Meyer
Friede auf Erden

 


Da die Hirten ihre Herde

Ließen und des Engels Worte

Trugen durch die niedre Pforte

Zu der Mutter und dem Kind,

Fuhr das himmlische Gesind

Fort im Sternenraum zu singen,

Fuhr der Himmel fort zu klingen:

»Friede, Friede! auf der Erde!«

Seit die Engel so geraten,

O wie viele blut'ge Taten

Hat der Streit auf wildem Pferde,

Der geharnischte, vollbracht!

In wie mancher heil'gen Nacht

Sang der Chor der Geister zagend,

Dringlich flehend, leis verklagend:

»Friede, Friede . . . auf der Erde!«

Doch es ist ein ew'ger Glaube,

Daß der Schwache nicht zum Raube

Jeder frechen Mordgebärde

Werde fallen allezeit:

Etwas wie Gerechtigkeit

webt und wirkt in Mord und Grauen,

Und ein Reich will sich erbauen,

Das den Frieden sucht der Erde.

Mählich wird es sich gestalten,

Seines heil'gen Amtes walten,

Waffen schmieden ohne Fährde,

Flammenschwerter für das Recht,

Und ein königlich Geschlecht

Wird erblühn mit starken Söhnen,

Dessen helle Tuben dröhnen:

Friede, Friede auf der Erde!


 

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