der Geschichte der Menschheit
und anderen Schriften von |
JOHANN GOTTFRIED HERDER |
Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde;
denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen
ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage,
auch wenn er lebenssatt aus der Welt wandert. Die Ursache ist
offenbar die, daß sein Zustand, der letzte dieser Erde, zugleich
der erste für ein andres Dasein ist, gegen den er wie ein Kind
in den ersten Übungen hier erscheinet. Er stellet also zwo Welten
auf einmal dar; und das macht die anscheinende Duplizität seines
Wesens. (...) Der größte Teil des Menschen ist Tier. Zur Humanität hat er bloß
die Fähigkeit auf die Welt gebracht, und sie muß ihm durch Mühe
und Fleiß erst angebildet werden. (...) Lebenslang will das Tier
über den Menschen herrschen, und die meisten lassen es nach Gefallen
über sich regieren. Es ziehet also unaufhörlich nieder, wenn der
Geist hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; (...).
(...) Das Leben ist also ein Kampf, und die Blume der reinen,
unsterblichen Humanität eine schwererrungene Krone. (...) Da wahrscheinlich der künftige Zustand so aus dem jetzigen hervorsproßt
wie der unsre aus dem Zustande niedrigerer Organisationen, so
ist ohne Zweifel auch das Geschäft desselben näher mit unserm
jetzigen Dasein verknüpft, als wir denken. Der höhere Garten blühet
nur durch die Pflanzen, die hier keimten und unter einer rauhen
Hülle die ersten Sprößchen trieben. (...) Wie also die Blume dastand
und in aufgerichteter Gestalt das Reich der unterirdischen, noch unbelebten Schöpfung schloß, um sich im Gebiet
der Sonne des ersten Lebens zu freuen, so stehet über allen zur
Erde Gebückten der Mensch wieder aufrecht da. Mit erhabnem Blick
und aufgehobnen Händen stehet er da, als ein Sohn des Hauses den
Ruf seines Vaters erwartend.
Wenn also der Mensch die Kette der Erdorganisation als ihr höchstes
und letztes Glied schloß, so fängt er auch eben dadurch die Kette
einer höhern Gattung von Geschöpfen als ihr niedrigstes Glied
an; und so ist er wahrscheinlich der Mittelring zwischen zwei
ineinandergreifenden Systemen der Schöpfung. (...) [So wird] der
sonderbare Widerspruch klar, in dem sich der Mensch zeigt. Als
Tier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstätte;
als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen
andern Pflanzgarten fodert. (...)
Wahrlich, Affe und Mensch sind nie eine und diesselbe Gattung gewesen.
(...) du aber, Mensch, ehre dich selbst! Weder der Pongo noch
der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der
Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht
stehlen; denn er ist ein Mensch, wie du bist; mit dem Affen darfst
du keine Brüderschaft eingehn.
Herder hatte erkannt, daß im irdischen Menschenwesen zwei Entwicklungsreihen
- die geistige und die naturhafte - zusammenfallen, wodurch es
sich grundlegend von den Gattungen der Tierwelt unterscheidet.
Zwei Generationen vor Darwin schrieb er aus der Beobachtung der
Natur heraus die Sätze:
Offenbar ist's die Anlage der Natur, daß wie ein Mensch, so auch
ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne,
unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt
haben: »kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der
Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen
Besten von allen gebaut werden. Am großen Schleier der Minerva
sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung,
ohne stolze Zwietracht wirken.« Den Deutschen ist's also keine
Schande, daß sie von andern Nationen, alten und neuen, lernen.
(...) Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele; sie
erfüllt alle Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen, ja selbst neuorganisierend
dringt sie aus allen in alle Körper.
Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut.
(...) Lasset uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen;
auch verteidigen sollen wir sie, wo man ihr Unrecht tut (...),
sie aber ex professo preisen, das halte ich für einen Selbstruhm
ohne Wirkung. (...) Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt;
auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege wachsen verschiedene
Früchte. Wer vergliche diese untereinander, oder erkennete einem
Holzapfel vor der Traube den Preis zu? Vielmehr wollen wir uns
wie der Sultan Soleiman freuen, daß auf der bunten Wiese des Erdbodens
es so mancherlei Blumen und Völker gibt, daß diesseit und jenseit
der Alpen so verschiedene Blüten blühn, so verschiedene Früchte
reifen! (...)
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