Aus
Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit

 

und anderen Schriften von

 

JOHANN GOTTFRIED HERDER

 


 

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Buch VII/1
Wenn also der Mensch die Kette der Erdorganisation als ihr höchstes und letztes Glied schloß, so fängt er auch eben dadurch die Kette einer höhern Gattung von Geschöpfen als ihr niedrigstes Glied an; und so ist er wahrscheinlich der Mittelring zwischen zwei ineinandergreifenden Systemen der Schöpfung. (...) [So wird] der sonderbare Widerspruch klar, in dem sich der Mensch zeigt. Als Tier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fodert. (...)

Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage, auch wenn er lebenssatt aus der Welt wandert. Die Ursache ist offenbar die, daß sein Zustand, der letzte dieser Erde, zugleich der erste für ein andres Dasein ist, gegen den er wie ein Kind in den ersten Übungen hier erscheinet. Er stellet also zwo Welten auf einmal dar; und das macht die anscheinende Duplizität seines Wesens. (...)

Der größte Teil des Menschen ist Tier. Zur Humanität hat er bloß die Fähigkeit auf die Welt gebracht, und sie muß ihm durch Mühe und Fleiß erst angebildet werden. (...) Lebenslang will das Tier über den Menschen herrschen, und die meisten lassen es nach Gefallen über sich regieren. Es ziehet also unaufhörlich nieder, wenn der Geist hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; (...). (...) Das Leben ist also ein Kampf, und die Blume der reinen, unsterblichen Humanität eine schwererrungene Krone. (...)

Da wahrscheinlich der künftige Zustand so aus dem jetzigen hervorsproßt wie der unsre aus dem Zustande niedrigerer Organisationen, so ist ohne Zweifel auch das Geschäft desselben näher mit unserm jetzigen Dasein verknüpft, als wir denken. Der höhere Garten blühet nur durch die Pflanzen, die hier keimten und unter einer rauhen Hülle die ersten Sprößchen trieben. (...) Wie also die Blume dastand und in aufgerichteter Gestalt das Reich der unterirdischen, noch unbelebten Schöpfung schloß, um sich im Gebiet der Sonne des ersten Lebens zu freuen, so stehet über allen zur Erde Gebückten der Mensch wieder aufrecht da. Mit erhabnem Blick und aufgehobnen Händen stehet er da, als ein Sohn des Hauses den Ruf seines Vaters erwartend.

 


 

Buch VII/1
Herder hatte erkannt, daß im irdischen Menschenwesen zwei Entwicklungsreihen - die geistige und die naturhafte - zusammenfallen, wodurch es sich grundlegend von den Gattungen der Tierwelt unterscheidet. Zwei Generationen vor Darwin schrieb er aus der Beobachtung der Natur heraus die Sätze:


Wahrlich, Affe und Mensch sind nie eine und diesselbe Gattung gewesen. (...) du aber, Mensch, ehre dich selbst! Weder der Pongo noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht stehlen; denn er ist ein Mensch, wie du bist; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehn.

 


Briefe zur Beförderung der Humanität. 29. Brief
Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. (...) Lasset uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch verteidigen sollen wir sie, wo man ihr Unrecht tut (...), sie aber ex professo preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung. (...) Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt; auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege wachsen verschiedene Früchte. Wer vergliche diese untereinander, oder erkennete einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu? Vielmehr wollen wir uns wie der Sultan Soleiman freuen, daß auf der bunten Wiese des Erdbodens es so mancherlei Blumen und Völker gibt, daß diesseit und jenseit der Alpen so verschiedene Blüten blühn, so verschiedene Früchte reifen! (...)

Offenbar ist's die Anlage der Natur, daß wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: »kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebaut werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.« Den Deutschen ist's also keine Schande, daß sie von andern Nationen, alten und neuen, lernen. (...) Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele; sie erfüllt alle Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen, ja selbst neuorganisierend dringt sie aus allen in alle Körper.

 


 

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