Aislinge Óengusso
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Deutsche Übersetzung © 1997 Markus Osterrieder, CeltoSlavica
Das Traumgesicht von Óengus ist Teil des sogenannten »Mythologischen
Zyklus«. Die Jungfrau, die der apollinische Óengus im Schlaf erblickt,
erinnert an die Königstochter der Volksmärchen. Man beachte, daß
sich die Ereignisse zu Samain vollziehen, an dem die Zeit »aufgehoben«
wurde und sich nach keltischer Anschauung verschiedene Seinsbereiche
begegnen konnten.
Die Erzählung ist in einem einzigen Manuskript aus dem Jahr 1517 überliefert, Sprache und Inhalt verweisen jedoch auf eine erstmalige Niederschrift im 8./9. Jahrhundert
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EINES NACHTS SAH Óengus1 im Schlaf eine Gestalt an sein Bett treten: Es war eine Jungfrau,
die Schönste in Ériu. Er wollte sie schon an der Hand fassen und
zu sich in das Bett ziehen, - da sah er, wie sie plötzlich von
ihm wich. Nicht wußte er, wohin sie verschwunden war. So blieb
er bis zum Morgen im Bett, und er fühlte sich unwohl. Es machte
ihn krank, daß er die Gestalt erblickt hatte, ohne mit ihr sprechen
zu können. Er konnte keine Speise zu sich nehmen. In der folgenden
Nacht sah Óengus ein Timpán2 in ihrer Hand, ein wohltönenderes gab es nicht. Sie spielte ihm
eine Melodie vor, und darüber schlief er ein. So blieb er bis
zum Morgen, und am nächsten Tag konnte er nichts essen.
Ein ganzes Jahr verstrich, und die Besuche des Mädchens wiederholten sich, so daß er sich in sie verliebte. Er erzählte niemandem davon. Óengus wurde krank von der verzehrenden Sehnsucht, und niemand wußte, woran er litt. Die Ärzte Érius versammelten sich, aber keiner wußte, was ihm fehlte. Sie gingen zu Fíngen3, dem Arzt von Conchobar, und Fíngen kam. Er konnte die Krankheit am Gesicht eines Menschen ablesen und an dem Rauch, der über einem Haus aufstieg, erkannte er die Zahl der darin erkrankten Menschen. Er nahm Óengus zur Seite und sprach zu ihm: »Dich hat es getroffen,
du liebst eine Abwesende.« Die Suche dauerte ein Jahr, doch man fand niemanden, der dem Mädchen geähnelt hätte. Fíngen wurde erneut gerufen. »Nichts hat ihm helfen können«, sagte Bóand. Sprach Fíngen: »Sendet nach dem Dagdæ, er soll kommen und mit seinem Sohn sprechen.« Man begab sich zum Dagdæ5, und er kam. »Warum wurde ich gerufen?« Sie begaben sich zu ihm; er hieß sie willkommen: »Willkommen,
Volk des Dagdæ«, sagte Bodb. Nach einem Jahr begaben sie sich nach Síd ar Femuin7. »Ganz Ériu habe ich durchstreift, bis ich das Mädchen am Loch
Bél Dracon [»Drachenmaul-See«] in Cruitt Clíach8 fand«, sprach Bodb. Dann begaben sie sich zum Dagdæ und wurden
willkommen geheißen. Man fuhr Óengus in einem Streitwagen nach Síd ar Femuin. Der König
hatte ein großes Fest bereitet, um ihn willkommen zu heißen. Drei
Tage und drei Nächte verbrachten sie auf dem Fest.9 »Komm jetzt mit mir«, sagte Bodb, »um das Mädchen zu erkennen,
wenn du sie erblickst. Aber erkennst du sie, kannst du sie nur
betrachten, denn es ist nicht in meiner Macht, sie dir zu geben.«
Dann begaben sie sich an den See und sahen dreimal fünfzig Jungfrauen,
und die gesuchte Jungfrau war unter ihnen. Die (anderen) Mädchen
reichten ihr nur bis zur Schulter. Zwischen jedem Paar der Mädchen
hing ein silbernes Kettlein. Óengus' Mädchen jedoch trug einen
silbernen Halsschmuck und ein Kettlein aus glänzendem Gold. Danach kehrten Óengus und sein Volk in ihr eigenes Land zurück.
Bodb begleitete sie und sprach mit dem Dagdæ und Bóand in Bruig
ind Maicc Óic10. Sie erzählten, was vorgefallen und wie das Mädchen in Gestalt
und Erscheinung beschaffen war, ganz wie Óengus sie (einst) erblickt
hatte. Sie nannten den Namen des Mädchens und den Namen ihres
Vaters und Großvaters. Da brach der Dagdæ nach Connacht auf, mit einer Eskorte von dreimal
zwanzig Streitwagen. Der König und die Königin hießen sie willkommen.
Eine volle Woche feierten sie über dem Bier, das man ihnen auftischte. Daraufhin erhoben sich Ailills Mannen und das Volk des Dagdæ gegen
den Síd und zerstörten den Hügel. Dreimal zwanzig Köpfe brachten
sie heraus, und den König führte man als Gefangenen nach Crúachu. Dann schlossen Ailill, Ethal und der Dagdæ Frieden. Ethal wurde
freigelassen. Der Dagdæ nahm Abschied und kehrte nach Hause zurück,
um seinem Sohn von den Neuigkeiten zu berichten. »Begib dich zu
Samain an den Loch Bél Dracon und rufe sie vom See zu dir.« Da kam sie zu ihm. Er nahm sie in die Arme. Sie vereinigten sich
in Gestalt zweier Schwäne und umkreisten den See dreimal. Auf
diese Weise wurde sein Versprechen nicht gebrochen. In der Gestalt
weißer Vögel brachen sie auf und kamen nach Bruig ind Maicc Óic.
Gemeinsam sangen sie, so daß die Menschen dort für drei Tage und
drei Nächte in Schlaf fielen. Danach blieb das Mädchen bei Óengus. |
1 ÓENGUS: Wie in der Legende «Das Werben um Étain» (Tochmarc Étaín) geschildert wird, ging Óengus (»die einmalige Wahl«) aus der Verbindung von Dagdæ und Bóand (Étaín) hervor. Sein anderer Name lautet »Mac Óc« (»der junge Sohn«), da Óengus die ewige Jugend besitzt 2 TIMPÁN: Eine Art Glockenspiel 3 FíNGEN: Der berühmte Arzt-Druide des König Conchobar von Ulster (vgl. «Der Tod von Conchobar») 4 BÓAND: Von *bo vinda, die »Weiße Kuh«. Ursprünglich unter dem Namen Étaín die Frau von Elcmar (dem Gott Ogmæ), begeht sie mit dem Dagdæ »Ehebruch« und gebiert daraufhin Óengus. Ihr anderer Name ist BRIGIT. Nach ihr wurde der königliche Fluß Boyne (County Meath) und die Residenz des Dagdæ Bruig na Bóinde (Newgrange) benannt 5 DAGDAE: »Der gute Gott«, der »Gott der Druiden«, nach Lug die bedeutendste Gottheit im irischen Götterkosmos. Er hütet die Mysterienweisheit, die Freundschaft und die Verträge. Er zeugt mit seiner Tochter Brigit/Bóand Óengus, den jugendlichen Gott, der später seine Herrschaft übernimmt. Als Gottheit des »Volkes der Göttin Dana« (Túatha Dé Dánann) residiert der Dagdæ unter der Erde in dem Tumulus von Newgrange 6 SíD, pl. SíDE: Eigentlich der Name der »Anderswelt«. Es werden jedoch auch befestigte Hügel oder Hügelgräber (Tumuli) so bezeichnet, da sich die Götter der Túatha Dé Dánann in das Innere dieser Stätten flüchteten. Deswegen herrschte über jeden Síd eine Gottheit 7 SíD AR FEMUIN: Nahe Cashel Rock, County Tipperary 8 CRUITT CLIACH: Galty Mountains, Co. Tipperary 9 Wahrscheinlich findet dieses Fest an Samain statt (vgl. Anm. 12) 10 BRUIG IND MAICC ÓIC: Ein anderer Name für Newgrange. Der Tumulus von Newgrange im Tal des Boyne-Flusses (Co. Meath) galt als Residenz des Gottes Dagdæ und war das religiöse Zentrum der Insel Irland 11 AILILL und MEDB: Ailill war der König von Connaught, Medb (»Trunkenheit«) seine berühmt-berüchtigte Frau, die in dem Epos «Der Raub der Rinder des Cúlainge» (Táin Bó Cúlange) die vier Provinzen Connaught, Munster, Leinster und Meath gegen Ulster aufstachelte. Nach der Überlieferung liegt ihr Grab auf dem Berg Knocknarea bei Sligo 12 SAMAIN: wörtlich »Vereinigung«, »Kommunion«: Vielleicht das wichtigste Fest im Sakraljahr der Irokelten. Es fiel auf den 1. November, schloß das alte und leitete das neue Jahr ein. Samain begann drei Tage vor dem 1. November und endete drei Tage danach. Diese Periode befand sich gewissermaßen »jenseits der Zeit«; in den 7 Tagen begegneten sich die physische Menschenwelt und die »Anderswelt« der Götter und Dämonen 13 Eine dunkle, schwer zu übersetzende Textstelle. Sie lautet (mit jeweils anderem Sinn) in der Übersetzung von Gantz: »since I know the nature that you have brought upon her«; von Jackson: »since you know her nature, do you bring her«; von Guyonvarc'h: »puisque je sais sous quelle nature je les ai mises» |
Textedition: Francis Shaw: The Dream of Óengus. Dublin 1934. Übersetzungen: Jeffrey Gantz: The Dream of Óengus, in: Derselbe: Early Irish Myths and Sagas. 5. ed. Harmondsworth 1986, S. 107-112. - Christian-J. Guyonvarc'h: Le rêve d'Oengus. In: Textes mythologiques irlandais I/1. Rennes 1980, S. 233-235. - Kenneth H. Jackson: The Dream of Oenghus. In: A Celtic Miscellany. 8. ed. Harmondsworth 1982, S. 93-97. |
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